Versorgungsforschung für demenziell erkrankte Menschen Health Services Research for People with Dementia Symposium Bonn 11.-12. Dezember 2008 (World Conference Center Bonn) Symposium S-6: STATIONÄRE PFLEGE BEI MENSCHEN MIT DEMENZEN Determinanten der Institutionalisierung Ergebnisse populationsbasierter Kohortenstudien Abstract (aus Abstractheft): Hintergrund: Den meisten älteren Menschen ist es ein großes Bedürfnis, im häuslichen Umfeld alt zu werden. Aber gerade für Demenzkranke in fortgeschrittenen Erkrankungsstadien ist eine Pflegeheimeinweisung oft unumgänglich. Dies ist für die Betroffenen und ihre Angehörigen ein schwerer Schritt. Darüber hinaus ist die stationäre Pflege mit hohen Kosten für die Solidargemeinschaft verbunden. Schon heute ist eine Demenzerkrankung der häufigste Grund für die Aufnahme in ein Pflegeheim und 80% der Pflegeheimbewohner sind demenzkrank. Der Vortrag gibt eine systematische Übersicht zu Prädiktoren der Institutionalisierung. Darüber hinaus werden erstmals empirische Ergebnisse dazu vorgelegt, wie lange neu an Demenz Erkrankte im Durchschnitt im Privathaushalt verbleiben, und welche Faktoren mit einer vergleichsweise früheren Heimeinweisung verbunden sind. Methoden: Datengrundlage bildet die Leipziger Langzeitstudie in der Altenbevölkerung (LEILA75+), eine populationsbasierte, bevölkerungsrepräsentative Kohortenstudie zur Epidemiologie von Demenzen und leichten kognitiven Störungen in der Altenbevölkerung. Mittels einer Kaplan-Meier-Survival-Analyse wurde die Zeit bis zur Heimeinweisung bestimmt und potenziell assoziierte Faktoren mit Cox-Proportional-Hazards- Modellen analysiert. Ergebnisse: 109 neu an Demenz erkrankte und in Privathaushalten lebende Senioren wurden identifiziert. 52 (47,7%) wurden bis zum Ende der Studie ins Pflegeheim aufgenommen. Die mittlere Zeit bis zur Heimeinweisung (Median) betrugt 1.005 Tage (95% CI= 808-1.202). Die Zeit bis zur Heimeinweisung war für verwitwete und geschiedene Senioren signifikant kürzer. Fazit: Die Ergebnisse unte rstützen die Versorgungsplanung. Zudem können Risikogruppen für eine frühe Heimeinweisung identifiziert werden und damit Zielgruppe für die Entwicklung von Interventionen sein. ----------------- Steffi G. Riedel-Heller, Prof. Dr., Professur für Public Health, Klinik und Poliklinik für Psychiatrie, Universität Leipzig, 04103 Leipzig E-mail: steffi.riedel-heller@medizin.uni-leipzig.de
Prädiktoren der Institutionalisierung- Ergebnisse von Kohortenstudien Versorgungsforschung für demenziell erkrankte Menschen Bonn 11.-12.12.2008 Prof. Dr. med. Steffi G. Riedel-Heller, MPH Public Mental Health Research Unit, Klinik und Poliklinik für Psychiatrie, Universität Leipzig
Einen alten Baum verpflanzt man nicht.
Die Realität sieht anders aus... Obwohl die meisten Senioren in ihrer Wohnung und ihrem privaten Umfeld alt werden möchten, bleibt vielen Demenzkranken eine Heimeinweisung nicht erspart. Demenzen sind gegenwärtig der häufigste Grund für Heimaufnahmen. Dies ist folgenschwer für den Einzelnen und die Solidargemeinschaft. In Deutschland sind gegenwärtig 70% der Heimbewohner demenzkrank.
Die Zukunft - mehr Demenzkranke und (potenziell) weniger Pflegende Millionen Demenzkranke in Europa* 2000-2050 Personen im Erwerbsalter pro Demenzkranken 2000-2050 in Europa Millionen 18 16 14 12 10 8 6 4 2 0 7.1 16.2 2000 2050 * Bevölkerungsprognose der UN (Wancata et al. 2003) 70 60 50 40 30 20 10 0 69.4 21.1 2000 2050
Fragen Wie lange dauert es im Durchschnitt, bis ein neu an Demenz Erkrankter vom Privathaushalt in ein Heim übersiedelt? Mit welchen Faktoren ist diese Zeit bis zur Heimeinweisung assoziiert? Antworten Ergebnisse einer systematischen Literaturrecherche Empirische Ergebnisse aus der LEILA75+
Was sagt die internationale Literatur? keine Informationen zur Dauer bis zur Heimeinweisung bei Neuerkrankten (inzidenten Fällen) aus populationsbasierten Studien zahlreiche Studien zu Prädiktoren der Institutionalisierung
Einschlusskriterien Systematisches Review Stichproben mit Personen 65 Jahre und älter Prospektives Studiendesign Identifikation der Prädiktoren mit multivariaten Analysen (zur Kontrolle möglicher Störvariablen) Studien, die auf Prädiktoren von (stattgehabter) Heimeinweisung zielen
Systematische Recherche MEDLINE, Web of Science, Cochrane Library, PSYNDEXplus (509 Treffer) 416 Studien, die sich nicht mit der Prädiktion der Institutionalisierung in der Demenz befassen wurden ausgeschlossen (Screening von Abstracts) 102 Artikel wurden ausgewertet 42 Studien für weitere Analysen eingeschlossen 9 weitere Studien wurden aus den Referenzlisten der identifizierten Artikel hinzugefügt 60 Studien wurden ausgeschlossen: 25 Studien ohne stattgehabtes NHP als Outcome 18 Studien mit hochselektierten Stichproben 9 QS-Studien, keine multivariate Analysen 6 Studien mit qualitativem Design 2 Studien nicht evaluierbar (Fremdsprache) Search terms: institutionalisation OR nursing home placement OR nursing home admission AND dementia
Prädiktoren für die Institutionalisierung - conceptual framework - Predisposing variables Need variables Enabling variables
Prädiktoren für die Institutionalisierung Predisposing variables HR 0 1 2 3 4 Höheres Alter HR 1.48-2.00 Männer HR 1.23-1.64 Alleinlebend HR 1.55-1.92 Gute Beziehung HR 0.92 AA & Hispanics HR 0.40-0.60
Prädiktoren für die Institutionalisierung Need variables (1: demenzbezogen, 2: auf die/den Pflegenden bezogen) HR 0 1 2 3 4 Schwere Demenz HR 1.80 Schlechtere Kognition HR 1.80-4.59 Schlechtere Funktion HR 1.30-1.70 Aggression HR 4.17 Depression HR 1.60 Pfl. Gesundheitsprobl. HR 1.44-2.60 Pfl. Belastung HR 2.47
Prädiktoren für die Institutionalisierung Enabeling variables HR 0 1 2 3 4 Amb. Pflegedienst HR 1.34 Soziale Unterst. HR 0.67-0.99 Dysfunkt. Coping HR 2.12
Was sagt die Leipziger Langzeitstudie in der Altenbevölkerung (LEILA75+) dazu? Wie lange dauert es im Durchschnitt, bis ein neu an Demenz Erkrankter vom Privathaushalt in ein Heim übersiedelt? Mit welchen Faktoren ist diese Zeit bis zur Heimeinweisung assoziiert?
LEILA75+: Studiendesign Zufallsstichprobe,75+ n=1692 1500 Privathaushalte 192 Heimbewohner Baseline 1.FUP 2.FUP 3.FUP 4.FUP 5.FUP 1997 2000 2003 2006
LEILA75+: Interviewarten Probandeninterview v.a. Demenz Kurzes Angehörigeninterview Ausführliches Angehörigeninterview Fragile, multimorbide abgeschirmte Probanden Verstorbene Ausführliches Angehörigeninterview Ausführliches Angehörigeninterview
LEILA75+: Hauptinstrument SIDAM = Strukturiertes Interview zur Diagnose einer Demenz vom Alzheimer-Typ, einer Multiinfarktdemenz und Demenzen anderer Ätiologie nach ICD-10, DSM-III-R und DSM-IV 1) Testteil Gebiet: 1. Orientierung 2. Gedächtnis 3. Intellektuelle Fähigkeiten 4. Sprache und Rechnen 5. Konstruktion 6. Aphasie und Apraxie 2) Klinische Beurteilung 3) Informationen Dritter über psychosoziale Beeinträchtigung
LEILA75+: Stichprobe
LEILA75+: Ergebnisse I N = 109 Probanden im Studienverlauf mit inzidenter Demenz und zum Zeitpunkt der Diagnose im Privathaushalt lebend 52 (47,7 %) der Probanden zogen bis zum Ende der Studie dauerhaft in eine Heimeinrichtung um Zeit bis zum Heimübergang: Mittelwert: 1056 Tage (95 % KI = 874-1238) bzw. 2,9 Jahre (95 % KI = 2,4-3,4)
LEILA75+: Ergebnisse II Anteil der neuerkrankten Personen, die im Privathaushalt leben (n = 109) Intervall Kumulative Institutionalisierung Kumulativ zensiert 1 Anteil der Personen, die im Privathaushalt leben, % (± Standardfehler) 6 Monate 17 5 84.21 ± 3.52 1 Jahr 30 19 70.46 ± 4.58 2 Jahre 40 31 57.76 ± 5.24 3 Jahre 45 43 47.45 ± 6.03 4 Jahre 49 51 37.71 ± 6.49 5 Jahre 51 55 28.28 ± 7.55 6 Jahre 52 57 18.86 ± 9.20 1 Zensiert bezieht sich auf Personen, die verstorben sind, verweigerten, nicht gefunden werden konnten oder bis zum Ende der Studie im Privathaushalt lebten.
LEILA75+: Ergebnisse III Kumulative Wahrscheinlichkeit für das Wohnen im Privathaushalt bei inzidenter Demenz 1,0 0,8 0,6 0,4 0,2 0,0 verheiratet verwitwet/geschieden + zensiert geschieden/verwitwet: M = 964 Tage (95 % KI = 778-1150) verheiratet: M = 1522 Tage (95 % KI = 1173-1871) Cox Regression: HR = 4,50 (geschieden/verwitwet vs. verh.) 0,00 500,00 1000,00 1500,00 2000,00 2500,00 Zeit bis zum Heimeintritt (in Tagen)
LEILA75+: Zusammenfassung Senioren, die neu an einer Demenz erkranken und in Privathaushalten wohnen, werden im Durchschnitt nach 3 Jahren in Altenpflegeheimen aufgenommen. Während soziodemographische Faktoren, wie Alter, Geschlecht und Bildung dieser Personen als auch der Demenzschweregrad sich weniger stark auf die Zeit bis zur Heimeinweisung auswirkt, werden Personen, die allein leben schon deutlich früher in Heime aufgenommen.
Implikationen für Forschung & Praxis Informationen über die durchschnittliche Zeit bis zur Heimeinweisung sind für die Versorgungsplanung hilfreich. neue Daten sind aus der AgeCoDe-Studie zu erwarten AgeCoDe-Studienzentren Hamburg Düsseldorf Leipzig Baseline- Erhebung Follow-up 1- Erhebung Follow-up 2- Erhebung Follow-up 3- Erhebung Follow-up 4- Erhebung Bonn Mann -heim 2003/2004 2004/2005 2006/2007 2007/2008 2009/2010 München Populationsbasierte oder allgemeinarztbasierte Kohortenstudien liefern einen unverzichtbaren Beitrag zur Versorgungsforschung von Demenzkranken (Stichwort: Inputs der Versorgung: Bedarf, Inanspruchnahme, Determinanten, Ressourcenverbrauch)
Implikationen für Forschung & Praxis Prädiktoren für eine vorzeitige Institutionalisierung können dazu dienen, entsprechende Risikogruppen zu identifizieren und Interventionen für diesen Personenkreis zu planen, um Heimeinweisungen zu verzögern (z.b. präventive Hausbesuche). Projekt: Altern zu Hause Eine randomisierte und kontrollierte Studie zur Wirksamkeit und Kosteneffektivität präventiver Hausbesuche zur Verzögerung von Heimeinweisungen
Hypothesen: RCT Altern zu Hause Präventive Hausbesuche (PH) führen zur Verhinderung oder Verzögerung eines Heimübergangs im definiertem Zeitraum von 18 Monaten PH identifizieren frühzeitig Pflegedefizite älterer Menschen im häuslichen Umfeld Durch PH kann die durchschnittliche Anzahl der qualitätsbewerteten Lebensjahre (QUALYs) der älteren Menschen im Beobachtungszeitraum erhöht werden PH führen zu einer Reduktion der direkten Versorgungskosten
Studiendesign: RCT Altern zu Hause RCT/Interventionsstudie Stichprobe: N=320 aus durch 20 Hausarztpraxen in Leipzig und Halle 80+ Jahre sind und eine Pflegestufe I bzw. Schwierigkeiten bei der Alltagsbewältigung haben. Rekrutierung der Hausärzte Auswahl und Screening von 320 Senioren Randomisierung Untersuchungsgruppe Kontrollgruppe 1. Hausbesuch Baselineerhebung Baselineerhebung Assessment 2. Hausbesuch 3. Hausbesuch Heimeinweisung?
Einen alten Baum verpflanzt man nicht.
Vielen Dank an alle, die an den präsentierten Ergebnissen beteiligt waren: Luppa M, Luck T, Brähler E, König HH, Riedel-Heller SG. Prediction of institutionalisation in dementia. A systematic review. Dementia and Geriatric Cognitive Disordorders 2008; 26(1): 65-78. Luck T, Luppa M, Weber S, Matschinger H, Glaesmer H, König HH, Angermeyer MC, Riedel-Heller SG. Time until institutionalization in incident dementia cases - results of the Leipzig Longitudinal Study of the Aged (LEILA 75+). Neuroepidemiology. 2008;31(2):100-8. Prof. Dr. med. Steffi G. Riedel-Heller, MPH Public Mental Health Research Unit, Department of Psychiatry, University of Leipzig
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit! Prof. Dr. med. Steffi G. Riedel-Heller, MPH Public Mental Health Research Unit, Department of Psychiatry, University of Leipzig