Wissenswert. Weltbewegende Bücher. Sigmund Freud - Die Traumdeutung. Von Ulfried Geuter 08-00
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- Heini Schmid
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1 Hessischer Rundfunk hr2-kultur Redaktion: Dr. Arne Kapitza Wissenswert Weltbewegende Bücher Sigmund Freud - Die Traumdeutung Von Ulfried Geuter Freitag, , Uhr, hr2-kultur Sprecher: Ulfried Geuter : Erwin Schastok COPYRIGHT: Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt. Der Empfänger darf es nur zu privaten Zwecken benutzen. Jede andere Ver-wendung (z.b. Mitteilung, Vortrag oder Aufführung in der Öffentlichkeit, Vervielfältigung, Bearbeitung, Verteilung oder Zurverfügungstellung in elektronischen Medien, Übersetzung) ist nur mit Zustimmung des s/ der en zulässig. Die Verwendung zu Rundfunkzwecken bedarf der Genehmigung des Hessischen Rundfunks.
2 Seite 2 Die Psychoanalyse ist sozusagen mit dem zwanzigsten Jahrhundert geboren; die Veröffentlichung, mit welcher sie als etwas Neues vor die Welt tritt, meine Traumdeutung, trägt die Jahreszahl Das schrieb Sigmund Freud im Jahre Die Traumdeutung war sein Jahrhundertbuch. Er und sein Verleger ahnten es schon: Das Werk erschien am 4. November 1899, doch wurde es auf 1900 vordatiert. Die Traumdeutung begründete ein neues Denken: den Menschen in seinen Motiven und Wünschen aus seinem Unbewussten heraus psychologisch zu verstehen. Die Zeit musste reifen, bis die Menschen das verstanden: Die 600 Exemplare der ersten Auflage waren erst nach neun Jahren verkauft. 100 Jahre danach ist das Buch ein unangefochtener Longseller. Flectere si nequeo superos, Acheronta movebo Diesen lateinischen Satz von Vergil stellte Freud seiner Traumdeutung als Motto voran: Und kann ich die Oberwelt nicht lenken, werde ich die Ströme der Unterwelt bewegen. Oder frei übersetzt: Wenn mich der Himmel nicht hört, ruf ich die Hölle zur Hilfe. In der griechischen Mythologie ist der Acheron einer der fünf Flüsse der Unterwelt; an seinen Ufern lagern die Träume. Freud verstand sie als Botschaften aus der individuellen Unterwelt des Träumers, sagt die Berliner Psychoanalytikerin Eva Jaeggi: O-Ton - Jaeggi 1 Es war das erste Mal, dass einige für das 20. Jahrhundert und ich denke auch für das 21. Jahrhundert neuartige Gedanken in systematisierter Form ins wissenschaftliche Denken eingebracht wurden. Da ist zum einen das Konzept des Unbewussten, das ist damals kein neues Konzept gewesen, aber in dieser stringenten Form, systematisch aufbereitet, ist das Konzept des Unbewussten in ganz klarer Weise zum ersten Mal ausgearbeitet worden. Das Zweite ist,... dass zwischen normalen Phänomenen des Seelenlebens wie dem Traum und dem, was als Pathologie später aufscheint, ein fließender Übergang besteht. Also...
3 Seite 3 dass das gesunde Seelenleben von den gleichen Kräften beherrscht wird wie das kranke Seelenleben. Schon immer deuteten Menschen die Träume. Aber über Jahrhunderte hinweg hatten sie die Träume vor allem so verstanden, dass sie dem Menschen eingegeben würden. Erst seit der späten Aufklärung und der Romantik hatte man begonnen, den Leitspruch des Orakels von Delphi gnothi seauton Erkenne dich selbst, auch auf die Träume als Produkte eines individuellen Unbewussten zu beziehen. Aber Freud bezog als erster den Traum radikal und systematisch nur noch auf den Träumer. Er wollte den individuellen Sinn der Trauminhalte verstehen: O-Ton Jaeggi Er hat gezeigt, dass der Traum ganz tief verwurzelt ist in der Biografie eines Menschen, dass man zwar Symbole wählen kann für das, was man auch im wachen Leben empfindet, dass die Symbole aber nicht feststehend sind, sondern eine je individuelle Bedeutung haben...und dass man daher über den Traum auch das, was Menschen im tiefsten bewegt, entschlüsseln kann - das ist schon eine sehr neue und sehr gut ausgearbeitete Theorie. Der Traum ist grundsein sinnvolles psychologisches Gebilde, so könnte man kurz den Grundgedanken von Freuds Traumdeutung zusammenfassen. Der schlichte Titel des Werkes Die Traumdeutung war groß und fordernd in seiner Anspruchslosigkeit. Denn es ging Freud in ihm um mehr als nur um den Traum: Anhand des Verständnisses der Träume entwickelte er die Grundzüge seiner allgemeinen psychoanalytischen Theorie: die Lehre vom Unbewussten, das Konzept der Abwehr vom Bewusstsein nicht erwünschter unbewusster Wünsche, die Vorstellung, dass verdrängte kindliche Liebeswünsche, infantile sexuelle Wünsche die Vorstellungen und Handlungen des Erwachsenen leiten können - all das führte er in der Traumdeutung aus:
4 Seite 4 O-Ton Jaeggi Nie ist es in solcher Stringenz und solcher Klarheit ausgesprochen worden, wie sehr der Traum verwoben ist in das, was Menschen auch in ihrem Wachleben wollen und sich nicht zugestehen können. Das Wachleben, meinte Freud, taucht im Traum entstellt wieder auf, das Unbewusste kaschiert in ihm seine Inhalte: durch Verdichtung, indem nicht Zusammengehörendes zusammengefügt wird; durch Verschiebung, indem der Traum zum Beispiel etwas von einer Person auf eine andere lenkt; oder indem der Traum Gedanken in Bilder übersetzt. Wir sehen uns beispielsweise im Traum von Hunden verfolgt, weil wir unsere Lust, einmal selbst zubeißen zu wollen, nicht eingestehen können. Der unbewusste Traumgedanke oder, wie Freud sagte, der latente Trauminhalt, passiert eine Zensur und wird danach zum manifesten Trauminhalt. Freuds genialer Gedanke, die Träume zu deuten, war, diesen Prozess der Verschlüsselung rückwärts abzuwickeln, um den unbewussten Inhalt des Traumes aus der manifesten Geschichte zu erschließen. Das geschieht vor allem über die Methode, zu allen Einzelheiten des Traumes freie Einfälle des Träumers einzusammeln. In einer Psychoanalyse, meint Eva Jaeggi, kann eine solche Arbeit über viele Stunden gehen: O-Ton Jaeggi Ein Traum ist nicht schnell gedeutet, wie man das so im allgemeinen Bewusstsein immer wieder formuliert: Was bedeutet denn dieser Traum? Das kann ehrlicherweise kein... Psychoanalytiker schnell sagen, ohne dass er nicht sehr gut die Lebenswelt des Träumers kennt und die Überlegungen, die zu den einzelnen Traumteilen dann vom Träumer angestellt werden. Freud ging den Weg der freien Assoziation in seiner Traumdeutung für sich selbst. Rund 200 Träume enthält das Werk, davon etwa 50 eigene war Freuds Vater gestorben. Wie er schrieb, sei dies das vielleicht einschneidendste Erlebnis im Leben eines Mannes. Für ihn scheint es so gewesen zu sein. Denn bald danach begab er sich an die Arbeit
5 Seite 5 seiner systematischen Selbstanalyse. Nicht auf dem Weg einer Redekur mit einem anderen Analytiker, sondern auf dem einer Schreibkur: Er notierte seine Träume und folgte dabei einer Empfehlung des Literaturkritikers Ludwig Börne an die Schriftsteller, dem»freien Einfall«zu vertrauen. Als Forscher, der in der Naturwissenschaft groß geworden war, begründete Freud in der Traumdeutung so zugleich eine neue Forschungsmethode: die systematische Analyse des Subjektiven in einem Prozess, der zum Verstehen von Sinn führt. Traumdeutungen sind nach diesem subjektiven Verständnis von Wahrheit nur dann richtig, wenn sie für den Träumer schlüssig sind. Der Sinn des Traumes ist immer ein individueller. Deshalb wird jede Deutung von Symbolen Freuds Denken nicht gerecht, die Symbolen fest und unabhängig vom Träumer einen Sinn zuordnet: einer Spinne die verschlingende Mutter, einer Höhle die Vagina oder einem Turm den Penis: O-Ton Jaeggi Es gibt allgemeine Symbole, die jeder Mensch kennt, und unter Umständen kann man auch in sein Traumleben ein Symbol hineinnehmen, meinetwegen einen Turm als Ersatz für einen Penis. Aber das ist eher zu vernachlässigen. Viel wichtiger ist, ob der Turm etwas mit religiöser Erziehung vielleicht zu tun hat, mit Kirchturm, mit Erinnerungen an bestimmte Gottesdienste, und man dann einen ganz eigenen Weg geht.»glaubst Du eigentlich, dass dereinst auf einer Marmortafel zu lesen sein wird: Hier enthüllte sich am 24. Juli 1895 dem Dr. Sigmund Freud das Geheimnis des Traumes?«Diesen Wunsch verriet Freud im Juni 1900 seinem Freund Wilhelm Fließ. Freud hatte schon vor dem Tod seines Vaters mit dem Analysieren seiner Träume begonnen. Und - man muss diese Geschichte einfach erzählen, wenn man über die Traumdeutung spricht hatte Freud bei der Familie Ritter von Schlag im Schloss Bellevue nahe Wien seine
6 Seite 6 Sommerfrische verbracht und dort den Traum von Irma s Injektion geträumt. Über keinen Traum aus der Traumdeutung wurde so viel geschrieben, keiner so oft neu interpretiert. Seine komplizierte Geschichte entschlüsselte Freud so, dass der Traum sagen würde, nicht er sei an dem schlechten Zustand einer Patientin schuld, sondern sein gleichzeitig diese behandelnder Kollege Otto.»Jeder Traum ist die verkleidete Erfüllung eines unterdrückten verdrängten Wunsches«schrieb Freud. Bei diesem Traum war es der Wunsch, sich zu entlasten. Aber in seiner Theorie meinte Freud noch etwas anderes: dass Träume in ihrem tiefsten Kern infantile, sexuelle Wünsche, die Liebeswünsche des Kindes zum Ausdruck brächten. Über diese schreibt er, was seine Person anbelangt, freilich nicht. Er bleibt vielmehr mit seiner Deutung im Bereich des Beruflichen. Sein möglicherweise infantiler Wunsch, als der Größte seines Faches anerkannt zu werden, ging aber über den Traum von Irmas Injektion wirklich in Erfüllung, nur später: Seit 1977 steht auf der Bellevue-Höhe von Wien nächst dem ehemaligen Schloss eine Stele, auf der Freuds Briefzitat eingraviert ist. Jeder Traum, meinte Freud, ist eine Komposition wie ein Musikstück: Er verbindet aktuelle Motive, etwas, das einen am Tag beschäftigt hat, mit alten Motiven, sagt der Münchner Psychoanalytiker Wolfgang Mertens: O-Ton - 6 Mertens Zum Beispiel ein bestimmter Tagesrest, ein Tageserlebnis hat unbewusst Konflikte in mir angestoßen, nachts versucht unsere Seele diese Konflikte mit bereits vorhandenem Wissen in Zusammenhang zu bringen, daraufhin träumen wir - oder der Traum ist bereits der Versuch, Tagesereignisse mit Langzeitwissen in Kontakt zu bringen, und daraus entsteht eine neue Komposition, die uns im besten Fall am nächsten Tag bewusst wird, und wir stehen staunend vor diesem Ergebnis unseres Traumes und wir versuchen uns
7 Seite 7 darauf einen Reim zu machen. Wenn man das versucht, kausal-analytisch zu erklären, bekommt man Schwierigkeiten. Denn man kann es nur verstehen. Die Wissenschaft vom Traum zählt zur Hermeneutik, nicht zur Naturwissenschaft. Beim Traum geht es um Sinn, nicht um Kausalität. Naturwissenschaftliche Psychologen und Physiologen griffen daher Freuds Traumlehre an. In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts hieß es in den einschlägigen Lehrbüchern, Träume seien nichts als Hirngewitter, ausgelöst von der Brückenregion des Stammhirns, die auch den so genannten REM-Schlaf erzeugt, Schlafphasen, die von schnellen Augenbewegungen begleitet sind. In solchen Phasen, zeigten Forschungen im Schlaflabor, träumen Menschen mehr. Genauere Forschungen zeigten aber: Ist die Brückenregion eines Menschen verletzt, fällt zwar der REM-Schlaf aus, aber nicht das Träumen. Weltweit liegen hingegen 100 Berichte über Patienten vor, die nicht mehr träumen können, und bei ihnen allen ist ein ganz anderer Hirnteil verletzt: das so genannte Marklager oberhalb der Augenhöhlen, berichtet der südafrikanische Neurologe Mark Solms. Trennt man operativ die dort verlaufenden Bahnen, kommt es zu einem Ausfall des Träumens: O-Ton Solms (englisches Original) Mit Hilfe bildgebender Verfahren konnten wir zeigen, dass während des Schlafes dieser Teil des Gehirns äußerst aktiv ist, mehr als jeder andere Teil des Gehirns und sogar mehr als im Wachzustand. Und wir wissen, womit dieser Teil im Wachzustand beschäftigt ist: Er treibt uns an, nach Bedeutung in der Welt zu suchen. Daher ist die Evidenz dafür sehr hoch, dass die Ansicht, Träume hätten keine Bedeutung, nicht stimmt, und es eher einleuchtet, dass Träume Bedeutung haben. Der entsprechende Hirnteil hat mit Motivation, Interesse, der Suche nach Erfüllung von Bedürfnissen und nach Bedeutung zu tun. Das passt zu Freuds Theorie: Träume versuchen, halluzinatorisch unsere Wünsche zu erfüllen:
8 Seite 8 O-Ton Solms (englisches Original) Beim Träumen ist das Such-System aktiv, das einen im Geist nach außen gehen lässt; im Schlaf erkundet man eine imaginäre Welt, vielleicht die eigenen Gedächtnisinhalte oder die Ereignisse des Tages, um ihnen Bedeutung zu geben. Oder man erkundet etwas in einem imaginären Raum, um schlafen zu können. Bei Ratten, die man tagsüber einen Weg durch ein Labyrinth lernen ließ, fand man heraus, dass ihr Hirn nachts die selben Feuerungsmuster abgab wie tagsüber beim Lernen. Sie waren, wenn man so will, im Schlaf mit Tagesresten beschäftigt. Vielleicht lernen wir also im Traum, mit der Wachwelt zurecht zu kommen. Das rechtfertigt allerdings noch nicht die These von Freud, dass der Traum den Schlaf behüte, meint der Psychologe Arnold Langenmayr von der Universität Essen; denn diese These passe nicht zu der Tatsache, dass Träume in einem bestimmten Zeitrhythmus während des Schlafes auftauchen. Doch habe auch die empirisch-psychologische Forschung mittlerweile gezeigt, dass viel für Freuds Annahmen spreche, zum Beispiel für seine These, dass der manifeste Traum einen latenten Gedanken entstelle. So zeigte sich zum Beispiel Folgendes bei Forschungen mit einem Schläfer im Labor: O-Ton Langenmayr Jemand hatte eine sehr gute Bekannte, die hieß Sheila, und man hat ihm dann im Traum diesen Namen immer wieder vorgesprochen. Es passierte Folgendes: Der Betreffende war in einer Bücherei und suchte sich ein Buch und fand ein Buch von Friedrich Schiller. Aus Sheila, dem Namen, wurde Schiller, der Dichter. Auch Inhaltsanalysen von Träumen unterstreichen Freuds Gedanken: O-Ton Langenmayr Wenn sie Träume nehmen von Frauen, die in Scheidung befindlich sind, und diese vergleichen mit Träumen von Frauen, die in einer glücklichen Ehe sind, dann finden sie sehr viel bedrohlichere Szenarien bei den Scheidungskandidatinnen. Und das wird nicht in irgendeiner Form direkt als Scheidungsgeschehen auftauchen, sondern als eher etwas, was ängstigenden Charakter hat, und insofern durchaus symbolisch.
9 Seite 9 Kaum einer kennt noch die Namen der Forscher, die in den siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts aufgrund neurophysiologischer Forschungen Freuds Traumtheorie für erledigt erklärten. Doch Die Traumdeutung regt bis heute die Forschung an. Nicht alles stimmt, was Freud darin schrieb. Und manchmal widerspricht er sich auch selbst. Aber die Größe eines Denkers zeigt sich in etwas Anderem: dass er Fragen aufwirft, die die Menschen noch lange beschäftigen. Dass man sich heute noch immer mit den Fragen beschäftigt, die Freud 1900 aufgeworfen hat, zeigt seine Ausnahmestellung in der Wissenschaft des 20. Jahrhunderts. Mit seiner Traumdeutung war ihm ein Durchbruch gelungen, meint Eva Jaeggi: Regie O-Ton Jaeggi Wenn es so etwas gibt wie ein kulturelles Gedächtnis, dann denke ich dass die Traumdeutung wirklich zu den Schätzen des Denkens immer gehören wird.
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