Gewöhnliche Differentialgleichungen. Teil II: Lineare DGLs mit konstanten Koeffizienten
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- Victoria Amsel
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1 - 1 - Gewöhnliche Differentialgleichungen Teil II: Lineare DGLs mit konstanten Koeffizienten Wir wenden uns jetzt einer speziellen, einfachen Klasse von DGLs zu, die allerdings in der Physik durchaus beträchtliche Bedeutung hat. Es handelt sich um lineare DGLs mit konstanten Koeffizienten. Wir demonstrieren die Aussagen und Verfahren an den niedrigsten Ordnungen (in der Regel 2. Ordnung). Gegeben sei die lineare inhomogene DGL 2. Ordnung a 2 y" + a 1 y' + a 0 y = f(x) mit den konstanten Koeffizienten a0, a1, a 2. Ansatz für die allgemeine Lösung der inhomogenen DGL Wir beweisen zunächst die Konstruktion der allgemeinen Lösung einer linearen inhomogenen Differentialgleichungen (die wir im vorigen Kapitel schon kurz erwähnt hatten). Es sei y h die allgemeine Lösung der homogenen DGL a 2 y" + a 1 y' + a 0 y = 0. Weiterhin sei y inh eine spezielle Lösung der inhomogenen DGL a 2 y" + a 1 y' + a 0 y = f(x) Dann ist y= y h + y inh die allgemeine Lösung der inhomogenen DGL a 2 y" + a 1 y' + a 0 y = f(x) Zum Nachweis dieser Behauptung zeigen wir zuerst, dass y= y h + y inh tatsächlich eine Lösung der DGL a 2 y" + a 1 y' + a 0 y = f(x) ist. Weiterhin ist vorausgesetzt, dass y h die allgemeine Lösung der homogenen DGL ist. Dann enthält y h zwei Integrationskonstanten, und damit hat auch y= y h + y inh zwei Integrationskonstanten. Die lösende Funktion y =y(x) besitzt dann zwei frei wählbare Konstanten und ist daher die allgemeine Lösung der inhomogenen DGL.
2 - 2 - Allgemeine Lösung der homogenen DGL In diesem Unterabschnitt lösen wir allgemein die homogene DGL a 2 y" + a 1 y' + a 0 y = 0. Wenn wir zwei (spezielle) unabhängige Lösungen y1, y2gefunden haben, ist y C1 y1 C2 y2 mit zwei frei wählbaren Konstanten die allgemeine Lösung. Der Nachweis, dass y=y(x) tatsächlich eine Lösung ist, ist recht trivial, weil die DGL linear ist. Da die Lösung zwei unbestimmte Konstanten enthält, ist sie auch die allgemeine Lösung. Exponentialansatz Wir suchen die Lösung der linearen DGL in der Form Dann werden die Ableitungen gebildet und in die DGL eingesetzt. Damit erhalten wir die Möglichkeit, den unbekannten Faktor r im Exponenten so zu bestimmen, dass die DGL tatsächlich erfüllt wird. Allgemeine Form Beispiel Diese quadratische Gleichung wird charakteristische Gleichung der DGL a 2 y" + a 1 y' + a 0 y = 0 genannt. Ihre Lösungen sind r 1 = -1, r 2 = -2 Wenn r 1 und r 2 verschieden sind, sind y 1 = exp(r 1 x) und y 2 = exp(r 2 x), z.b. y 1 = exp(-x) und y 2 = exp(-2x), zwei verschiedene Lösungen. Die allgemeine Lösung ist
3 - 3 - Je nachdem, in welchen Größenbeziehungen die Konstanten a 2, a l, a o zueinander stehen, und damit zu verschiedenen Lösungstypen des charakteristischen Polynoms r 2 a 2 + ra l + a o = 0 führen, ergeben sich stark voneinander abweichende Lösungsformen. Fallunterscheidung ausgehend von der allgemeinen Form Fall A: Der Klammerausdruck ist positiv. Dann sind die Wurzeln reell und unterschiedlich, Beispiel: 2y" + 7y' + 3y = 0 Charakteristische Gleichung: 2r 2 + 7r + 3 = 0 Lösungen der charakteristischen Gleichung: Fall B: Der Klammerausdruck ist negativ. Die Wurzeln sind komplex und konjugiert zueinander
4 - 4 - Für die Lösung folgt Weil erhalten wir oder Hilfssatz: Ist die ermittelte Lösungsfunktion der DGL a 2 y" + a 1 y' + a 0 y = 0. eine komplexe Funktion y der reellen Veränderlichen x, d.h. y = y 1 + iy 2, dann sind Realteil y 1 und Imaginärteil y 2 spezielle Lösungen der DGL. Die allgemeine reellwertige Lösung der DGL ist somit durch y = c 1 y 1 + c 2 y 2 gegeben. Der Nachweis ist einfach: Daraus folgt also, dass y 1 und y 2 spezielle Lösungen der DGL sind. Anders ausgedrückt: Die Lösung der DGL im Fall B ist Beispiel y" + 4y' + 13y = 0 Charakteristische Gleichung: r 2 + 4r + 13 = 0 Lösungen der charakteristischen Gleichung: r 1 = i r 2 = -2-3i
5 - 5 - Fall C: Der Klammerausdruck verschwindet. Wir erhalten die Doppelwurzel Damit liefert uns die Methode des Exponentialansatzes nur eine Lösung y 1 = exp (r 1 x). Um die allgemeine Lösung zu erhalten, benötigen wir noch eine zweite Lösung. Diese kann mit Hilfe des Verfahrens der Variation der Konstanten ermittelt werden. Wir geben hier eine zweite, von y 1 verschiedene Lösung ohne Herleitung an und verifizieren, dass sie die DGL löst: Die runde Klammer ist Null, da r 1 die Lösung der charakteristischen Gleichung ist. Setzen wir ein, dann verschwinden auch die übrigen Terme in der eckigen Klammer. Damit haben wir die zweite Lösung begründet. Aufgabe 10.1: Geben Sie ein systematisches Verfahren an, um die zweite Lösung zu finden. Die allgemeine Lösung hat damit im Fall C die Form
6 - 6 - Beispiel y" - 4y' + 4y = 0 Charakteristische Gleichung: r 2-4r + 4 = 0 Lösungen der charakteristischen Gleichung: r 1 = r 2 = +2 Allgemeine Lösung der Dgl.: y = c 1 exp (2x) + c 2 x exp (2x) Anmerkung zur homogenen DGL 1. Ordnung Wir betrachten noch kurz die homogene lineare DGL 1. Ordnung mit konstanten Koeffizienten, d.h. Gleichungen des Typs a 1 y' + a o y = 0 Die charakteristische Gleichung a 1 r + a 0 = 0 hat genau eine Lösung: Die allgemeine Lösung enthält eine Integrationskonstante und lautet In der Physik kommen solche DGLs z.b. bei Wachstums- und Zerfallsprozessen vor, bei denen die Wachstums- (bzw. Zerfalls-)geschwindigkeit dem jeweiligen Bestand proportional ist. Beispiele sind das Wachstum von Virenkulturen oder der radioaktive Zerfall (s. unten).
7 - 7 - Inhomogene lineare DGL 2. Ordnung mit konstanten Koeffizienten Derartige DGLs treten insbesondere bei erzwungenen Schwingungen auf. x '' 2 x ' x f cos t oder in komplexer Schreibweise z '' 2 z ' z f exp{ i t} Komplexe Schreibweise Die komplexe Schreibweise können wir wählen, da es sich um eine lineare DGL handelt. Von der komplexen Schreibweise kommen wir zur linearen, indem wir den Realteil bilden. Die allgemeine Lösung der homogenen Gleichung haben wir gerade bestimmt, d.h. wir benötigen nur noch eine spezielle Lösung für die inhomogene Gleichung. Dazu machen wir, am besten in komplexer Schreibweise, einen Ansatz, der der Inhomogenität ähnlich ist: Die Ableitungen dieser Ansatzfunktion sind Damit erhalten wir für den Parameter A aus dem Ansatz wobei der Nenner ungleich Null vorausgesetzt wurde. Der Nenner wird Null im Resonanzfall ( 0bei verschwindender Dämpfung = 0).
8 - 8 - Der Betrag von A ist und der Phasenwinkel ist Damit erhalten wir als reelle Lösung der Differentialgleichung x( t) A cos( t ) Die erzwungene Schwingung folgt also der Antriebskraft mit der gleichen Frequenz, aber um einen Phasenwinkel verschoben. Dieser Phasenwinkel steigt mit zunehmender Antriebsfrequenz; bei hohen Antriebsfrequenzen laufen Schwingung und Antrieb entgegengesetzt. Für 0 wird die Phasenverschiebung /2. Die Amplitude A hat eine Resonanz, die mit kleiner werdendem (verschwindender Dämpfung) immer deutlicher wird. Diese Resonanz liegt bei (aus Minimalwert des Nenners von A ) mit einer Resonanzamplitude Kombination der Lösung der homogenen DGL mit der speziellen Lösung ergibt die allgemeine Lösung für den Schwingfall Die freie Schwingung nimmt mit Dämpfung im Laufe der Zeit immer weiter ab, so dass nur die erzwungene Schwingung übrig bleibt.
9 - 9 -
10 Bestimmung der freien Konstanten DGL 1. Ordnung Wir betrachten die DGL a 1 y' + a 0 y = 0 Die charakteristische Gleichung a 1 r + a o = 0 hat die Lösung r =- a 0 /a 1 Die allgemeine Lösung dieser DGL ist y = C exp(r x). Da C alle beliebigen reellen Zahlenwerte annehmen kann, gibt es unendlich viele Lösungsfunktionen. Bei den Anwendungen in der Physik kommt es häufig vor, dass man einen bestimmten Punkt der Lösungsfunktion oder ihre Steigung in einem bestimmten Punkt kennt. Oder man sucht eine Lösung, die eine bestimmte Eigenschaft erfüllt. Der Körper soll beispielsweise zur Zeit t = 0 im Punkt P sein, oder der Körper soll beim Durchlaufen des Koordinatenursprungs die Geschwindigkeit v o haben. Durch Vorgabe solcher Bedingungen, Randbedingungen oder auch Anfangsbedingungen genannt, wird die beliebige Konstante C eindeutig festgelegt. Aus der allgemeinen Lösung wird eine spezielle, die eine bestimmte vorgegebene Bedingung erfüllt. Die Lösung einer DGL 1. Ordnung enthält genau eine unbestimmte Konstante. Durch eine Anfangsbedingung (Randbedingung) ist diese Konstante festgelegt. Beispiel y' + 3y = 0 mit der Bedingung x = 0: y = 2 y = Cexp( -3x ) mit der Bedingugn y = 2 = C exp(-3x = 0 ) = C C = 2 und damit y = 2 exp( -3x ) DGL 2. Ordnung Die allgemeine Lösung einer DGL 2. Ordnung enthält genau zwei beliebige Integrationskonstanten. Wir benötigen demnach zwei Bedingungen, um diesen Konstanten feste Werte zuzuordnen. Bestimmen wir die Werte der Integrationskonstanten durch zwei Bedingungen, dann geht die allgemeine Lösung in eine spezielle Lösung über, die die geforderten Bedingungen erfüllt. Die Randbedingungen können zum Beispiel in der Form gestellt werden, dass die Lösungsfunktion y(x) durch zwei Punkte in der x-y-ebene geht, oder durch einen Punkt geht und in einem anderen eine bestimmte Steigung hat.
11 Wir fordern zum Beispiel y(x 1 ) = c 1, y(x 2 ) = c 2 c 1, c 2 bestimmte Zahlen, oder y(x 1 ) = c 1, y (x 1 ) = c 2 c 1, c 2 bestimmte Zahlen Beispiel: Der freie Fall Ein Stein der Masse m wird senkrecht in einen Brunnenschacht geworfen. Die Höhe des Steines beträgt beim Abwurf h o. Seine Anfangsgeschwindigkeit sei v o. Wir legen eine Koordinatenachse in die Falllinie des Steines mit dem Nullpunkt in Höhe der Brunnenkante. Dem Abwurf ordnen wir den Zeitpunkt t 0 0 zu. Die Newtonsche Bewegungsgleichung lautet mx (t) = - mg oder x (t) = - g Prinzipiell können wir diese DGL lösen, indem wir eine spezielle Lösung der inhomogenen DGL und die allgemeine Lösung der homogenen DGL suchen und dabei den Exponentialansatz verwenden. DGLs vom Typ y" = f(x) löst man allerdings einfacher durch direktes zweimaliges Integrieren. x = - g, x = - gt + c 1, x(t) = - gt 2 /2 + c 1 t + c 2 Anfangsbedingungen: x(0) = h 0, x (0) = v 0 x(0) = h o = - g0 2 /2 + c c 2 = c 2, v(0) = v o = - g 0 + c 1, c 2 = h o v 0 = c l Damit erhalten wir als Lösung mit den angegebenen Randbedingungen x(t) = - gt 2 /2 + v 0 t + h 0
12 Es sei noch bemerkt, dass nicht jedes Paar von Randbedingungen von der Lösungsfunktion erfüllbar ist. Beispiel Die allgemeine Lösung der DGL y" + y = 0 ist y = c 1 sin x + c 2 cos x Die Funktion y soll durch die Punkte y(0) = 0 und y( ) = 1 gehen. y(0) = 0: 0 = c 1 sin 0 + c 2 cos 0, c 2 = 0 y( ) = 1: 1 = c 1 sin = 0, Widerspruch! Beispiel: Der radioaktive Zerfall N(t) gebe die Zahl der zur Zeit t vorhandenen radioaktiven Atome an. Man macht nun die Annahme, dass die pro Zeiteinheit zerfallenden Atome proportional zu der Anzahl der noch nicht zerfallenen Atome ist. Führen wir einen Proportionalitätsfaktor ein und schreiben ein Minuszeichen, weil N(t) eine abnehmende Funktion ist und deshalb dn/dt < 0 ist, dann lautet die DGL für den radioaktiven Zerfall Dies ist eine homogene lineare DGL 1. Ordnung mit konstanten Koeffizienten. Die allgemeine Lösung der DGL ist N() t Ce t Die Konstante C wird durch N(t = 0) = N 0 zu C N0 bestimmt. Sie hat in dem Beispiel die Bedeutung der Anzahl radioaktiver Atome zur Zeit t = 0. Aufgabe 10.2: Lösen Sie die folgende DGL
13 Aufgabe 10.3: Zeigen sie, dass sich eine DGL vom Typ Lösung an. Aufgabe 10.4: Die Erfahrung zeigt, dass in einem Jahr von jedem Gramm Radium 0,44 mg zerfallen. Nach wie vielen Jahren zerfällt die Hälfte des vorhandenen Radiums? Aufgabe 10.5: Gegeben sei das Feder-Masse-System der folgenden Abbildung. k ist die Federkonstante und m bezeichnet die Masse. Aufgabe 10.6: Lösen Sie die vorangegangene Aufgabe 10.5 unter der Zusatzbedingung, dass auf die Masse noch die periodische Kraft f bsin( t) wirkt. Zeigen sie, dass unter beliebigen Anfangsbedingungen die Bewegung der Masse einer periodischen Bewegung ähnelt und finden Sie diese periodische Bewegung.
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