fokus Auf Bäumen kommt man auf seltsame Gedanken Andrea Kromoser Der Baum als Handlungsort in der Kinder- und Jugendliteratur

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1 F e r n k u r s K I N D E R - U N D J U G E N D L I T E R A T U R Andrea Kromoser Auf Bäumen kommt man auf seltsame Gedanken Der Baum als Handlungsort in der Kinder- und Jugendliteratur fokus S T U B E Studien- und Beratungsstelle für Kinder- und Jugendliteratur

2 Andrea Kromoser geb. 1983; wohnhaft in Wien Ausbildung zur Buchhändlerin, Studium der Germanistik und Soziologie in Wien; Absolventin des Fernkurses und des Aufbaukurses Kinder- und Jugendliteratur der STUBE; Freie Mitarbeiterin der STUBE, Betreuung der Fernkurs- Hausübungen Impressum STUBE 2010 Fernkurs Kinder- und Jugendliteratur Hg. von Heidi Lexe und Kathrin Wexberg Grafik: heider & klausner Vervielfältigung: druckwerker, 1020 Wien STUBE Studien- und Beratungsstelle für Kinder- und Jugendliteratur A-1010 Wien, Stephansplatz 3/II/11

3 Inhalt Einleitung 2. Bäume sind Räume. Zur Raumtheorie Jurij M. Lotmans 3. Baumtypologien 3.1. Der Baum als Symbol für Natur, Mensch und Welt 3.2. Baumkronen als Rückzugsorte 3.3. Baumfamilien und Familienbäume 3.4. Tod im Baum 3.5. Bauminnenräume 4. Resümee und Ausblick 5. Literatur

4 F e r n k u r s K I N D E R - U N D J U G E N D L I T E R A T U R 1. Einleitung Was machst du mit deiner Krone?, fragte der König den Baum. Ich lasse die Vögel darin wohnen. Und den Wind. Und die Kinder haben ihr Versteck hier, sagte der Baum. Verstehe, sagte der König und hörte lange dem Rauschen des Windes in den Blättern zu. 1 Die Kronen der Bäume sind den Kindern reserviert. Und den Vögeln und dem Wind. Was Heinz Janisch hier in der Kürzestgeschichte Der König und der Baum so pointiert ausspricht, scheint Programm für die Darstellung von Bäumen in der Kinder- und Jugendliteratur zu sein. Ob als Kletterbaum genutzt, als Standort für Baumhäuser oder als Rückzugsort zum Lesen, Nachdenken oder Träumen der Baum dient auf unterschiedlichste Weise als handlungstragender Ort vieler Texte. Zumeist sind es kindliche ProtagonistInnen, die sich die Plätze in den Bäumen zu Eigen machen. Im Folgenden wird von Kindern in, unter und auf Bäumen die Rede sein: jenen die dort spielen oder solchen die geschützte Rückzugsorte suchen. Auch von Kindern die von Bäumen abstammen, sich in Bäume retten, diese als Freunde gewinnen können und von Jugendlichen, die meist nur (mehr) vorübergehende Gäste in den Baumkronen sind und den dort äußerst rar vertretenen Erwachsenen wird berichtet. Dabei liegt der Fokus auf einzelnen Bäumen, die für ihren jeweiligen Text zentral sind. Der Baum als Handlungsort wird jedoch keineswegs nur im Sinne der zu erkletternden Baumkrone verstanden, auch das Verweilen im Schatten eines Baumes wird mitbedacht. Um eine repräsentative Eingrenzung des Themas zu ermöglichen, ist eine deutliche Einschränkung in der Auswahl der Texte bzw. Textstellen von Nöten. Der Wald als Handlungsort auch in der Form des Märchenwaldes wird ganz weggelassen, auch die Einflussnahme von Märchen auf die Thematik des Baumes in der Kinderund Jugendliteratur wird keine Erwähnung finden. Aus diesem Grunde kann auch die Darstellung von Bäumen in der phantastischen Literatur sowie der Fantasy nur bruchstückhaft angedacht werden. So wird stets vom einzelnen Bedeutung tragenden Baum ausgegangen und dessen Funktion als Ort einer bestimmten Szenerie hervorgehoben. Mit Hilfe von Typologien können jeweils ähnliche bzw. sich gegenüber stehende Positionen zusammengefasst und verdeutlicht werden. Unzählige DichterInnen sowie IllustratorInnen der Kinder- und Jugendliteratur haben Bäume in ihren Werken zentral thematisiert bzw. auf Bäumen bedeutende Szenen angesiedelt. Mit der hier vorgenommen Auswahl wird versucht, einen Querschnitt zu zeigen, der keinesfalls Anspruch auf Vollständigkeit erhebt. Zusammengefasst in ähnliche Motive bzw. Funktionen im Text widmet sich jedes der Kapitel unterschiedlichen Betrachtungsweisen des Baumes. Die Kronen der Bäume sind den Kindern und wie bereits angedeutet nur wenigen anderen Auserkorenen vorbehalten. Doch sind es oftmals gerade jene Lebewesen, denen der Aus- und Überblick aus Baumkronen verwährt bleibt, die sich am sehnlichsten hoch hinauf wünschen wie beispielsweise Kühe. Auch Kühe wollen hoch in die Bäume. Ill. Sven Nordqvist. Hallo, Mama Muh. Stehst du unterm Baum, weil du Schatten suchst? Unter einem Baum steh ich, aber ich such keinen Schatten. Ich wollte auf den Baum klettern, ganz nach oben. [ ] Muh, ganz hoch hinauf will ich, dahin, wohin es nur Eichhörnchen, Vögel und Kinder schaffen. 2 02

5 2. Bäume sind Räume Zur Raumtheorie Jurij M. Lotmans. Infolgedessen wird die Struktur des Raumes eines Textes zum Modell der Struktur des Raumes der ganzen Welt [ ]. 3 Eine Analyse der Funktionen von einzelnen Bäumen in literarischen Texten bringt die Beschäftigung mit räumlichen Textstrukturen mit sich. Denn es liegt in der Natur des Baumes, räumliche Grundlage für Handlungen zu sein: die Plätze unter Bäumen, in deren Kronen/auf deren Ästen sind tagein tagaus Orte, an denen Mensch und Tier agieren. Dabei wird auch die Frage nach dem Standort eines Baumes im Text von Bedeutung: Die Linde im Mittelpunkt eines Gartens, der Kirschbaum vorm Fenster oder die Weide am Waldrand. Jedem dieser Standorte kann in einer literarisch-räumlichen Analyse des Textes jeweils andere Bedeutung zugeschrieben werden. Jurij M. Lotman, ein russischer Literaturwissenschaftler der fünfziger und sechziger Jahre des 20. Jahrhunderts, der durch seine Weiterführung der Arbeiten der Russischen Formalisten als Begründer einer strukturalistisch begründeten Semiotik gilt 4, gibt durch seine Formulierungen zur Raumtheorie wesentliche Hilfestellungen in der Analyse der räumlichen Strukturen eines Textes. Die erzählte Welt ist, folgt man [ ] Lotman, mehr als bloße Kulisse der Handlung. Die Gestaltung und Organisation des Erzählraumes ist vielmehr die Grundlage auf der sich die Handlung entwickelt. 5 Nach Lotman ist die Grundstruktur jedes Textes ein Ereignis, das er Sujet nennt. Jedes Sujet, also die im Text erzählte Welt, besteht aus zwei sich gegenseitig ergänzenden Teilmengen/Teilräumen. Indem Figuren die Grenzen zwischen den Teilmengen überschreiten, entstehen neue Bedeutungsebenen. 6 Dies soll am Beispiel von Mira Lobes bekanntem Kinderbuch Die Omama im Apfelbaum 7 verdeutlicht werden: Hier unterscheidet sich die erzählte Welt an Hand zweier Teilräume sehr konkret. Der Apfelbaum stand nämlich im Vorgarten zwischen Haus und Straße, und Andi konnte von oben alles sehen, was unten geschah. 8 Die Welt des Gartens bzw. des Baumes ist umgeben von der Alltagswelt der Erwachsenen im Haus und auf den Straßen. Indem Andi den Baum erklettert, übertritt er die Grenze zwischen diesen Teilräumen: Langsam ging er in den Garten zum Apfelbaum [ ] und kletterte tief in Gedanken auf seinen Platz in der Astgabel. 9 Dem Teilraum Familienalltag steht der Teilraum einer Welt gegenüber, die Freiraum für Andis Ideen, Wünsche und Gedanken bietet und auch eines Ortes, der ihm Ausblick und Überblick auf seine Alltagswelt gewährt. Die Funktion dieser Handlung des Protagonisten kann nun im Überschreiten der Grenze zwischen den Teilräumen Familienrealität und Andis Phantasiewelt gelesen werden. Die folgenden Textinterpretationen basieren auf den grundlegenden theoretischen Überlegungen Lotmans, verstehen sich jedoch als eigenständige, individuelle Weiterentwicklungen im Analysevorgang. Andi überblickt aus der Baumkrone seine Alltagswelt. Ill. Susi Weigel. Fußnoten: 1 Heinz Janisch: Der König und der Baum. -In: Heinz Janisch / Wolf Erlbruch: Der König und das Meer. 21 Kürzestgeschichten. München: Sanssouci Ohne Paginierung. 2 Jujja Wieslander: Mama Muh klettert auf Bäume. -In: Jujja Wieslander / Sven Nordqvist: Mama Muh und der Kletterbaum. Aus dem Schwed. v. Angelika Kutsch. Hamburg: Oetinger S Jurij M. Lotman: Die Struktur literarischer Texte. Übersetzt v. Rolf-Dietrich Keil. 4., unveränderte Aufl. München: Fink S. 312 (UTB 103). 4 Vgl. de/lirsk/institut/lotman.htm. [2. Dezember 2009, 10:37]. 5 Marlene Zöhrer: Zwischenräume. Jutta Treiber und Jens Rassmus verwischen die Grenze zwischen Realität und Imagination. -In: 1000 und 1 Buch 2/2007. S Vgl. Jurij M. Lotman: Die Struktur literarischer Texte. S Mira Lobe / Susi Weigel: Die Omama im Apfelbaum. Wien: Jungbrunnen Ebd., S Ebd., S