Bei Ziff. I und II handelt es sich um einen ausgearbeiteten Entwurf. Einheit der Form gewahrt. Keine Mischung.
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- Karoline Böhler
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1 2. PROBEKLAUSUR STAATSRECHT I WS 03/04 Kurzlösung Anmerkung zur Lösungsskizze: Die Lösung ist teilweise bloss in Stichworten angegeben. In der Klausur waren die Lösungen jeweils auszuformulieren. Es wurde insbesondere Wert auf eine gute Argumentation, Subsumtion und einen klaren Aufbau gelegt. Weitere richtige begründete Antworten gaben Zusatzpunkte. Aufgabe 1 Teilfrage 1 Auslegung der zu prüfenden Volksinitiative Die Gültigkeitsprüfung setzt die Auslegung der zu prüfenden Volksinitiative entsprechend anerkannter Auslegungsgrundsätze voraus. D.h. es ist grundsätzlich vom Wortlaut der Initiative auszugehen und nicht vom subjektiven Willen der Initianten. Explizit in der BV genannte Kriterien (Art. 139 Abs. 2 BV) 1. Einheit der Form (Art. 139 Abs. 2 BV, Art. 194 Abs. 3 BV, Art. 75 Abs. 3 BPR) Eine Volksinitiative auf Teilrevision der BV kann die Form der allgemeinen Anregung (benötigt eine Ausgestaltung der Bundesversammlung) oder des ausgearbeiteten Entwurfs (darf von der BV nicht abgeändert werden) haben. Die beiden Formen dürfen in ein und derselben Initiative nicht gemischt werden. Dies ist u.a. schon deswegen nötig, weil die Verfahren der Behandlung der beiden Initiativformen verschieden ausgestaltet sind. Bei Ziff. I und II handelt es sich um einen ausgearbeiteten Entwurf. Einheit der Form gewahrt. Keine Mischung. 2. Einheit der Materie (Art. 139 Abs. 2 BV, Art. 193 Abs. 2 BV, Art. 194 Abs. 3 BV, Art. 75 Abs. 2 BPR) Zwischen den einzelnen Teilen der Initiative muss ein sachlicher Zusammenhang bestehen. Verschiedene, sachlich voneinander unabhängige Materien dürfen nicht Gegenstand derselben Volksinitiative sein. Ratio: Stimmbürger sollen ihren wirklichen Willen zum Ausdruck bringen können (Ausfluss von Art. 34 Abs. 2 BV). Kein sachlicher Zusammenhang zwischen Ziff. I und II, da zwei völlig verschiedene Materien (Volkswahl des Bundesrates/politische Rechte Altersvorsorge) betroffen sind. Einheit der Materie nicht gewahrt. 3. Vereinbarkeit mit zwingendem Völkerrecht (Art. 139 Abs. 2 BV, Art. 193 Abs. 4 BV, Art. 194 Abs. 2 BV) Fundamentalnormen im Völkerrecht wie z.b. Sklaverei- oder Folterverbot. Zwingendes Völkerrecht: Fundamentalnormen des Völkerrechts, sozusagen Verfassungsrecht im Völkerrecht. Entgegenstehende völkervertragliche Abmachungen sind nichtig. Ius cogens ist also innerhalb des Völkerrechts hierarchisch vorrangig. Grund dieses Vorrangs: Die inhaltliche Bedeutung dieser Normen für die internationale Rechtsordnung. Zum zwingenden Völkerrecht gehören nach einhelliger Lehre und Rechtsprechung der Schweiz z.b.: die Verbote der Folter, des Genozids/Völkermordes, der Sklaverei, Non-Refoulement-Gebot (das Verbot der Abschiebung von 1
2 Asylsuchenden in einen Staat, in dem ihnen Verfolgung aus Gründen der Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer Gruppe oder wegen politischen Anschauungen droht). Bei der vorliegenden Initiative sind keine Widersprüche mit dem zwingenden Völkerrecht ersichtlich. 4. Faktische Durchführbarkeit Gemäss Lehre und Praxis als Schranke anerkannt. Ist der Inhalt einer Initiative offensichtlich unmöglich realisierbar, so soll die damit faktisch undurchführbare Vorlage nicht zur Abstimmung gebracht werden. Bei der vorliegenden Initiative sind keine offensichtlich unmöglich zu realisierenden Inhalte in der Initiative ersichtlich. Ergebnis: Die Volksinitiative verletzt die Einheit der Materie und ist deshalb von der Bundesversammlung für ungültig zu erklären. Keine Teilungültigerklärung möglich (Kriterien der BGer-Rechtsprechung für eine Teilungültigerklärung nicht erfüllt). Teilfrage 2 Bundesversammlung (Art. 173 Abs. 1 lit. f. BV und Art. 139 Abs. 2 BV). Teilfrage 3 Der Entscheid über Gültig- oder Ungültigerklärung ist endgültig. Gegen die Gültig- oder Ungültigerklärung auf Bundesebene kann kein Rechtsmittel ergriffen werden. Die Gültig- bzw. Ungültigerklärung einer Volksinitiative hat die Beschränkung eines Volksrechts zum Inhalt (politische Komponente), weshalb die Gültig- oder Ungültigerklärung ebenfalls in die Hände eines vom Volk gewählten Organs (Bundesversammlung) gelegt und deshalb auch kein Rechtsmittel dagegen vorgesehen wurde. Kritik: Frage der Zulässigkeit ist vor allem eine rechtliche Frage, zu deren (abschliessenden) Beurteilung die Bundesversammlung als politisches Organ wenig geeignet ist (Zusatzpunkt). Aufgabe 2 Teilfrage 1 Verletzung von Art. 34 Abs. 2 BV? [Eingriff in den Schutzbereich des Anspruchs auf unverfälschte Willenskundgabe (Art. 34 Abs. 2 BV)]? Herr B. behauptet, das Verhalten der Gemeinde Y. verletze die Bundesverfassung. In Frage kommt eine Verletzung des in Art. 34 Abs. 2 BV verankerten Anspruches auf unverfälschte Willenskundgabe. 1. Schutzbereich Nach Art. 34 Abs. 2 BV besteht ein Anspruch des Stimmbürgers darauf, dass kein Abstimmungsergebnis anerkannt wird, das nicht den freien Willen der Stimmbürger zuverlässig und unverfälscht zum Ausdruck bringt. Der Anspruch auf unverfälschte Willenskundgabe enthält 2
3 u.a. den Schutz (Teilaspekt) der Meinungsbildung im Vorfeld des Urnengangs. Art 34 Abs. 2 BV schützt nach bundesgerichtlicher Rechtsprechung insbesondere vor unzulässiger behördlicher Propaganda. 2. Fallgruppe der behördlichen Einflussnahme ermitteln: Allgemeine Hintergrund-Information (sollte nicht in der Klausur geschrieben werden): Informationen zu Gegenständen der Volksabstimmung gehören zum Aufgabenbereich von Parlament und Regierung. Behörden sind bei der Vorbereitung und im Vorfeld von Abstimmungskämpfen zur objektiven und sachlichen Information verpflichtet. Massnahmen der die Abstimmung organisierenden Behörde: Offizielle Abstimmungs-Erläuterung erlaubt. Weitergehend: Abstimmungsempfehlungen erlaubt (keine Neutralitätspflicht - anders bei Personenwahlen). Zusätzliche objektive Information (nicht manipulierende Werbung) bei Vorliegen triftiger Gründe zulässig. Dies ist insbesondere der Fall bei komplexen Vorlagen oder wenn Falschinformationen richtig gestellt werden müssen (Mittel müssen aber immer verhältnismässig sein!). Aber: Eine Behörde darf grundsätzlich keine staatlich finanzierte Abstimmungspropaganda (Werbung) betreiben. Massnahmen anderer Behörden: Die Intervention eines Gemeinwesens (untergeordnet, z.b. Gemeinde), welches in übergeordneten Abstimmungskampf (z.b. kantonaler Abstimmungskampf) eingreift, ist nach BGer- Rechtsprechung zulässig, wenn das Gemeinwesen besonders betroffen ist und demzufolge ein besonderes Interesse am Ausgang der Abstimmung hat, welches dasjenige der übrigen Gemeinwesen bei weitem übersteigt. Merke: Nach Rspr. keine Pflicht zur Neutralität, aber Pflicht zur Objektivität (selbst wenn die Behörde Partei ergreift, kann sie nach Ansicht des BGer mehr oder weniger objektiv informieren). Klausurlösung zum Punkt 2: Mit der Finanzierung von Inseraten und der Tonbildschau greift die Gemeinde Y. in einen kantonalen Abstimmungskampf und somit auch in Art. 34 Abs. 2 BV, welcher als Teilgehalt das Verbot behördlicher Propaganda garantiert, ein. Es handelt sich dabei um eine Intervention einer Gemeinde in einem kantonalen und somit übergeordneten Abstimmungskampf. Die Gemeinde Y. ist direkt von der kantonalen Abstimmung betroffen, sieht diese doch die Bewilligung eines Kredits für eine Umfahrungsstrasse der Gemeinde vor, welche zu einer Verkehrsberuhigung der Gemeinde führen kann. 3. Anforderungen an Art und Weise der Intervention einer Gemeinde: Obersatz/Voraussetzungen: Üblichkeit: Grundsätzlich kann eine Gemeinde diejenigen Mittel der Meinungsbildung anwenden, welche in einem Abstimmungskampf auch von den Befürwortern und Gegnern einer Vorlage üblicherweise verwendet werden. Gebot der Transparenz (keine geheime Finanzierung). 3
4 Möglichst objektiv und sachlich (einerseits höhere Anforderung als bei privaten Komitees - andererseits gelten nicht dieselben strengen Grundsätze wie für die offiziellen Abstimmungserläuterungen ). Verhältnismässigkeit der Mittel. Subsumtion: Die von der Gemeinde lancierten Zeitungsinserate stellen Mittel dar, welche auch sonstige Befürworter im Rahmen eines Abstimmungskampfes verwenden. Auch die Tonbildschau sprengt den Rahmen nicht. Transparenz: Der Kredit wurde an der Gemeindeversammlung beschlossen. Dies wurde auf den Inseraten vermerkt. Es liegt keine geheime Finanzierung vor. Gebot der Sachlichkeit: keine Angaben zum Inhalt der Inserate/Tonbildschau im Sachverhalt (Anmerkung: dass gemäss Sachverhalt sowohl die Tonbildschau als auch die Inserate die verkehrsberuhigende Bedeutung betonen und für eine Annahme der Vorlage werben heisst nicht, dass diese unsachlich sind. Bei besonderer Betroffenheit darf eine Gemeinde gerade mit staatlicher Finanzierung intervenieren, solange die Intervention mit den oben genannten Anforderungen vereinbar ist). Verhältnismässigkeit: Höhe der Finanzierung? - nicht unverhältnismässig angesichts der Bedeutung der Umfahrungsstrasse für die Gemeinde Y. und d. Umstandes, dass die Stimmbürger eines grossen Kantons erreicht werden sollen. Ergebnis: Das Verhalten der Gemeinde verletzt Art. 34 Abs. 2 BV nicht und ist somit zulässig. Teilfrage 2 (Siehe das handout zur Stimmrechtsbeschwerde!) Das BGer hebt eine Wahl bzw. Abstimmung nur unter folgenden Voraussetzungen auf: wenn die gerügten Unregelmässigkeiten erheblich und eine Beeinflussung des Ergebnisses (= Kausalität) möglich ist. Beurteilungskriterien sind insb.: die Grösse des Stimmenunterschieds, die Schwere des festgestellten Mangels und dessen Bedeutung im Rahmen der gesamten Abstimmung oder Wahl. Von der Aufhebung eines Urnengangs kann bei Vorliegen eines erheblichen Mangels nur abgesehen werden, wenn die Möglichkeit, dass die Abstimmung ohne den Mangel anders ausgefallen wäre, nach den gesamten Umständen als derart gering erscheint, dass sie nicht mehr ernsthaft in Betracht kommt. Rechtfertigt sich eine solche Beurteilung jedoch nicht, so betrachtet das BGer den Mangel als erheblich und hebt die Abstimmung oder Wahl auf. Aufgabe 3 Art. 147 BV. Herr des Verfahrens ist der Bundesrat. Zeitpunkt: Vorverfahren der Gesetzgebung, nachdem ein ausgearbeiteter Entwurf eines Bundesgesetzes vorliegt. Inhalt: Anhörung der Kantone, Parteien, interessierte und betroffene Kreise und Verbände. 4
5 Zweck: breite Abstützung parlamentarischer Entscheide durch involvieren möglichst aller interessierter Kreise; inhaltliche Verbesserung (durch Einbringen von Sachverstand und durch den Diskurs); Verhinderung des Risikos eines Referendums gegen einen Erlass, in dem Sinne Ausdruck der CH-Konkordanzdemokratie. Aufgabe 4 Art. 163 BV zählt die Erlassformen auf. 1.a. Bundesgesetz (Art. 163 Abs. 1 BV) Norm/Rechtssatz (generell-abstrakte Regelung). Gesetz im formellen Sinne. Spezielles Gesetzgebungsverfahren, fakultatives Referendum (Art. 141 Abs. 1 lit. a BV). Siehe auch den sog. materiellen Gesetzesvorbehalt in Art. 164 BV (Zusatzpunkt). Das Bundesgesetz steht unterhalb der Verfassungsstufe. Beispiel: Bundesgesetz über die politischen Rechte; ParlamentsG 1.b. Dringliche Bundesgesetze (Art. 165 BV) (Zusatzpunkt) 2. Verordnung (Art. 163 Abs. 1 BV) Norm/Rechtssatz, generell-abstrakte Regelung. Gesetz im materiellen Sinne. Vereinfachtes Verfahren, kein Referendum. Siehe Art. 36 Abs. 1 Satz 1 BV gesetzliche Grundlage (Zusatzpunkt). Die Verordnung steht unterhalb der Verfassungs- und Gesetzesstufe. Beispiel: Vernehmlassungsverordnung. 3. Einfacher Bundesbeschluss (Art. 163 Abs. 2 BV) Keine Norm, sondern ein Einzelakt (konkret-individuell). Er unterliegt nicht dem Referendum. Beispiel: z.b. Art. 51 Abs. 2 BV (Gewährleistung einer Kantonsverfassung). 4. (Nicht-einfacher) Bundesbeschluss (Art. 163 Abs. 2 BV) Obwohl ein Einzelakt (individuell-konkret), unterliegt der (nicht-einfache) Bundesbeschluss trotzdem dem fakultativen Referendum (so die Legaldefinition in Art. 163 Abs. 2 BV (e contrario)). Das Referendum ist also ein Einzelaktreferendum (Zusatzpunkt). Nach Art. 141 BV Abs. 1 lit. c) kann entweder die BV oder ein Gesetz vorsehen, dass ein Bundesbeschluss dem Referendum unterliegt und damit kein einfacher Bundesbeschluss ist (Zusatzpunkt). Beispiel: z.b. Art. 53 Abs. 3 BV (Genehmigung einer Gebietsveränderung zwischen Kantonen). 5
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