Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften (AWMF) Präsident Prof. Dr. Albrecht Encke

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Transkript:

AKdÄ Fachgesellschaften Deutsche Krebsgesellschaft Bürgergesellschaft: Spielball der Standesinteressen? Wer setzt medizinische Standards auf welcher Grundlage? Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften (AWMF) Präsident Prof. Dr. Albrecht Encke Kommerzielle klinische Forschung Symposium 8.9.2007 in Bonn Der medizinische Standard ist ein juristischer Begriff. Er wird definiert als der jeweilige Stand der wissenschaftlichen Erkenntnisse, der zur Erreichung des ärztlichen Behandlungszieles erforderlich und in der Praxis erprobt ist. Er wird im Einzelfall (Rechtsstreit) durch den medizinischen Sachverständigen/Gutachter dargestellt und erläutert. Die Entscheidung ist eine juristische. 1

Die Bestimmung des klinischen Standards der Arzneimitteltherapie ist ein Primat der wissenschaftlichen Fachgesellschaften. AWMF: Leitlinienentwicklung, Implementierung, Evaluation, Fortschreibung. Efficacy / Effectiveness / Efficiency Versorgungsforschung. AKdÄ: Information der Ärzteschaft über rationale Arzneimitteltherapie und Arzneimittelsicherheit. DKG: Onkologisches Leitlinienprogramm mit AWMF und Deutscher Krebshilfe. Bisher eigene Empfehlungen (ISTO). Onkologisches Leitlinienprogramm von AWMF, DKG und DKH Säulen der onkologischen Therapie: - Operative Behandlung - Strahlentherapie - - Chemotherapie Multimodale, interdisziplinäre Behandlung - Interdisziplinäre Tumorkonferenzen - Zentrenbildung Konflikt Medizinische Onkologie mit Organfächern 2

Leitlinien sind systematisch entwickelte Aussagen, die den gegenwärtigen Erkenntnisstand wiedergeben und dem behandelnden Arzt und seinem Patienten die Entscheidungsfindung für eine angemessene Behandlung in einer spezifischen Krankheitssituation erleichtern. Evidenzbasierte Leitlinien Evidenz (Evidence) Evidenzbasierung ( äußere Evidenz) Evidenzbasierte Medizin Evidence-based Medicine ist die gewissenhafte, ausdrückliche und vernünftige Berücksichtigung der gegenwärtig besten Evidence bei der Entscheidungsfindung in der Betreuung individueller Patienten (Sackett et al 1996) Evidence-based Medicine ist die Integration der best verfügbaren wissenschaftlichen Evidence mit klinischer Expertise und den Präferenzen des Patienten (Sackett et al 2000) 3

Systematische Evidenz-Basierung (Strukturierte Literaturrecherche) Systematische Suche nach Studienergebnissen und evaluierten Leitlinien Systematische Abschätzung der Aussagefähigkeit der Studienergebnisse bzw. der Effekte potenzieller Verzerrer Studienanlage (verglichene Behandlungen, Zielkriterien, Dauer der Beobachtung, Biasreduktion, Setting etc.) Studienqualität (Fallzahl, Verblindung, Ausweich-therapien, Drop-out-Raten, Protokollverletzungen etc.) Auswertungsqualität (ITT/PP, Umgang mit fehlenden Werten, konfirmatorische / deskriptive Analyse etc.) Systematisches Review (Vergleichbarkeit von Studienanlagen, Studien- und Auswertungsqualitäten) Vergabe von Evidenzstärken für die Studienaussagen Übertragung der Evidenzen in den Alltag - Abwägung zwischen verschiedenen Evidenzen verschiedener Outcomes (Mortalität, Morbidität, Adverse Events, Lebensqualität, Patientenwerte) - Übertragbarkeit auf angestrebte Patientenund Anwender-Zielgruppen der Leitlinie (incl. Extrapolation und Import ausländischer Studienergebnisse) - Relevanz des zu erwartenden Outcomes unter Alltagsbedingungen - Anwendbarkeit im deutschen Gesundheitssystem (Ressourcenbedarf und Strukturen) 4

Entscheidungsfindung in der Medizin Arzt Objektive Erfahrung Kompetenz Intuition Ethos und Recht Kostenbewusstsein Individ. Ent- scheidungs- Situation Patient Subjektive Erfahrung Erwartungen Werte (Präferenzen) Bewältigungsstrategien Kultur Vorgegebener ethischer, Externes Wissen als Entscheidungshilfe Evidenzen aus der empirischen und der theoretischen Forschung (Leitlinien) sozialer und finanzieller Rahmen Anforderungen an die Leitlinienentwicklung Interdisziplinarität, Multiprofessionalität Strukturiertes Anmeldeverfahren Beratungsgespräch (AWMF-Methodenreport) Methodische Begleitung/Moderation Qualitätssicherung (GRADE, DELBI) Aus- und Fortbildung von Methodikern Abstimmung mit anderen LL-Interessenten Implementierung Evaluation Versorgungsforschung Fortschreibung 5

Die S-Klassifikation der Leitlinien (AWMF 2004) S1 S2k S2e S3 Typ Handlungsem -pfehlungen von Experten Konsensbasierte LL Evidenzbasierte LL Evidenz- und Konsensbasierte LL Charakteristika der Entwicklung Gremium selektiert Keine system. Ebasierung Keine strukt. Konsensfg Gremium repräsentativ Keine system. Ebasierung Strukt. Konsensfindung Gremium selektiert Systematische Ebasierung Keine strukt. Konsensfg Gremium repräsentativ Systematische Evid.bas. Strukt. Konsensfindung Wissens. Legitimation der Methode niedrig niedrig Legitimation für Umsetzung gering mittel Qualitätsentwicklung von Leitlinien im System der AWMF 1200 1000 800 600 400 200 0 Anteil Leitlinien ohne Klassifikation, S1, S2, S3 48 110 696 1998 2000 2002 2004 2005 2006 2007 n=552 n=924 n=1001 n=946 n=762 n=854 Angemeldete Leitlinienprojekte: S1: 25 S2: 29 S3: 67 Zus. 121! (Mai 2007) 6

Leitlinien - neuer Wein in alten Schläuchen? - Leitsätze für eine sparsame und doch sachgemäße Behandlung der Kranken durch Ärzte des Reichsgesundheitsrats - Leitsätze des Reichsgesundheitsrates - 4. Die Ärzte sollen durch strenge Selbstprüfung dazu beitragen, dass Vielverschreiberei und sonstige Polypragmasie, die freilich oft durch die Neigung des Publikums selbst gefördert, unterbleibt. 5. Es ist zu billigen, dass.die Ärzte auf die jeweils vermeidbaren Arzneimittel aufmerksam gemacht werden. 6. Wirksamer als die obligatorische Beschränkung des ärztlichen Handelns werden sein: In kollegialer Weise gegebene Richtlinien... therapeutische Ratschläge vom Gesichtspunkt ökonomischer Krankenbehandlung aus, Abhandlungen..., denen weniger Betriebsamkeit und Autorität, aber mehr Befolgung ihrer Empfehlungen zu wünschen wäre 7