Kunstwerke erzählen. Philippe Besson Nachsaison. Von Sylvia Schwab. hr2-kultur, , 08:30 Uhr. Länge: 7 15

Transkript

1 Hessischer Rundfunk hr2-kultur Redaktion: Inge Kämmerer Kunstwerke erzählen 04 Philippe Besson Nachsaison Von Sylvia Schwab hr2-kultur, , 08:30 Uhr Länge: 7 15 Zitator: Regie: Dagmar Fulle Marc Oliver Schulze Christiane Kreiner Copyright Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt. Der Empfänger darf es nur zu privaten Zwecken benutzen. Jede andere Verwendung (z.b. Mitteilung, Vortrag oder Aufführung in der Öffentlichkeit, Vervielfältigung, Bearbeitung, Verteilung oder Zurverfügungstellung in elektronischen Medien, Übersetzung) ist nur mit Zustimmung des Autors/der Autoren zulässig. Die Verwendung zu Rundfunkzwecken bedarf der Genehmigung des Hessischen Rundfunks.

2 Anmoderationsvorschlag Romane, in deren Zentrum real existierende Gemälde stehen, können in sehr unterschiedlicher Weise von diesen Kunstwerken erzählen. Die einen interessiert die Entstehungsgeschichte des Bildes, andere sein Schicksal in einer bestimmten Epoche zum Beispiel in der Zeit des Nationalsozialismus. Wieder andere interessieren sich für die Geschichte, die das Bild erzählt oder erfinden wie der berühmte Roman Der Distelfink von Donna Tartt eine Story um das Gemälde herum Zitator S. 38/39: Im Phillies läuft alles auf Sparflamme. Die Geräusche sind gedämpft. Man nimmt nichts, oder fast nichts wahr vom Betrieb vor der Tür, von den Überbleibseln des sommerlichen Gedränges, von den letzten Zuckungen eines sonnigen Wochenendes. Die Leere der Bar steht in Kontrast zu den vollen Straßen der Nachbarschaft. Die Ruhe drinnen hebt sich ab von dem Lärm draußen Edward Hoppers Öl-Gemälde Nighthawks aus dem Jahr 1942 ist eine Ikone der modernen Malerei und Gegenstand unzähliger Deutungen durch Kunsthistoriker und Soziologen. Wir schauen es ist Nacht - durch eine riesige breite Glasscheibe in die Bar Phillies. Drei Personen sitzen an der Theke, ein weiß gekleideter Kellner bedient. Auch Philippe Besson, ein junger Star am französischen Literaturhimmel, zeigte sich fasziniert von Edward Hoppers berühmtem Werk und entwickelte die Handlung seines 2002 erschienenen Romans Nachsaison aus diesem Bild heraus. Dr. Alexander Löck, Dozent an der Universität Jena, arbeitet seit Jahren über die unterschiedlichen Bildsprachen von Kunst und Literatur, von Gemälden und Romanen. O-Ton 01 Der Unterschied ist zunächst einmal der: wenn Sie das Bild vor sich sehen, sehen Sie ja nicht in Wirklichkeit vier Personen. Und Sie sehen auch nicht wirklich ein Haus und noch ein Haus und ne Straße, sondern Sie sehen Abbildungen davon. Wenn Sie versuchen, das sprachlich einzuholen, würden Sie sagen, Sie sehen beispielsweise vier Personen. Sie können aber auch sagen, Sie sehen drei Männer und eine Frau. Sie können aber auch sagen, da sind zwei Liebhaber und zwei Fremde. Ein Bild ist sinnlich konkret, es zeigt nur seinen Gegenstand. Ein Text, der von diesem Bild erzählt, hat aber viele verschiedene Möglichkeiten, das zu tun. Seine Aussagen setzen Bedeutungsschwerpunkte, die das Bild selbst offen lässt. Texte über ein und dasselbe Bild können deshalb sehr unterschiedlich sein. Sie sind subjektive Interpretationen. 1

3 Zitator S. 9 Ja, anfangs lächelt sie. Es ist ein diskretes, kaum wahrnehmbares Lächeln, ein Lächeln, wie es sich manchmal auf dem Gesicht abzeichnet, ohne dass man dies beabsichtigt, wie es hervorbricht, ohne dass man es ruft, ein Lächeln, das an nichts Besonderes gebunden zu sein scheint, das man nicht unbedingt zu erklären wüsste. Philippe Besson nutzt Hoppers Gemälde Nighthawks als Sprungbrett: Seine Louise, die Frau im roten Kleid, ist eine erfolgreiche Theaterautorin Mitte dreißig. Seit Jahren kommt sie, allein oder in Begleitung, jeden Abend ins Phillies um einen Martini zu trinken. Mit Ben, dem Kellner in der weißen Jacke, fühlt sie sich verbunden. Heute wartet Louise auf ihren Geliebten Norman, einen extravaganten Schauspieler. Im Laufe der Handlung erfährt man, dass Norman sich heute von seiner Frau trennen will. Doch dann erscheint statt Norman Louises früherer Freund Stephan in der Bar. Er hatte Louise nach fünf glücklichen gemeinsamen Jahren betrogen und verlassen. Zitator S. 23/24 Sie ist stumm, erschrocken, überwältigt von Erinnerungen. Sie leidet unter der Benommenheit, die Menschen befällt, die nicht darauf vorbereitet sind, vor einer bestimmten Situation zu stehen, und die von einer Sekunde auf die andere eine Entscheidung treffen müssen. Mit einer heftigen Bewegung, die einen großen Teil Verwirrung enthält, hat sie sich wieder zur Theke umgewandt. Wie ein Theaterabend entfaltet sich die Szenerie des Romans: In ähnlicher Dauer, auf ähnlich engem Raum. Ein Theaterstück, in dem wenig passiert, dafür umso mehr nachgedacht, beobachtet, erinnert und geredet wird. Warten auf Norman könnte es heißen. Interessant ist nun, dass Philippe Besson nicht nur die Geschichte von Hoppers Figuren erfindet. Besson transponiert Hoppers Gemälde ins 21. Jahrhundert und ignoriert ganz bewusst das wichtigste Moment des Gemäldes. Alexander Löck: O-Ton 02 Es fällt nämlich auf, dass einerseits das Bild die Mitte deutlich markiert, durch die Person die da sitzt, die mehr oder weniger sowohl vertikal und horizontal das Zentrum besetzt, andererseits aber durch die grelle Farbwahl den Blick nach rechts lenkt off center. Als wäre irgendwas nicht in Ordnung. Der einsame Mann mit Hut eine Rückenansicht, die eine Körperhälfte liegt im Schatten könnte Norman sein. Aber: Norman kommt nicht. Philippe Besson hat in seinem Roman Hoppers zentrale Männer-Figur weggelassen! Bei ihm rücken Louise, Stephen und Ben in den Mittelpunkt. Und damit setzt der Roman ganz 2

4 andere Akzente als das Gemälde: Nicht Einsamkeit wie die kunsthistorische Rezeption das Hopper-Bild deutet sondern Gemeinsamkeit steht im Mittelpunkt. Nicht Melancholie, sondern eine positive Grundstimmung. Nicht Nacht, sondern ein Spätnachmittag in der Nachsaison. In erzählerischer Hinsicht hat sich Philippe Besson allerdings eng an Hopper gehalten. Die klaren, harten Linien und der geometrische Aufbau des Gemäldes kehren in den ebenso klaren Interpretationen und Schlussfolgerungen von Bessons Erzähler wieder. Alexander Löck: O-Ton 03 Es ist ja oberflächlich gesehen und dazu trägt die Klarheit bei eine absolut banale Alltagsszene. So dass sich die Frage stellt, warum macht jemand aus so was ein Gemälde. Und ich glaube, ein großer Reiz dieses Gemäldes besteht tatsächlich in dem oberflächlichen Anschein von Klarheit und dem Mysteriösen, das in derselben Klarheit mitschwingt. Der Kontrast zwischen oberflächlicher Klarheit und tiefer Unklarheit macht das wesentliche Geheimnis von Edward Hoppers Nighthawks aus. Was für eine Herausforderung für einen Erzähler! Philippe Besson hat mit seinem Roman Nachsaison eine von vielen Möglichkeiten gefunden, Hoppers Figuren eine Geschichte und dem Gemälde eine Bedeutung zu geben. Zitator: S.156 Werden wir uns wieder sehen? Ja. Jeder von ihnen hätte diese Frage stellen können. Jeder von ihnen hätte zweifellos dieselbe Antwort gegeben. Sie wissen jedoch nicht, ob sie sich küssen können oder sollen Sie beschließen, es dabei zu belassen und sich nicht zu berühren. 3

5 GEMA: Komponist: Miles Davis Interpret: Miles Davis Quartett Titel: Blue in Green MUSIC LIB: hr Länge: 1 40 Komponist/Interpret: Re: jazz Titel: Simply Smooth MUSIC LIB: hr Länge: 0 30 Komponist/Interpret: Re: jazz Titel: Miss You MUSIC LIB: hr: Länge: