Das Recht pflegebedürftiger Menschen auf Teilhabe von Dr. Harry Fuchs, Düsseldorf

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Transkript:

Das Recht pflegebedürftiger Menschen auf Teilhabe von Dr. Harry Fuchs, Düsseldorf Krankheit, Behinderung oder Pflegebedürftigkeit sind jeweils Abweichungen der körperlichen Funktion, der geistigen Fähigkeit oder der seelischen Gesundheit von dem für das Lebensalter typischen Zustand. Krankheit und Behinderung sind Ursache sowohl der Pflegebedürftigkeit, wie auch der Beeinträchtigung der Teilhabe am Leben in der Gesellschaft. Ist bei einem Menschen als Folge von Krankheit oder Behinderung bereits Pflegebedürftigkeit eingetreten, so ist er in der Regel auch in seiner Teilhabe am Leben in der Gesellschaft beeinträchtigt. Pflegebedürftigkeit und Teilhabebeeinträchtigung schließen sich nicht aus. Im Gegenteil, sie bedingen sich, weil sie auf gemeinsamen Ursachen basieren. Pflegebedürftigkeit ist wie auch die Behinderung das Ergebnis einer negativen Wechselwirkung: Zwischen der Person mit ihrem Gesundheits-/Pflegeproblem auf der einen Seite und den Kontextfaktoren (Umfeld, gesellschaftliche Barrieren u.a.) auf der anderen Seite. Beide Aspekte wirken sich auf ihre Funktionsfähigkeit, d.h. auf die Integrität der Funktionen oder Strukturen des Organismus, die danach noch möglichen Aktivitäten der behinderten Person mit Pflegebedarf und/oder deren Partizipation an Lebensbereichen aus 1. Seit Inkrafttreten des SGB IX am 01.07.2001 ist jemand im Rechtssinn behindert, der wegen einer solchen Abweichung, d.h. als Folge von chronischen Krankheiten, Behinderungen oder Pflegebedürftigkeit in seiner Teilhabe am Leben in der Gesellschaft beeinträchtigt ist. Pflegebedürftige Menschen sind deshalb durchweg zugleich behinderte Menschen im Sinne des 2 SGB IX; häufig sogar besonders schwer behinderte Menschen, die neben den Leistungen zur Pflege auch Anspruch auf Leistungen zur Teilhabe nach 4 SGB IX haben 2. Der Paradigmenwechsel, dass sich der behinderte Mensch im deutschen Rechtsgefüge nicht mehr vorwiegend durch Art und Schwere einer Krankheit oder Behinderung, sondern insbesondere über die durch Krankheit oder Behinderung verursachten Folgen, nämlich die Beeinträchtigung der Teilhabe des Betroffenen am Leben in der Gesellschaft definiert, ist auch fast 11 Jahre nach Inkrafttreten des SGB IX erkennbar nicht zum Selbstverständnis aller im Sozialleistungssystem Verantwortlichen und Handelnden geworden. 1. Übereinkommen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen 1 Fuchs, H. (2007f): Pflege und Rehabilitation. In: von G. Igl; G. Naegele; S. Hamdorf (Hrsg.): Reform der Pflegeversicherung - Auswirkungen auf die Pflegebedürftigen und die Pflegepersonen. Hamburg: Lit-Verlag, S. 180-192. 2 Arbeitskreis Teilhabeorientierte Pflege bei der Beauftragten der Bundesregierung für die Belange behinderter Menschen (2006): Empfehlungen für eine Teilhabeorientierte Pflege. online: http://www.behindertenbeauftragter.de/pdfs/1166001061pdf.pdf. 1

Am 26.3.2009 ist mit Zustimmung von Bundestag und Bundesrat in Deutschland das Übereinkommen der Vereinten Nationen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen (BRK) in Kraft getreten 3. Für die Konvention ist ihre doppelte Schutzfunktion charakteristisch. Sie schützt Menschen mit Behinderungen über die universalen Menschenrechte, deren Verpflichtungsseite sie aus der Perspektive von Menschen mit Behinderungen präzisiert. Gleichzeitig fordert die Konvention die konsequente Entfaltung des Diskriminierungsverbotes und erstreckt dieses auf alle menschlichen Lebensbereiche. Nach Artikel 1 Abs. 2 BRK sind Menschen mit Behinderungen diejenigen, die langfristige körperliche, seelische, geistige oder Sinnesbeeinträchtigungen haben, welche sie in Wechselwirkung mit verschiedenen Barrieren an der vollen und wirksamen und gleichberechtigten Teilhabe an der Gesellschaft hindern können. Damit besteht endgültig kein Zweifel mehr, dass pflegebedürftige oder von Pflegebedürftigkeit bedrohte Menschen zugleich behinderte oder von Behinderung bedrohte Menschen sind. Bei der Ausführung von Sozialleistungen zu beachtende Grundsätze sind nach Art 3 BRK u.a. - die Achtung der dem Menschen innewohnenden Würde, seiner individuellen Autonomie, einschließlich der Freiheit, eigene Entscheidungen zu treffen, sowie seiner Unabhängigkeit; - die Nichtdiskriminierung; - die volle und wirksame Teilhabe an der Gesellschaft und Einbeziehung in die Gesellschaft. Nach Art. 19 ist u.a. zu gewährleisten, dass Menschen mit Behinderung gleichberechtigt die Möglichkeit haben, ihren Aufenthaltsort zu wählen und zu entscheiden, wo und mit wem sie leben, und nicht verpflichtet sind, in besonderen Wohnformen zu leben. Des Weiteren ist ihnen der Zugang zu einer Reihe von gemeindenahen Unterstützungsdiensten zu Hause und in Einrichtungen einschl. der Persönlichen Assistenz zu sichern Neben dem Anspruch auf persönliche Mobilität mit größtmöglicher Unabhängigkeit (Art. 20), der Achtung der Privatsphäre (Art. 22) und der Wohnung (Art. 23) sind insbesondere das Verbot erniedrigender Behandlung (Art 15) sowie die Freiheit von Ausbeutung, Gewalt und Missbrauch (Art 16) gerade auch für pflegebedürftige Menschen von großer Bedeutung. Nach Art. 25 sind Menschen mit Behinderungen u.a. eine unentgeltliche oder erschwingliche Gesundheitsversorgung sowie Leistungen zu sichern, die auch bei älteren Menschen weitere Behinderungen möglichst gering halten oder vermeiden (Prävention). Art. 26 verpflichtet u.a. dazu, insbesondere auf dem Gebiet der Gesundheit, der Bildung und der Sozialdienste Rehabilitationsdienste und programme zu 3 CRPD; kurz: UN-Behindertenrechtskonvention oder BRK; BT-Drs.16/10808 v. 8.11.2008, BGBl. II 2008 S 14 19 2

organisieren, die Menschen mit Behinderungen in die Lage versetzen, ein Höchstmaß an Unabhängigkeit, umfassende körperliche, geistige, soziale Fähigkeiten sowie die volle Einbeziehung in alle Aspekte des Lebens und die volle Teilhabe an allen Aspekten des Lebens zu erreichen und zu bewahren. Dabei sollen diese Leistungen und Programme im frühestmöglichen Stadium einsetzen und auf einer multidisziplinären Bewertung der individuellen Bedürfnisse und Stärken beruhen sowie so gemeindenah wie möglich, auch in ländlichen Gebieten, zur Verfügung stehen. Soweit die BRK die allgemeinen Menschenrechte oder allgemeine Regeln des Völkerrechts betrifft, ist sie unmittelbar anzuwendes Recht. Dies gilt insbesondere für das Verbot der Diskriminierung behinderter Menschen (Art. 5) oder den Schutz vor jeder Form von Gewalt (Art 16). Soweit die BRK nur einfaches Bundesgesetz ohne Vorrang ist, besteht nach Art. 4 Abs. 1 S. 2 BRK die Verpflichtung, alle geeigneten Maßnahmen zur Umsetzung der in der BRK anerkannten Rechte zu ergreifen. Dass bedeutet nicht etwa, dass die BRK insoweit bis zur Verabschiedung entsprechender Gesetze keine Wirkung entfaltet. Die Umsetzungsverpflichtung des Art. 4 erstreckt sich nicht nur auf den Erlass von Gesetzen, sondern ausdrücklich auch auf Verwaltungs- und sonstige Maßnahmen. Danach ist auch bei der Ausführung des derzeit noch geltenden Rechts immer zu prüfen, ob die bestehenden Regelungen im Lichte der BRK nicht einer geänderten Auslegung und Anwendung bedürfen. Ist eine Regelung der BRK, die zunächst nur einfaches Bundesgesetz ist, hinreichend bestimmt, bedarf sie keiner legislativen Umsetzung mehr. Es handelt sich um subjektives, unmittelbar einklagbares Recht des Betroffenen aus der BRK 4. 2. Weiterentwicklung der Pflegeversicherung Dass das Elfte Sozialgesetzbuch (SGB XI) einer umfangreicheren Anpassung an die Erfordernisse der BRK bedarf, ist offenkundig. Dennoch ist dieses völkerrechtliche Erfordernis nicht Gegenstand der bisherigen Diskussion über die Weiterentwicklung des Pflegeversicherungsrechts. Dieser Beitrag kann nachfolgend nur an Hand einiger weniger Beispiele die Bedeutung der BRK für die Pflege und die sich daraus ableitende Notwendigkeit der Weiterentwicklung des SGB XI auf der Basis der BRK anreißen: Schon die Zielbestimmung des 2 SGB XI ist lediglich als Hilfestellung zur Führung eines möglichst selbständigen und selbstbestimmten Lebens, das der Würde des Menschen entspricht, gestaltet. Wünschen zur Gestaltung der Hilfe soll (nur) entsprochen werden, soweit sie angemessen sind. 4 Vergl. Peter Masuch, Präsident des Bundessozialgerichts, Die UN-Behindertenrechtskonvention anwenden vom 20.3.2012 im Diskussionsforum der Deutschen Vereinigung für Rehabilitation; www.reha-recht.de am Beispiel der Wahl des freien Aufenthaltsortes nach Art. 19 im Verhältnis zum Mehrkostenvorbehalt des 13 SGB XII 3

Dem in Art. 3 BRK enthaltenen Grundsatz der individuellen Autonomie, einschließlich der Freiheit, eigene Entscheidungen zu treffen, sowie der Unabhängigkeit, wird damit jedenfalls nicht hinreichend Rechnung getragen. Pflegebedürftigkeit wird indiziert durch gesundheitliche Beeinträchtigungen bisher immer noch vorwiegend als Hilfesituation mit großer Nähe zur medizinischen Versorgung verstanden. Dieses Synonym hat durch das SGB XI mit seiner ausdrücklich medizinisch-pflegerischen Gewichtung der Leistungsausführung ( 11 Abs. 1, Satz1, 28 Abs. 3 SGB XI) in der Praxis leider noch an Bedeutung gewonnen. Die gesamte Leistungsgewährung und ausführung beschränkt sich auf Funktionen und Ziele, die mit der Herstellung von Alltagskompetenz umschrieben werden können und als solche sowohl im Leistungsrecht (u.a. 45a SGB XI), wie auch in den untergesetzlichen Richtlinien der Pflegeversicherung oder der Begutachtungsrichtlinie Vorsorge und Rehabilitation des MDS zur Begutachtung des Bedarfs an Leistungen der Rehabilitation vor Pflege zu finden sind. Tatsächlich haben pflegebedürftige Mensche jedoch einen Anspruch auf die volle und wirksame Teilhabe an der Gesellschaft und in die Gesellschaft (Art. 1, 3, 19, 26 BRK) und dürfen nicht auf bestimmte Teilaspekte dieses umfassenden Anspruchs wie z.b. Alltagskompetenz oder Lebensqualität (vergl. 115 Abs. 1a SGB XI) reduziert werden. Es dürfte schwer fallen, die in 43a SGB XI enthaltene Leistungsbeschränkung für behinderte Menschen mit Pflegebedarf in Behinderteneinrichtungen nicht als Diskriminierung isv Art. 5 BRK zu verstehen. Dass in jüngster Zeit zunehmend Träger der Sozialhilfe die individuelle Wahl der Pflegeeinrichtung durch den Betroffenen oder seine Angehörigen durch den Mehrkostenvorbehalt des 13 SGB IX einzuschränken versuchen, kollidiert mit dem in Art. 19 BRK verankerten Recht auf freie Wahl des Aufenthaltsorts 5. Das im Verhältnis zu den Erfordernissen der BRK indiskutable Selbstverständnis des SGB XI verdeutlicht der Gesetzestext, wenn die Berücksichtigung des Bedürfnisses nach Kommunikation als Sollregelung d.h. nicht verpflichtend und auch nicht als Selbstverständnis Gegenstand der Leistungsausführung ist, allerdings nur um der Gefahr der Vereinsamung des Pflegebedürftigen entgegen zu wirken, nicht etwa als elementare Voraussetzung für jede Form der Teilhabe am Leben in der Gesellschaft. An diesen Defiziten ändert auch die Empfehlungen des von der Bundesregierung berufenen Beirats zur Überprüfung des Pflegbedürftigkeitsbegriffs nichts. Der empfohlene neue Pflegebedürftigkeitsbegriff bewegt sich konsequent im Kontext und der Philosophie des bestehenden SGB XI. Die Umstellung von der nach geltendem Recht vorzunehmenden Hilfebedarfsfeststellung auf einen Grad der Abhängigkeit von personeller Hilfe, abgeleitet aus dem Grad der Selbständigkeit bzw. dem Verlust an Selbständigkeit bei der Durchführung von Aktivitäten und /oder bei der Gestaltung von Lebensbereichen, trägt den sich aus der BRK ergebenden weitergehenden 5 Vergl. dazu Anm. 4 4

Anforderungen nicht Rechnung. Die vorgeschlagene Umstellung der Pflegebedarfsfeststellung bietet lediglich eine neue Grundlage für die Feststellung, ob die Voraussetzungen für die Gewährung von Leistungen der Pflegeversicherung erfüllt sind. Damit ist weder eine Veränderung der Grundphilosophie der Pflegeversicherung, noch eine Orientierung der Pflegeleistungen der über die medizinisch-pflegerische Versorgung hinaus in Richtung Teilhabe am Leben in der Gesellschaft verbunden. Abgesehen davon ist das vorgeschlagene Instrument zur Pflegebedarfsfeststellung auch nicht geeignet, Art und Umfang der Beeinträchtigungen der Teilhabe am Leben in der Gesellschaft zu erheben und in den Kategorien der ICF 6 darzustellen, wie es 10 SGB IX zur Feststellung des Bedarfs an Teilhabeleistungen erfordert. Schon der Vergleich der Inhalte der als bloßes Screening gedachten ICF-Checkliste 7 der WHO mit den Inhalten des künftigen Manuals zur Feststellung der Pflegebedürftigkeit zeigt die Unterschiede und jeweilige Eignung der Instrumente auf. 3. Teilhabe erfordert interdisziplinäre Leistungen sowie abgestimmtes und vernetztes Handeln der Akteure! Die Enquete-Kommission Situation und Zukunft der Pflege in Nordrhein-Westfalen 8 zitiert in ihrem Schlussbericht Ruth Schröck, wonach Pflege eine helfende und unterstützende Tat (ist), die primär darin besteht, dem Pflegebedürftigen bei seinen alltäglichen Aufgaben, die ein Erwachsener innerhalb seiner Kulturgesellschaft normalerweise selbständig und unabhängig und in kompetenter Weise erfüllen kann, beizustehen. Neben der Hilfe bei den Aktivitäten des täglichen Lebens sei es Aufgabe der Pflege, ihm in entsprechender Weise beizustehen, zum Beispiel ihm bei der Aufrechterhaltung seiner menschlichen Beziehungen oder deren Wiederherstellung, dem Erhalten von Eindrücken, um aktiv zu bleiben, arbeiten zu können, sich zu entspannen und zu erholen, auch bei der Ausübung seiner religiösen Neigungen, beim Lernen und Entdecken, bei der Wahrung seiner sozialen Rolle und seiner Verpflichtung gegenüber seiner Familie, Freunden und der Gemeinschaft zu helfen. Obwohl trotz dieser differenzierten Auflistung von Aktivitäten des täglichen Lebens unverändert nur ein Teil der für die volle und wirksame Teilhabe an der Gesellschaft erforderlichen Aktivitäten erfasst ist, soll damit offenkundig der Pflege die Aufgabe zugewiesen werden, die umfassende Teilhabe pflegebedürftiger Menschen am Leben in der Gesellschaft sicher zu stellen. Tatsächlich kann die Sicherung der gleichberechtigten Teilhabe pflegebedürftiger und behinderter Menschen am Leben in der Gesellschaft jedoch nicht allein von der Pflege bewältigt werden. Sie erfordert die Beteiligung von Akteuren ganz 6 Internationale Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit der Weltgesundheitsorganisation (WHO) 7 ICF-Checkliste, Weltgesundheitsorganisation, 2003, deutsche Fassung 2005 www.dimdi.de - 8 Landtag Nordrhein-Westfalen 2005 5

unterschiedlicher Profession und Kompetenz sowie Hilfen zu ganz unterschiedlichen Lebensbereichen und Leistungen mit unterschiedlicher Zielsetzung und Finanzierung aus dem gesamten Sozialrecht. Es handelt sich deshalb um eine multi- und interdisziplinäre Aufgabenstellung, die von den beteiligten Akteuren in gemeinsamer Verantwortung wahrzunehmen ist. Sozialrechtlich gesehen reduziert sich der Anspruch auf soziale Hilfen und Leistungen zur Teilhabe am Leben in der Gesellschaft für pflegebedürftige und/oder behinderte Menschen nicht auf die Leistungen zur Pflege (SGB XI, SGB XII, u.a.), sondern kann inter- und multidisziplinär durch eine Vielzahl von Gesetzen des Sozialrechts (SGB V, VII, VIII, IX, XI und XII; BVG u.a.) weit über die Leistungen des SGB XI hinaus begründet sein, je nachdem, welche Art und Ausprägung der Teilhabebeeinträchtigung den Hilfe-/Leistungsbedarf verursacht (z.b. Beeinträchtigung der körperlichen und seelischen Integrität SGB V, VII, BVG u. SGB XI; Beeinträchtigung der sozialen Integrität SGB VII, IX und XII, BVG; Beeinträchtigung der Aktivitäten und Leistungen SGB VII, VIII, IX, XI und XII, BVG usw.). Die Vermeidung, Minderung oder Aufhebung von Pflegebedürftigkeit wird im SGB IX als eigenständiger Auftrag der Rehabilitationsträger genannt, dem ein verbindlicher Vorrang zukommt. Dazu dienen nicht nur die Leistungen zur medizinischen Rehabilitation einschließlich der auf die Teilhabe am Leben in der Gesellschaft auszurichtenden Heil- und Hilfsmittel, sondern auch die spezifischen Leistungen zur Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft wie z.b. die Hilfen zum Besuch von Veranstaltungen oder Einrichtungen, die der Geselligkeit, der Unterhaltung oder kulturellen Zwecken dienen ( 55 ff SGB IX). Politik, Sozialleistungsträger und alle übrigen Akteure dürfen deshalb ihre Beschäftigung mit der Lebenssituation von pflegebedürftigen, behinderten und chronisch kranken Menschen und die Weiterentwicklung der pflegerischen Versorgung behinderter Menschen nicht auf die Aspekte der medizinischpflegerischen Versorgung beschränken. Sie müssen aus ethischen, völker, verfassungs- und sozialrechtlichen Gründen die Teilhabe pflegebedürftiger Menschen am Leben in der Gesellschaft als umfassende, inter- und multidisziplinäre Aufgabe wahrnehmen. Dies erfordert, die sich aus der Selbstbestimmung und Teilhabe dieser Menschen ergebenden Anforderungen gleichgewichtig in das Handeln, insbesondere jedoch die Organisation und Zusammensetzung der Versorgung einzubeziehen. Dies ist nicht nur eine Aufgabe im Sinne der Umsetzung der BRK in nationales Recht, sondern muss Gegenstand jedweder gesetzgeberischen Weiterentwicklung des Sozialrechts, so auch der Reform oder Neuorganisation der Pflegeversicherung sein. Bisher ist dazu seitens des zuständigen Bundesministeriums trotz entsprechender Forderungen der Bundesbehindertenbeauftragten, von Teilen des 6

Parlaments 9 sowie der Betroffenenverbände und der Fachwelt keine Bereitschaft zu erkennen. Mangels dieser Klarstellungen müssen die Berechtigten ihre Rechte aus der BRK bis auf weiteres mühsam auf dem Rechtswege durchsetzen. 9 Vgl. Fragestellungen der Fraktion DIE GRUENEN und Antworten der Sachverständigen dazu im Rahmen der öffentlichen Anhörung zum PfWG, Protokoll Nr. 16/14 über die 72. Sitzung des Ausschuss für Gesundheit des Deutschen Bundestages am 27.1.08 7