Kleine Systeme? Dirk Baecker Universität Witten/Herdecke Thesenpapier zum Vortrag auf dem TRAFO Ideenkongress zu Kultur, Alltag und Politik auf dem Lande, Halle, 19. 21. September 2018 1. Theorie sozialer Systeme Die Theorie sozialer Systeme ist eine Theorie, die Unwahrscheinlichkeiten der Ausdifferenzierung (Wiedererkennbarkeit) und Reproduktion (Wiederholbarkeit) von Kommunikation und Handlung beschreibt. Soziale Systeme sind Systeme, die ihr Problem der Ausdifferenzierung und Reproduktion selbst lösen. Sie kommen laufend auf sich selbst zurück, um sich mit ihrer Umwelt auseinandersetzen zu können. Die Selbstreferenz ist kein Selbstzweck, sondern thermodynamisch und evolutionär unwahrscheinlich die Voraussetzung und das Resultat der Auseinandersetzung mit ihrer Umwelt. Die Theorie sozialer Systeme ist eine Theorie von Beobachtern für Beobachter und selbst ein soziales System. Alle Sätze über ihren Gegenstand müssen auch für sie selbst gelten. Sie bezieht ihre Grundbegriffe aus der allgemeinen Theorie selbstreferentieller Systeme sowie aus der Kybernetik zweiter Ordnung und reichert ihrerseits diese allgemeine Theorie mit neuen Grundbegriffen an. Die Theorie sozialer Systeme ist zugleich eine systemische Praxis. Sie konstruiert ihren Gegenstand in der Auseinandersetzung mit diesem Gegenstand, sei es am Schreibtisch auf dem Umweg über die Literatur oder sei es in der gesellschaftlichen Praxis in der Auseinandersetzung mit Akteuren im Feld (teilnehmende Beobachtung, Interview, Workshop). Den empirischen Zugang zu ihrem Gegenstand findet die Theorie sozialer Systeme über die Annahme der Unwahrscheinlichkeit von Kommunikation und Handlung. Die Unwahrscheinlichkeit wird gemeistert, indem Strukturen aufgerufen werden, die Kommunikation und Handlung anschlussfähig machen. Diese Strukturen gibt es nur für und in dem Moment, in dem sie aufgerufen werden.
2 2. Wann ist ein System ein System? Ein System ist ein System, wenn es folgenden Bedingungen genügt: Schließung: Systeme sind geschlossen unter dem Aspekt der Information ( informationsdicht ) und offen unter dem Aspekt von Energie und Materie. Das heißt: Jedes Ende muss zugleich ein Anfang sein. Das System verliert einen Freiheitsgrad und gewinnt eine Welt von Möglichkeiten. Selbstreferenz und Fremdreferenz: Das System muss auf sich, das heißt auf eigene, gleichzeitige, frühere oder spätere Elemente zurückkommen, während es sich laufend mit anderem beschäftigt. Ausdifferenzierung in und aus der Umwelt: Das System zieht eine Grenze zur Umwelt, die es nicht isoliert, sondern die es ihr steigerbar ermöglicht, sich mit der Umwelt zu befassen. Steigerbar heißt, dass die Grenze strenger gefasst werden muss, um eine vielfältigere Auseinandersetzung mit der Umwelt zu ermöglichen. Zugleich kann die Grenze laufend verschoben werden, solange sie nur aufrechterhalten wird. Die Grenze eines sozialen Systems wird im Medium des Sinns gezogen. Sie bestimmt, wer und was dazugehört und wer und was nicht. Wer oder was nicht dazugehört, kann trotzdem und gerade deswegen referenziert werden. Im Medium des Sinns thematisiert das System sich selbst und seine Umwelt. Alle Themen des Systems müssen der Bedingung genügen, das System in der Sache auszudifferenzieren und in der Zeit zu reproduzieren. Im System ist Kontrolle gleich Kommunikation und Kommunikation gleich Kontrolle: Da Systeme im Raum einer unbestimmten Umwelt und unter Verzicht auf externe Garanten wie Natur, Geschichte, Moral, Moderne, Fortschritt und Algorithmen nur sich selbst haben, um sich zu reproduzieren und in der Auseinandersetzung mit ihrer Umwelt zu verändern, muss jede Kommunikation die Grenzen des Systems kontrollieren und besteht jede Kontrolle in der Kommunikation dieser Grenzen. Systeme reproduzieren sich in der Zeit, schärfer noch: Sie benutzen die Zeit, um ihren eigenen Zerfall zu erzwingen und sich aus dem Zerfall zu regenerieren. Der Zerfall in der Zeit ergibt sich einerseits thermodynamisch von selbst und ist andererseits das beste Mittel, um jederzeit neu anfangen und auf sich zurückkommen zu können, ohne Strukturen
3 mitzuschleppen, die sich nicht mehr bewähren. Umgekehrt erfüllt jede Struktur, die unter diesen Bedingungen mitgeschleppt wird, eine positive Funktion der Erhaltung des Systems, so sehr sich Beobachter darüber wundern mögen. 3. Was ist ein kleines soziales System? Ein kleines soziales System ist ein System, in dem jeder jeden kennt. Wir können es unterscheiden von einfachen Systemen, die unter der Bedingung der Anwesenheit aller Beteiligten selbstverständlich ihrerseits komplex operieren, von organisierten sozialen Systemen, die sicherstellen, dass Mitglieder auch dann kommunikativ erreicht werden können, wenn sie abwesend sind, und der Gesellschaft, nämlich der generell von jedem sozialen System mitgeführten (selbst wenn abgelehnten) Möglichkeit, auch mit Abwesenden zu kommunizieren (über Schrift, Buchdruck, elektronische Medien, digitale Apparate), die nicht organisatorisch gebunden werden können (die Nation soll dies zumindest semantisch kompensieren). Einschränkend muss ergänzt werden, dass die Theorie sozialer Systeme weder den Begriff des kleinen noch den des großen Systems kennt. Systeme sind immer klein und groß zugleich, insofern sie nichts anderes verhandeln als die Differenz lokaler Bezüge und globaler Referenzen. Je weniger globale Bezüge zu verhandeln sind, desto kleiner, nämlich arm an Themen werden die Systeme. Und je mehr sich die lokalen Bezüge angesichts globaler Referenzen behaupten müssen, desto größer, nämlich reicher an Themen werden die Systeme. Bleiben wir im Folgenden dennoch bei einem vorläufigen Begriff des kleinen Systems, so sollte dieses immer im doppelten Spiegel der Anzahl der Personen, die man kennt, und der Themen, die verhandelt werden, gesehen werden. Das eine hängt mit dem anderen zusammen, denn je mehr Themen verhandelt werden, desto attraktiver wird das System für eine größere Anzahl an Personen. Wenn die Themenfülle weiter steigt, wird es schließlich interessant, auf die Bedingung der persönlichen Bekanntschaft zu verzichten und die Systeme anhand ihrer Themen zu ordnen, nicht ihrer Personen. Und dann gibt es so etwas wie eine anthropologische Konstante. Systeme, in denen jeder jeden kennt, dürfen nicht mehr als 149 Mitglieder haben, so die von Robin Dunbar aus Strukturen des menschlichen Neocortex errechnete Anzahl möglicher persönlicher Bekannter.
4 Persönlich Bekannte sind mit Namen, Gesicht, familiären und biographischen Details, jedoch nie vollständig bekannt. Kleine Systeme, die an dieser Bedingung festhalten, schwingen sich in Zustände ein, in denen bedient wird, was man voneinander weiß, und unterdrückt wird, was man nicht voneinander weiß, wobei das, was man nicht voneinander weiß, ebenfalls Gegenstand der Kommunikation sein kann. Kleine Systeme gehorchen wie alle Systems der Doppelstruktur von group und grid (Mary Douglas). Sie bestimmen die Identität einer Gruppe aus den Identitäten derer, die zu ihr gehören, beziehungsweise umgekehrt die Identitäten derer, die zu ihr gehören, aus der zu diesem Zweck schwankenden Identität der Gruppe. Und sie beziehen sich zugleich auf ein Netz (grid) weiterer gesellschaftlicher Möglichkeiten im Umfeld der Gruppe. Die Art und Weise, wie das Netz gesellschaftlicher Möglichkeiten in der Gruppe in Reichweite gerückt oder auf Abstand gehalten wird, bestimmt wiederum die Identität der Gruppe und derer, die ihr angehören. Kleine Systeme zeichnen sich dadurch aus, dass sie die Gruppe eher inklusiv und das Netz eher exklusiv bestimmen: Zur Gruppe der persönlich Bekannten gehören auch diejenigen, die im Moment nicht anwesend sind; aber das Netz weiterer Möglichkeiten wird zumindest in der Kommunikation, wenn auch nicht in den faktischen Bewegungen der Bekannten abgelehnt beziehungsweise abgewertet, um den Charakter des kleinen Systems als dessen wichtigsten Vorzug zu wahren. Kleine Systeme etwa unter Migranten können eine weltweite Reichweite erreichen ( Diaspora ), soweit und solange persönliche Bekanntschaften tragen. Ein kleines System operiert unter der Bedingung einer nahezu identischen Zukunft, weil die Bedingung der persönlichen Bekanntschaft diesen Bekannten nur erwartbare Änderungen zumuten darf. Die Zukunft kann sich nur insofern unterscheiden, als unter den persönlich Bekannten neue hinzukommen oder die persönlich Bekannten mit neuen Themen aufwarten. Das ist jedoch absehbar. Also pflegen kleine Systeme vornehmlich ihre Vergangenheit und ihre Gegenwart, dies jedoch nicht im Sinne einer laufenden Pflege von Traditionen, sondern eher im Sinne der Präferenz für eine Gegenwart, die variiert, was man aus der Vergangenheit schon kennt, und insofern bestätigt, dass das kleine System lebt und gedeiht. Erwartbar ist, dass in kleinen Systemen eine minimale Heterogenität unter den Bekannten, ihren Themen und Geschichten eine maximale Aufmerksamkeit erführt und damit vieles andere aus der Aufmerksamkeit verdrängt. Die minimale Heterogenität stellt sicher, dass man immer wieder auf das Bekannte zurückkommt und von dort aus immer wieder neue Ausflüge in minimale Variationen machen kann. Dies steht im Kontrast zu großen Systemen, in
5 denen niemand niemanden kennt und man daher ein Interesse an jener maximalen Heterogenität von Personen, Themen und Geschichten haben muss, das den Raum der Möglichkeiten dieses Systems abzustecken vermag. Wichtig scheint mir, dass diese maximale Aufmerksamkeit für eine minimale Heterogenität die kleinen Systeme sowohl extrem belastbar als auch leicht irritierbar macht. Sie sind belastbar, weil sie wissen, worauf sie zurückgreifen können. Und sie sind irritierbar, weil jede Abweichung unter den persönlich Bekannten, die nicht in ein bereits bekanntes Muster fällt, den Zerfall des Systems heraufbeschwört. Kleine Systeme sind demnach Systeme, die unter dem Gesichtspunkt persönlicher Bekanntheit geschlossen sind, deren Selbstreferenz sich auf diese Bekanntheit und deren Fremdreferenz sich auf all das bezieht, was diesen Bekannten in ihrer Umwelt widerfahren kann, und die jede ihrer Kommunikationen dazu nutzen, zu kontrollieren, dass die Bedingung der Bekanntheit nicht verletzt wird, umgekehrt jedoch virtuos darin sein können, zu kontrollieren, dass diese Kommunikation überraschend und lebendig bleibt. Kleine Systeme sind inhärent instabil. Sie tendieren sowohl dazu, größer zu werden, um die Themen, die sie verhandeln, nicht durch die Anzahl der Personen, auf die man sich bezieht, zu beschränken, als auch einfacher zu werden und nur noch mit Anwesenden zu rechnen. 4. Kultur auf dem Land Unter der Annahme, dass der Stadt/Land-Unterschied noch informativ ist und nicht etwa dem Verdacht unterliegt, eine überholte Semantik der Moderne zu bedienen, um dem Land einen Nachholbedarf zu unterstellen, und auch nicht von dritten Größen wie etwa der Agglomeration längst unterlaufen wird, kann man der Kulturarbeit auf dem Land empfehlen, den Kontakt zu Akteuren zu suchen, ohne folgende Fragen aus dem Blick zu verlieren: a) Wie nimmt die kulturelle Arbeit auf dem Land Rücksicht auf die Bedingung der persönlichen Bekanntschaft, unter der sich kleine Systeme ausdifferenzieren und reproduzieren?
6 b) Wie respektiert die kulturelle Arbeit auf dem Land die Dominanz von Geschichte und Gegenwart beziehungsweise welche Art von Zukunft wird auf welche Weise mit dieser Geschichte und Gegenwart rückgekoppelt? c) Wie wirbt die kulturelle Arbeit auf dem Land für die größere Gesellschaft (grid), ohne die Gruppe zu gefährden? d) Welche Varianz für das Einspeisen und Verständnis neuer Themen erlaubt das Verständnis der Gruppe auf dem Land und in der Kleinstadt? e) Und wie stellt man sicher, dass eine durch den Bezug auf Kunst ästhetisierte Kultur, die in der Stadt in der Lage ist, Nähe (zumindest: wechselseitige Toleranz) zwischen Fremden herzustellen, auf dem Land nicht eher Distanz zwischen allen Beteiligten herstellt? Wie also kann eine ästhetisierte Kultur Themen schaffen, die in die Themen eingesteuert werden kann, die vom jeweiligen kleinen System bereits bewegt werden? f) Ganz zu schweigen von der Frage, wie es der Kulturarbeit gelingen kann, sich persönlich bekannt zu machen? Findet man den Zugang, hat man die meisten Fragen bereits beantwortet und muss nur noch herausfinden, welche Antworten dies sind. Die Kultur kleiner Systeme auf dem Land ist eine Kultur, die der Prämisse jeder modernen Kultur unterliegt, nicht etwa die Identität, sondern den Vergleich und damit die Kontingenz und die Differenz zu pflegen. Kultur, so Bronislaw Malinowski, ist ein Mechanismus zur funktionalen Balance interner und externer Ansprüche an ein System. Intern sind dies Praktiken, Gewohnheiten, Institutionen und Mentalitäten, extern jegliche Art ökologischen und gesellschaftlichen Stresses. Dieser Mechanismus funktioniert nur, wenn es der Kultur gelingt, neben ihrer Identität auch ihre Kontingenz zu pflegen, ja die Fähigkeit zum Umgang mit der Kontingenz, und sei es im Medium von Konflikten, zum Merkmal ihrer Identität zu machen. Neigt man auf dem Land mehr zur Identität als zur Differenz, so ist dies unter anderem dem Umstand geschuldet, den persönlich Bekannten die Pflege einer Kontingenzkultur schuldig zu sein, die die Kontingenz in Grenzen hält. Nicht zuletzt lohnt es sich, die Kultur auf dem Land nicht nur als Kontext des Lebens auf dem Land, sondern ihrerseits im Kontext zu sehen. Der Kontext ist ein ökonomischer, politischer, pädagogischer und künstlerischer. Je reichhaltiger die wirtschaftlichen Beziehungen, politischen Kompetenzen, schulischen Einrichtungen und künstlerischen Aktivitäten auf dem Land sind, desto mehr Themen muss die Kultur balancieren. Kultur auf dem Land ist daher
7 abhängig von belastbaren Infrastrukturen und weitreichenden politischen Kompetenzen. Die Zukunft des Landes, so kann man auch sagen, entscheidet sich subsidiär, föderal und damit auch: im Bund. Literatur Ashby, W. Ross, Einführung in die Kybernetik, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1976 Baecker, Dirk, Beobachter unter sich: Eine Kulturtheorie, Berlin: Suhrkamp, 2013 Baecker, Dirk, Wozu Kultur? 2., erg. Aufl., Berlin: Kulturverlag Kadmos, 2001 Douglas, Mary, In the Active Voice, London: Routledge & Kegan Paul, 1982 Dunbar, Robin, The Human Story: A New History of Mankind s Evolution, London: Faber, 2004 Foerster, Heinz von, Wissen und Gewissen: Versuch einer Brücke, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1993 Jullien, François, Es gibt keine kulturelle Identität, Berlin: Suhrkamp, 2017 Luhmann, Niklas, Die Gesellschaft der Gesellschaft, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1997 Luhmann, Niklas, Soziale Systeme: Grundriß einer allgemeinen Theorie, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1984 Malinowski, Bronislaw, Eine wissenschaftliche Theorie der Kultur und andere Aufsätze, Frankfurt am Main: Suhrkmp, 2005 Wiener, Norbert, Cybernetics, or Control and Communication in the Animal and the Machine, 2. Aufl., Cambridge, MA: MIT Press, 1961