Die Auswirkungen des zweiten Pflegestärkungsgesetzes für die Pflegepraxis Prof. Dr. Andreas Büscher Pflegefachtag Osnabrück Osnabrück, 05.04.2016
Übersicht Änderungen und Impulse durch das PSG II Der neue Begriff der Pflegebedürftigkeit Konsequenzen aus dem neuen Begriff der Pflegebedürftigkeit und Anwendungsoptionen
Neuerungen und Impulse durch das PSG II
Neuerungen durch das PSG II ab 2016 Beratung (feste Ansprechpartner, bessere Koordination vor Ort, Qualitätsmaßstäbe, Beratung explizit auch für Angehörige) Qualitätsmessung, -sicherung und -darstellung Zeitliche Entlastungen durch vereinfachte Pflegedokumentation darf nicht zu Lasten des Personals gehen Impulse für Verbesserung der ärztlichen Versorgung, Zugang zur Rehabilitation und primärpräventive Leistungen
Neuerungen durch das PSG II ab 2017 Einführung neuer Begriff der Pflegebedürftigkeit Höhere Leistungen Ausweitung von ambulanten Leistungen Einheitlicher pflegebedingter Eigenanteil stationär Überleitung in die neuen Pflegegrade Verbesserung sozialer Absicherung für Angehörige Entwicklung von Verfahren zur Personalbemessung Beitragssatzsteigerung auf 2,55 bzw. 2,8%
Der jetzige Begriff der Pflegebedürftigkeit im SGB XI und seine Probleme
Pflegebedürftigkeit seit 1995 Zeitaufwand und Häufigkeit für gewöhnliche und regelmäßige Verrichtungen im Ablauf des täglichen Lebens Voraussichtlich für mindestens sechs Monate Verrichtungen in den Bereichen Körperpflege, Ernährung, Mobilität und hauswirtschaftliche Versorgung
Kritik am Pflegebedürftigkeitsbegriff 1. Verkürztes und somatisch verengtes Verständnis von Pflegebedürftigkeit: Hilfebedarf bei Alltagsverrichtungen 1. Pflegezeit als Maßstab ( Laienpflegezeit )
Auswirkungen des Begriffs der Pflegebedürftigkeit Pflegebedürftigkeitsbegriff hat gesellschaftliches und sozialpolitisches Verständnis von (professioneller) Pflege geprägt Verrichtungsbezug pflegerischer Leistungen realitätsbildend z.b. in Leistungskomplexen für die ambulante Pflege Präventive, rehabilitative, beratende und edukative sowie prozesssteuernde Interventionen darin nicht erkennbar Gefahr der Diskrepanz zwischen Bedarfslagen und vorhandenem pflegerischen Versorgungsangebot
Pflegebedürftigkeit und Pflegebedarf Gesundheitliches Problem Pflegebedürftigkeit Fähigkeitseinbußen, Belastungen, Überforderung Pflegebedarf Notwendige Unterstützung
4. Relevante Auswirkungen: Autonomieverlust und Abhängigkeit von personeller Hilfe Elemente eines Pflegebedürftigkeitsbegriffs 1. Ursache/Auslöser: Fehlende personale Ressourcen zur selbständigen Kompensation bzw. Bewältigung von Schädigungen, funktionalen Einbußen, Belastungen und Anforderungen 2. Frage der Dauerhaftigkeit: Dauerhafter oder vorübergehender Zustand 3. Betroffene Aspekte des Lebens: Aktivitäten (einschl. Krankheitsbewältigung), Gestaltung von Lebensbereichen, soziale Teilhabe
Neufassung des 14 SGB XI Pflegebedürftig im Sinne dieses Buches sind Personen, die gesundheitlich bedingte Beeinträchtigungen der Selbständigkeit oder der Fähigkeiten aufweisen und deshalb der Hilfe durch andere bedürfen. Es muss sich um Personen handeln, die körperliche, kognitive oder psychische Beeinträchtigungen oder gesundheitlich bedingte Belastungen oder Anforderungen nicht selbständig kompensieren oder bewältigen können. Die Pflegebedürftigkeit muss auf Dauer, voraussichtlich für mindestens sechs Monate, und mit mindestens der in 15 festgelegten Schwere bestehen.
Das Neue Begutachtungsassessment (NBA) Zielsetzung: Faire Einschätzung individueller Bedarfslagen mit dem Zweck einer leistungsrechtlichen Zuteilung im Rahmen der Pflegeversicherung Grundlage für mehr als 1 Mio. Begutachtungen der Pflegebedürftigkeit pro Jahr durch die MDK Maßstab: Selbständigkeit statt Zeitaufwand (Abhängigkeit von Personenhilfe) Überwindung der Begrenzung auf einige Alltagsaktivitäten Erfassung präventionsrelevanter Risiken Systematische Einschätzung des Bedarfs an medizinischer Rehabilitation
Neuer Begriff der Pflegebedürftigkeit Pflegebedürftigkeit ist Beeinträchtigung der Selbständigkeit und Angewiesensein auf personelle Hilfe in den Bereichen: Mobilität, Kognitive und kommunikative Fähigkeiten, Verhaltensweisen und psychische Problemlagen, Selbstversorgung, krankheitsbedingte Anforderungen und Belastungen, Gestaltung des Alltagslebens und soziale Kontakte und wird in seinen Ausprägungen auf einer Skala zwischen 0 und 100 ausgedrückt.
Pflegebedürftigkeit: Gewichtung der Bereiche bei der Ermittlung eines Punktwertes 1. Mobilität 10 2./3. Kognitiver Status und Verhaltensprobleme 15 4. Selbstversorgung (Alltagsverrichtungen) 40 5. Umgang mit krankheits-/therapiebed. Anforderungen 20 6. Gestaltung des Alltagslebens und soziale Kontakte 15
Fünf Stufen der Pflegebedürftigkeit ( Pflegegrade ) P1: geringe... P2: erhebliche... P3: schwere... P4: schwerste Beeinträchtigung der Selbständigkeit P5: schwerste Beeinträchtigung mit besonderen Anforderungen P1 P2 P3 P4 P5 0 12,5 27 47,5 70 90 100
Konsequenzen aus dem neuen Begriff der Pflegebedürftigkeit und Auswirkungen des PSG II auf die Pflegepraxis
Notwendigkeit einer Neudefinition von Pflegebedürftigkeit Charakterisierung der Pflegebedürftigen Einblick in Intensität und Ausmaß von Pflege Grundlage für faire leistungsrechtliche Zuteilung Charakterisierung des beruflichen Tätigkeitsfeldes Grundlage für Fragen der Personalbemessung Grundlage für Fragen der Qualitätssicherung und entwicklung Ansatzpunkte für Konzept- und Interventionsentwicklung
Qualitätsmessung, -sicherung und -darstellung Ende der PTV in der bestehenden Form Schiedsstelle wird zu Qualitätsausschuss Einrichtung einer unabhängigen qualifizierten Geschäftsstelle 31.03.2017: Entwicklung der Instrumente für die Prüfung der Qualität der Leistungen in der stationären Pflege Berücksichtigung der Ergebnisse aus dem Projekt Ergebnisqualität von BMG und BMFSFJ sowie von Prozess- und Strukturqualität 31.03.2018: Entwicklung und Pilotierung der Instrumente für die Leistungen der ambulanten Pflege
Qualitätsmessung, -sicherung und -darstellung 31.03.2017: Datenerhebungsinstrument Entwicklung von Modulen für die Befragung von Pflegebedürftigen Entwicklung eines Konzepts für eine Qualitätssicherung in neuen Wohnformen
Pflegedokumentation und Strukturmodell Anlehnung an die Vorschläge zum neuen Begriff der Pflegebedürftigkeit und das Neue Begutachtungsassessment Einbeziehung von Erfahrungen aus der Arbeit mit Expertenstandards Strukturierte Informationssammlung zu Gewohnheiten, Fähigkeiten, Pflege- und Hilfebeschreibung aus Sicht des pflegebedürftigen Menschen (bzw. der Angehörigen) Professioneller Filter: Beratung zum Pflege- /Hilfebedarf/Risikoeinschätzung aus fachlicher Sicht Zeitliche Entlastungen durch vereinfachte Pflegedokumentation darf nicht zu Lasten des Personals gehen
Leistungen der Pflegeversicherung (Quelle: BMG-Broschüre PSG II)
Ausweitung von ambulanten Leistungen Neuer Pflegebedürftigkeitsbegriff begründet umfassenderes Pflegeverständnis (und entsprechend umfassendere Leistungen) Erwartung eines erweiterten Leistungsspektrums Interventionen und Unterstützung bei kognitiven und psychischen Problemlagen Förderung des Selbstmanagements bei chronischer Krankheit (edukative Ansätze) Beratungsfunktionen zur Steuerung von Pflegeverläufen und Pflegearrangements Alltagsbezogene Unterstützung Notwendigkeit der Vereinbarung durch Leistungskomplexe, Zeitvergütung oder Budgets
Überleitung und Personalbemessung Zum 01.01.2017 werden alle Pflegebedürftigen aus den Pflegestufen I, II und III in die neuen Pflegegrade 2, 3 und 4 übergeleitet Großzügige Regelung Erwartung einer mittelfristigen Veränderung der Pflegegradverteilung Notwendigkeit einer Übergangsregelung für Pflegesätze und Personalbemessung Bis 2020 Erarbeitung eines wissenschaftlich gestützten Personalbemessungssystems
Fazit Der neue Begriff der Pflegebedürftigkeit schafft wieder Ordnung im Flickenteppich Pflegeversicherung Die gesetzliche Neuregelung geht mit zahlreichen geplanten Veränderungen einher andere mögliche Effekte bedürfen der Vereinbarung der zuständigen Partner Es wird keine Automatismen geben Es ändert sich der Begriff der Pflegebedürftigkeit, die Menschen, die der Pflege bedürfen, bleiben unverändert Das soziale Sicherungssystem der Pflegeversicherung kann durch die Veränderung seiner Intention näher gebracht werden
Prof. Dr. Andreas Büscher Hochschule Osnabrück Fachbereich Wirtschafts- und Sozialwissenschaften Deutsches Netzwerk für Qualitätsentwicklung in der Pflege (DNQP) Postfach 1940 49009 Osnabrück E-Mail: A.Buescher@hs-osnabrueck.de