Friedrich A. M. Baumeister. Ketogene Diät. Ernährung als Therapiestrategie bei Epilepsien und anderen Erkrankungen

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1 Friedrich A. M. Baumeister Ketogene Diät Ernährung als Therapiestrategie bei Epilepsien und anderen Erkrankungen

2 Patienten. Unter diesen befand sich der Sohn des wohlhabenden New Yorker Rechtsanwalts Charles Howland. Er hatte sich an Conklin gewandt, nachdem die zum damaligen Zeitpunkt besten medizinischen Behandlungsmöglichkeiten nichts bewirkt hatten. Für die Erforschung der wissenschaftlichen Grundlagen der bei seinem Sohn so erfolgreichen Fasten-Therapie stiftete Charles Howland im Jahr $ seinem Bruder, Dr. John Howland, damals Professor für Pädiatrie am Johns Hopkins Hospital und Direktor des Harriet Lane Home for Invalid Children. Die Gelder wurden für die Schaffung der ersten Laboratorien des Harriet Lane Home verwandt und Dr. Howlands Interesse galt der Behandlung von Epilepsien durch die fasteninduzierte Ketose, insbesondere den damit verbundenen physiologischen Veränderungen. Letztlich entwickelte 1921 Dr. Wilder, ein an der Mayo Klinik tätiger Arzt, eine spezielle Diät, um die positiven Effekte der metabolischen Veränderungen im Hungerzustand auf das Anfallsgeschehen für die Behandlung von Epilepsien zu nutzen (Wilder 1921). Ziel war es, bei ausreichender Energie- und Nährstoffzufuhr eine anhaltende Ketose zu erreichen. Wilder prägte den Begriff Ketogene Diät für diese fettreiche, an Kohlenhydraten reduzierte Ernährungsform mit ausreichendem Eiweiß- und Energiegehalt. Erste Erfolg versprechende Berichte über die Ketogene Diät kamen von der Mayo Klinik, der Johns Hopkins Universität und der Harvard Universität. Zwischen 1941 und 1980 beinhaltete nahezu jedes Handbuch über Epilepsien des Kindesalters die Anwendung der Ketogenen Diät (Wheless 1999). Die Ketogene Diät war zu einer Zeit Bestandteil der Epilepsietherapie geworden, als für die Behandlung von Epilepsien neben Brom (seit 1857) nur Phenobarbital (seit 1912) zur Verfügung stand. Mit der Entwicklung und Einführung weiterer Antikonvulsiva (Diphenylhydantoin 1930, Ethosuximid 1960, Carbamazepin 1963 und Valproinsäure 1973,...) und den Fortschritten in der Epilepsiechirurgie geriet die Ketogene Diät in Vergessenheit (Wheless 2001). In den letzten Jahrzehnten kam es wieder zu einer Zunahme des Interesses an der Ketogenen Diät, was sich in der steigenden Anzahl an wissenschaftlichen Veröffentlichungen widerspiegelt (Abb. 2). 19

3 Anzahl der Publikationen Zeiträume Abb. 2: Wissenschaftliche Veröffentlichungen zur Ketogenen Diät. Im letzten Jahrzehnt kam es zu einer starken Zunahme des Interesses an der Ketogenen Diät. Dies spiegelt sich wider in der Zunahme der wissenschaftlichen Veröffentlichungen (Pub Med) über die Zeit (Modifiziert nach Liebhaber 2003). Eine nicht unerhebliche Bedeutung für die Wiederbelebung der Ketogenen Diät hatte die Charlie Foundation (Infotext Seite 21). Mitte der 90er Jahre des vorangegangenen Jahrhunderts führten Fernsehreportagen und ein Spielfilm ( First Do No Harm 1997) zu einem höheren Bekanntheitsgrad der Ketogenen Diät. Zusätzlich lieferten retrospektive und auch prospektive Studien die Evidenz für die Effektivität und Verträglichkeit der Ketogenen Diät 20

4 zur Behandlung von pharmakoresistenten Epilepsien im Kindesalter (Freeman 1998, Hassan 1999, Lefevre 2000, Katyal 2000, Hemingway 2001, Nordli 2001, Baumeister 2003, Hoon Chul Kang 2005, Neal 2008, Kapitel ). Aufgrund ihrer Effektivität in der Behandlung von schwer verlaufenden Epilepsien, bei denen die konventionellen und neuen Antikonvulsiva versagt haben und eine operative Therapie nicht in Frage kommt, erlebte die Ketogene Diät in den letzten Jahren in den anglo-amerikanischen Ländern eine Renaissance (Baindridge 1999, Ben-Menachem 2000, Freeman 2008, Hartmann 2007, Hemingway 2001, Lefevre 2000, Nordli 1997, Schmidt 2000, Wheless 1999). Im letzten Jahrzehnt hat sich die Ketogene Diät weltweit etabliert (Kossoff 2005 und 2008c). Im Unterschied zu den anglo-amerikanischen Ländern galt die Ketogene Diät bis vor kurzem in den deutschsprachigen Ländern als eine Außenseitermethode und wurde nur von einzelnen Zentren ohne allgemeingültige Empfehlungen oder Koordination untereinander bei verzweifelten Fällen angewendet. Vor diesem Hintergrund wurden in den Jahren 2000 und 2002 in Essen im Rahmen von Workshops erstmals Daten zur Anwendung der Ketogenen Diät im deutschsprachigen Raum erhoben und diskutiert (Klepper 2001 und 2004). Die Ergebnisse bildeten die Grundlage für die erste Leitlinie zur Indikation und Anwendung der Ketogenen Diät im Kindesalter ( welche zuletzt im Juni 2007 überarbeitet wurde. Sie soll als Empfehlung einen einheitlichen Therapiestandard und damit eine verbesserte Evaluation (Effektivität, Nebenwirkungen) der Ketogenen Diät ermöglichen. Zwar hat die Ketogene Diät ihre historischen Wurzeln in der Behandlung von Epilepsien, mit der Aufdeckung der Pathophysiologie metabolischer Erkrankungen erweiterten sich jedoch die Indikationen für die Ketogene Diät. Für bestimmte Stoffwechseldefekte, wie den Glukosetransporter (GLUT 1)-Defekt und den Pyruvatdehydrogenase-Mangel, wurde die Ketogene Diät zur tragenden Säule der Therapie. Die Charlie Foundation ( wurde 1994 gegründet, um für die Ketogene Diät als Behandlungsmöglichkeit für schwer zu behandelnde Epilepsien im Kindesalter unter Ärzten und betroffenen Eltern einen höheren Bekanntheitsgrad zu erreichen. Ihre Zielsetzung sieht die Organisation in der Förderung von Forschung, in der Ausbildung von medizinischen Berufsgruppen und in der Information von Familien über den aktuellen Stand bezüglich der Ketogenen Diät. Im wissenschaftlichen Beirat befinden sich namhafte Wissenschaftler wie John M. Freeman (Johns Hopkins University), Philip A. Schwartzkroin (Universität von Kalifornien) und Charles E. Stafstrom (Universität von Wisconsin). Der Name geht auf den Sohn von Jim Abrahams, einem der Mitbegründer der Charlie Foundation, zurück (Textrahmen folgende Seite). 21

5 CHARLIE S STORY On March 11, 1993, I was pushing my son, Charlie in a swing when his head twitched and he threw his right arm in the air. The whole event was so subtle that I didn t even think to mention it to Nancy, my wife, until a couple of days later when it reoccurred. She said she had seen a similar incident. That was the beginning of an agony I am without words to describe. Nine months later, after thousands of seizures, an incredible array of drugs, dozens of blood draws, eight hospitalizations, a mountain of EEGs, MRIs, CAT scans, and PET scans, one fruitless brain surgery, five pediatric neurologists in three cities, two homeopathists, and countless prayers, Charlie s seizures were unchecked. His development was delayed, and he had a prognosis of continued seizures and progressive retardation. Then, in December 1993, we learned about an obscure diet, consisting mainly of fat, that was effective for some kids with difficult to control seizures. We took Charlie to John Hopkins Hospital, where he started the diet. Since Christmas, 1993 he has been seizure and drug free. As of November 2002 Charlie is a happy fourth grader in Santa Monica, CA. His interests include piano, cello, James Brown, and dinosaurs. He remains seizure and drug free and has been off diet for several years. His favorite song is I feel good. CHARLIE S STORY von Jim Abrahams ( beschreibt aus der Sicht eines betroffenen Elternteils die Bedeutung der Ketogenen Diät für pharma koresistente Epilepsien. Ca % der Patienten mit pharmakoresistenten Epilepsien werden unter Ketogener Diät anfallsfrei (siehe Kapitel ) Ketonkörper und ihre Eigenschaften Der Begriff Ketonkörper bezieht sich auf drei Moleküle, Azetoazetat, b-hydroxybutyrat und Azeton. O = C CH 3 CH 2 COO Azetoazetat HO = CH CH 3 CH 2 COO ß-OH-Butyrat CH 3 O = C CH 3 Azeton 22

6 Azetoazetat und b-hydroxybutyrat sind wasserlösliche, energiereiche, auch unter physiologischen Bedingungen entstehende Stoffwechselprodukte. Sie dienen der Energieversorgung peripherer Organe insbesondere während längerer Hungerphasen, was beträchtliche Ausmaße annehmen kann. Zum überwiegenden Anteil stammen die Ketonkörper aus dem Fettsäureabbau (Kapitel 1.3.2). Nur ein kleiner Anteil entsteht beim Abbau von Leuzin und im Phenylalanin-Tyrosin-Stoffwechsel (Laffel 1999, Scriver 1995). Während bei der Ketogenen Diät endogene Ketonkörper der Therapie dienen, gibt es kaum Erfahrungen mit dem Einsatz exogener Ketonkörper. Die potentielle medizinische Anwendung von exogenen Ketonkörpern in Form von Estern oder Polymeren aus b-hydroxybutyrat wurde bereits diskutiert (Veech 2001, Cahill 2003, Veech 2004). Diese Diskussion erfolgt vor dem Hintergrund, dass Ketonkörper im Gehirn und im Herzmuskel im Vergleich zu Glukose und Fettsäuren zu einer effizienteren Energie(ATP)-Produktion pro Sauerstoffmolekül führen, weswegen sie auch von manchen Autoren als superfuel bezeichnet werden (Veech 2001, Cahill 2003). Darüber hinaus gibt es experimentelle Hinweise für einen neuroprotektiven Effekt von Ketonkörpern bei neurodegenerativen Erkrankungen wie Morbus Alzheimer, Parkinson, amyotrophe Lateralsklerose sowie akuten Hirnschädigungen wie Hypoxie, Ischämie, Hypoglykämie (Kashiwaya 2000, Suzuki 2001, Veech 2001, Cahill 2003, Veech 2004, Gasior 2006, Imamura 2006, Noh 2006, Zhao 2006). Vor kurzem wurde der therapeutische Einsatz von D,L-3-Hydroxybutyrat bei Patienten mit multiplem Acyl-CoA-Dehydrogenase-Mangel (MADD) beschrieben (Van Hove 2003). Beim MADD besteht eine genetische Störung im Elektronentransfer von den NAD + -abhängigen Dehydrogenasen zur Atmungskette aufgrund eines Defektes von Elektrontransfer-Flavoprotein (ETF) oder ETF-Cytochrom-Q-Oxidoreduktase (ETF-QO). Beeinträchtigt ist neben verschiedenen Dehydrogenasen im Abbau von Aminosäuren und der Oxidation von Pyruvat die Fettsäureoxidation (Zschocke 1999). Unter der Behandlung mit Hydroxybutyrat kam es bei Patienten mit MADD zur Rückbildung neurologischer Defizite und zur Normalisierung der Herzfunktion bei lebensbedrohlicher Kardiomyopathie (Van Hove 2003). Aufgrund ihrer Erfahrungen empfehlen die Autoren D,L-3-Hydroxybutyrat als therapeutische Option für schwere Fettsäureoxidationsdefekte mit Kardiomyopathie und Encephalopathie (Van Hove 2003). Desweiteren wurde über die klinische Anwendung von b-hydroxybutyrat bei zwei Patienten mit durch Hyperinsulinismus bedingten Hypoglykämien berichtet. Die orale Gabe von b-hydroxybutyrat wurde von den Säuglingen über die Beobachtungsdauer von einem halben Jahr gut toleriert (Plecko 2002). Azeton entsteht bei der spontanen Decarboxylierung von Azetoazetat und ist durch Ab atmung über die Lunge verantwortlich für den obstartigen Foetor bei ketotischer Stoff- 23