Verfassungsstaatlichkeit
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- Otto Waltz
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1 Verfassungsstaatlichkeit Vorlesung vom 4. Oktober 2011 PD Patricia Schiess Herbstsemester 2011 Verfassung im formellen und im materiellen Sinn Gesamtheit aller Normen, die - im qualif. Verfahren der Verfassungsgebung zustande gekommen - in der Verfassungsurkunde Verfassung im formellen Sinn Verfassung im materiellen Sinn Gesamtheit aller besonders wichtigen Normen betreffend den Staat und betreffend das Verhältnis vom Staat zum Einzelnen Staatsrecht I PD Patricia Schiess, Herbstsemester 2011 Seite 2
2 Verfassung im formellen und im materiellen Sinn Beispiele Absinthverbot Art. 32 ter abv Legitimierung vorehelich geborener Kinder durch die nachfolgende Ehe der Eltern Art. 54 Abs. 5 abv Verfassung im formellen Sinn Verbot der Brauteinzugsgebühren Art. 54 Abs. 6 abv Verfassung im materiellen Sinn derogatorische Kraft des Bundesrechts heute Art. 49 Ab. 1 BV (vorher: Art 2 Übergangsbest. abv) Eigentumsgarantie erst seit dem 14. Sept in Art. 22 ter abv Grundsätze rechtsstaatlichen Handelns heute Art. 5 BV (vorher: ungeschriebenes Verfassungsrecht) Staatsrecht I PD Patricia Schiess, Herbstsemester 2011 Seite 3 Auslegung der Verfassung in der Schweiz (1/2) Ziel der Auslegung: Den Sinn der betroffenen Rechtsnorm zu ermitteln. Auslegung ist keine absolut exakte Methode, die es erlaubt, mit zwingender Beweisführung ein einziges, objektiv richtiges Resultat zu erreichen. Auslegung ist eine wissenschaftliche Methode, die das Instrumentarium zur Verfügung stellt, um gestützt auf logische und wertende Argumente zu einem rational begründeten und damit kontrollierbaren Ergebnis zu gelangen. Auslegung enthält reproduktive Elemente und eine schöpferische Komponente. Übernommen von Häfelin/Haller/Keller Rz Staatsrecht I PD Patricia Schiess, Herbstsemester 2011 Seite 4
3 Auslegung der Verfassung in der Schweiz (2/2) Grundsatz: Die Auslegung der Verfassung erfolgt nach denselben methodischen Regeln wie die Auslegung der Gesetze. Die Auslegung von Staatsverträgen folgt anderen Regeln. Keine Hierarchie der Auslegungsmethoden, sondern Kombination der verschiedenen Auslegungsmethoden Abwägung im Einzelfall, welche Methode/Methodenkombination den wahren Sinn der Norm wiedergibt Auslegungsmethoden grammatikalische Auslegung systematische Auslegung historische Auslegung teleologische Auslegung Völkerrechtskonforme Auslegung Berücksichtigung des Normtypus Staatsrecht I PD Patricia Schiess, Herbstsemester 2011 Seite 5 Bewältigung ausserordentlicher Lagen (1/2) Staatsnotstand = ausserordentliche Notlagen, welche die Funktionsfähigkeit der Behörden und die Erfüllung elementarer Staatsaufgaben in Frage stellen den Einsatz spezieller Massnahmen erfordern Frage: Kann die verfassungsmässige Ordnung vorübergehend materiell geändert oder durchbrochen werden ohne das formelle Verfahren der Verfassungsrevision? Problematik jeder Regelung zur Bewältigung von Notstandssituationen Gefahr der Selbstermächtigung Ziel muss die Wiederherstellung des verfassungsmässigen Zustandes sein Alles Handeln muss an diesem Zweck ausgerichtet sein. Es soll sich kein autoritäres Regime entwickeln. Der Notstand soll möglichst schnell behoben werden. Staatsrecht I PD Patricia Schiess, Herbstsemester 2011 Seite 6
4 Bewältigung ausserordentlicher Lagen (2/2) In der Schweiz: Keine geschriebene Notstandsverfassung Art. 52 Abs. 2 BV Bundesintervention Bundesversammlung: Art. 173 Abs. 1 lit. a und b BV, Art. 165 Abs. 3 BV Bundesrat: Art. 184 Abs. 3 BV, Art. 185 Abs. 3 BV Diese Bestimmungen sind verfassungsrechtlich limitiert, sind nicht Staatsnotstandsklauseln, sondern konstitutionelles Notstandsrecht. Umstrittene Frage nach der Zulässigkeit von extrakonstitutionellem Notstandsrecht. Vollmachtenbeschlüsse Vom 3. August 1914 (AS 1914, S. 347 f.) Vom 30. August 1939 (AS 1939, S. 769 f., siehe Reader) Erörterung des Vorgehens in einer Notlage anlässlich der Übergabe von Kundendaten der UBS durch die FINMA an das US-Justizdepartement Urteil des BVerwGer. vom 5. Januar 2010: Urteil B-1092/2009 (veröffentlicht auf der Website des BVerwGer., auszugsweise z.b. in ZBl 111 (2010), S. 451 ff.) Urteil des BGer. vom 15. Juli 2011: Urteil 2C_127/2010 (schriftliche Begründung noch nicht veröffentlicht). Staatsrecht I PD Patricia Schiess, Herbstsemester 2011 Seite 7 Bundesverfassung von 1848 (1/3) Chronologie Feb.: Die von der Tagsatzung eingesetzte Reformkommission nimmt ihre Arbeit auf. 8. April: Die Reformkommission legt den Entwurf der Tagsatzung vor. 27. Juni: Die Tagsatzung verabschiedet den Entwurf nach zweimaliger Lesung mit Mehrheitsbeschluss. 5. Aug. bis 3. Sept.: Die Kantone bestimmen gemäss ihrem jeweiligen kantonalen Recht über die Annahme oder Ablehnung der Verfassung. 17 Kantone stimmen der Bundesverfassung zu. 6. Nov.: Erstes Zusammentreffen der Bundesversammlung 16. Nov.: Wahl der sieben Mitglieder des ersten Bundesrates Staatsrecht I PD Patricia Schiess, Herbstsemester 2011 Seite 8
5 Bundesverfassung von 1848 (2/3) 1848 Übergang von einem eher lockeren Staatenbund zu einem Bundesstaat Bundesvertrag, in Kraft von 1815 bis 1848 Organ: Tagsatzung (Kongress der weisungsgebundenen Gesandten der Kantone) 1848 nicht möglich: Übernahme eines in Europa bereits existierenden Modells Inspirationen für die Bundesverfassung von 1848 Vereinigte Staaten von Amerika Kernprinzipien der französischen Revolution Verfassungsgebung in verschiedenen Kantonen Staatsrecht I PD Patricia Schiess, Herbstsemester 2011 Seite 9 Bundesverfassung von 1848 (3/3) Die umstrittensten Punkte Umfang der Bundeskompetenzen Struktur und Ausgestaltung der Bundesorgane Kein umfassender Grundrechtskatalog, sondern nur Garantie einzelner Grundrechte Rechtsgleichheit Niederlassungsfreiheit für Schweizer Interkantonale Handelsfreiheit Kultusfreiheit für die christlichen Konfessionen Pressefreiheit Vereinsfreiheit These: In verschiedenen Rechtsgebieten, in denen der Bund 1848 keine Regelungskompetenz bekommen hatte, wurde mit der Gewährleistung von Grundrechten ein gewisser freiheitlicher Minimalstandard garantiert. Staatsrecht I PD Patricia Schiess, Herbstsemester 2011 Seite 10
6 Bundesverfassung von 1874 (1/3) 12. Mai 1872: Abstimmung über eine Totalrevisionsvorlage Ja-Stimmen Nein-Stimmen ja: 9 Stände nein: 13 Stände 19. April 1874: Abstimmung über eine angepasste Totalrevisionsvorlage Ja-Stimmen Nein-Stimmen ja: 14½ Stände nein: 7½ Stände Neuerungen durch die Bundesverfassung von 1874, u.a. fakultatives Gesetzesreferendum Ausgestaltung des Bundesgerichts als permanentes oberstes Gericht Stärkung des Bundes gegenüber den Kantonen Vereinheitlichung grosser Teile des Privatrechts Annäherung an einen einheitlichen Wirtschaftsraum Glaubens- und Gewissensfreiheit für alle Religionen, jedoch antikatholische Verfassungsbestimmungen im Zuge des Kulturkampfes Staatsrecht I PD Patricia Schiess, Herbstsemester 2011 Seite 11 Bundesverfassung von 1874 (2/3) Grobe Linien der Weiterentwicklung von 1874 bis 1999 Ausbau der verschiedenen Instrumente der direkten Demokratie, insbes. 1918: Neuregelung der Nationalratswahlen o Verhältniswahlverfahren mit Einzelstimmenkonkurrenz o Jeder Kanton ist ein Wahlkreis Zunahme der Zentralisierung Stärkung der Rechtsstaatlichkeit Das Schwergewicht lag 1874 auf der demokratischen Ausgestaltung, nicht auf der Rechtsstaatlichkeit. Weiterentwicklung der rechtsstaatlichen Elemente durch den Ausbau der Verwaltungsgerichtsbarkeit, die Anerkennung ungeschriebener Grundrechte durch das Bundesgericht, den Beitritt zur EMRK im Jahre 1974 etc. Staatsrecht I PD Patricia Schiess, Herbstsemester 2011 Seite 12
7 Bundesverfassung von 1874 (3/3) Wegen der zahlreichen Teilrevisionen Unübersichtlichkeit bei gleichzeitiger Lückenhaftigkeit reduzierte Orientierungs-, Steuerungs- und Begrenzungsfunktion Seit den 1960er-Jahren: Ideen für eine Totalrevision 1977: Expertenentwurf für eine neue Bundesverfassung mit Begleitbericht wird der Öffentlichkeit vorgelegt 1967 bis 1973: Expertenkommission unter dem Vorsitz von alt Bundesrat Friedrich Traugott Wahlen ( Arbeitsgruppe Wahlen ) 1973 bis 1977: grosse Expertenkommission (46 Mitglieder) unter der Leitung von Bundesrat Kurt Furgler Staatsrecht I PD Patricia Schiess, Herbstsemester 2011 Seite 13 Totalrevision von 1999 (1/2) 6. Nov. 1985: Bericht über die Totalrevision der Bundesverfassung (BBl 1985 III 1 ff.) Idee einer Nachführung (Prof. Kurt Eichenberger) 3. Juni 1987: Bundesbeschluss über die Totalrevision der Bundesverfassung (BBl 1987 II 963) regelt das Vorgehen. Der Bundesrat hat einen Verfassungsentwurf vorzulegen. Die Arbeiten am Entwurf kommen zum Erliegen. Erst Ende 1993/Anfang 1994 fordert das Parlament vom Bundesrat, die Revision voranzutreiben. Juni 1995 bis Feb. 1996: Breite Vernehmlassung der drei Teile: Verfassungstext mit Varianten, Reformvorschläge Volksrechte, Reformvorschläge Justiz 20. Nov. 1996: Botschaft über eine neue Bundesverfassung (BBl 1997 I 1 ff.) 18. April 1999: Abstimmung (Stimmbeteiligung 35%) Ja-Stimmen Nein-Stimmen ja: 13 Stände nein: 10 Stände Unterschiedliches Schicksal der verschiedenen Reformpakete Staatsrecht I PD Patricia Schiess, Herbstsemester 2011 Seite 14
8 Totalrevision von 1999 (2/2) Beurteilung der Verfassung vom 18. April 1999 Konsolidierung Behutsame Modernisierung Kein Bruch, sondern Lehre, Praxis und Materialien zur Bundesverfassung von 1874 dürfen und sollen weiterhin berücksichtigt werden. Keine Umkrempelung der Rechtsprechung. Das Bundesgericht führt seine Rechtsprechung auch in kritisierten Punkten weiter. Zahlreiche Revisionen seit 1999 Staatsrecht I PD Patricia Schiess, Herbstsemester 2011 Seite 15
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