ANGEKOMMEN? FLÜCHTLINGSFAMILIEN IN DEN FRÜHEN HILFEN Fachtagung, 7. Juni 2016 Münster Kinder und Familien auf der Flucht Aufgaben und Herausforderungen für die Frühen Hilfen Nerea González Méndez de Vigo Freie Referentin für Jugendhilfe- und Flüchtlingsrecht
Gliederung Rechtlicher Zugang zu den Leistungssystemen Über- und zwischenstaatliches Recht Rechtliche Einordnung geflüchtet Zugang: SchKG, KKG, SGB IX, Gesetz über den öffentlichen Gesundheitsdienst, SGB VIII Rechtsansprüche nach AsylbLG Tatsächlicher Zugang und Hindernisse Was brauchen geflüchtete Familien mit Kleinkindern, um in den Frühen Hilfen anzukommen?
Taugt das System der Frühen Hilfen für geflüchtete Familien? Rechtlicher Zugang Wie gestaltet sich der rechtliche Zugang zu den einzelnen Leistungssystemen? Tatsächlicher Zugang Gilt die Erkenntnis, dass die Verschränkung von SGB VIII und Gesundheitshilfe in den Frühen Hilfen als Türöffner eine herausragende Funktion einnimmt, da Eltern rund um die Geburt und in den ersten Lebensjahren ihrer Kinder regelhafter in Kontakt mit der Gesundheitshilfe stehen, familienfördernde und -unterstützende Hilfen jedoch von Gesetzes wegen schwerpunktmäßig durch die Kinder- und Jugendhilfe angeboten werden, auch für geflüchtete Familien?
Rechtlicher Zugang
Zwischen- und überstaatliche Verpflichtungen Insbesondere: UN Kinderrechtskonvention (Art. 2 Abs. I, Art. 3, Art. 22, Art. 24) Haager Kinderschutzübereinkommen (KSÜ) Haager Minderjährigenschutzübereinkommen (MSA) Brüssel IIa-VO Art. 24 Europäische Grundrechtscharta Art. 8 Europäische Menschenrechtskonvention
Rechtliche Einordnung geflüchtet möglicherweise Asylbewerber/in Flüchtling ungleich Flüchtling ein anerkannter Flüchtling hat in DE dieselben sozialrechtlichen Ansprüche, wie ein deutscher Staatsangehöriger Geflüchtete Personen i.d.r. Personen, die vor Krieg, Verfolgung o.ä. fliehen. Diese Personen können nur illegal in Europa/Deutschland einreisen, da es kein Visum zwecks Asylnachsuche gibt Nach Grenzübertritt und Asylnachsuche werden sie nach der Quote des Königsteiner Schlüssels auf die Länder verteilt und der für sie zuständigen Erstaufnahmeeinrichtung zugewiesen -> Asylantragstellung Max. sechsmonatige Pflicht in Erstaufnahmeeinrichtung zu leben, es sei denn -> sichere Herkunftsstaaten (Anl. II AsylG)-> dann bis zur Entscheidung über Asylantrag/Ausreise Während der ersten 3 Monate -> räumliche Beschränkung, es sei denn sie kommen aus sicherem Herkunftsland -> dann bis zur Entscheidung über Asylantrag/ Ausreise danach, i.d.r. landesinterne Verteilung und i.d.r. sog. Wohnauflage -> nur Pflicht der Wohnsitznahme an einem bestimmen Ort (in NRW GU oder bei Familien dezentral) Der Aufenthalt von Asylbewerber/inne/n in Deutschland ist bis zum rechtskräftigen Abschluss des Asylverfahrens rechtmäßig Asylbewerber/innen erhalten eine sog. Aufenthaltsgestattung/BüMA Sie sind leistungsberechtigt nach dem Asylbewerberleistungsgesetz (AsylbLG)
Rechtliche Einordnung geflüchtet möglicherweise Duldung Inhaber/innen einer Duldung sind Personen, die vollziehbar ausreisepflichtig sind. Sie habe i.d.r. einen Aufenthaltstitel beantragt, dieser wurde jedoch abgelehnt und sie wurden zur Ausreise aufgefordert. Der Durchsetzung der Ausreisepflicht stehen aber tatsächliche oder rechtliche Hindernisse entgegen Dann wird der Aufenthalt geduldet, d.h. die Abschiebung ausgesetzt. Aktuell werden oftmals Duldungen bis zur förmlichen Asylantragstellung erteilt Räumliche Beschränkung für 3 Monate, danach nur, falls angeordnet Wohnauflage, wenn Lebensunterhalt nicht gesichert ist Duldungsinhaber/innen sind leistungsberechtigt nach dem Asylbewerberleistungsgesetz
Leistungssysteme der Frühen Hilfen SchKG (Schwangerschafts[konflikt]beratungG: Sexualaufklärung, Verhütung, Familienplanung, Leistungen Schwangerschaftsabbruch Gesetz zur Kooperation und Information im Kinderschutz (KKG) Flankierende Normen zum Kinderschutz Willkommensbesuche: 2 KKG Soll-Aufgabe der Kommunen - Information von (werdenden) Eltern über Leistungsangebote im örtlichen Einzugsgebiet ( 2 Abs. 1 KKG) - Angebot eines persönlichen Gesprächs SGB IX Rehabilitation und Teilhabe behinderter Menschen 30 SGB IX nur Konkretisierung SGB VIII Leistungen und die Erfüllung anderer Aufgaben nach dem SGB VIII (Beratung für Schwangere, werdende Mütter und Väter, Inobhutnahme, erzieherische Hilfen) Gesetz über den öffentlichen Gesundheitsdienst (Ländersache) Prävention, Gesundheitsförderung, Gesundheitshilfe und Schutz der Gesundheit für Kinder und Jugendliche/Erwachsene
Keine Anknüpfung an den Aufenthaltsstatus Schwangerschaftskonfliktberatungsgesetz Beratung als niedrigschwellige Leistung Jede Frau, jeder Mann [ ] Leistungsberechtigte nach dem AsylbLG ausdrücklich als Berechtigte der Leistungen bei Schwangerschaftsabbruch vorgesehen ( 19 SchKG) Gesetz zur Kooperation und Information im Kinderschutz Keine Einschränkungen im persönlichen Anwendungsbereich Gesetz über den öffentlichen Gesundheitsdienst des Landes Nordrhein-Westfalen (ÖGDG NRW) Keine Einschränkungen im persönlichen Anwendungsbereich Die untere Gesundheitsbehörde berät und unterstützt Personen, die wegen ihres körperlichen, geistigen oder seelischen Zustandes und aufgrund sozialer Umstände besonderer gesundheitlicher Fürsorge bedürfen (Gesundheitshilfe). Diese Gesundheitshilfe ist darauf gerichtet, gesundheitliche Beeinträchtigungen und Schäden zu vermeiden, zu überwinden, zu bessern und zu lindern sowie Verschlimmerungen zu verhüten. Sie soll die betroffenen Personen befähigen, entsprechend ihren Möglichkeiten möglichst selbständig in der Gesellschaft zu leben. Bei Bedarf ist auch aufsuchende Beratung und Hilfe zu leisten. ( 14)
Kinder- und Jugendhilferecht - SGB VIII Personeller Anwendungsbereich: 6 SGB VIII Abs. 1 Leistungen nach diesem Buch werden jungen Menschen, Müttern, Vätern und Personensorgeberechtigten von Kindern und Jugendlichen gewährt, die ihren tatsächlichen Aufenthalt im Inland haben. Für die Erfüllung anderer Aufgaben gilt Satz 1 entsprechend. [ ] Abs. 2 [ ]Ausländer können Leistungen nach diesem Buch nur beanspruchen, wenn sie rechtmäßig oder auf Grund einer ausländerrechtlichen Duldung ihren gewöhnlichen Aufenthalt im Inland haben. Absatz 1 Satz 2 bleibt unberührt. Andere Aufgaben, wie Inobhutnahme o.ä. knüpfen nur an den tatsächlichen Aufenthalt Abs. 4 [ ] Regelungen des über- und zwischenstaatlichen Rechts bleiben unberührt. Regelungen des über- und zwischenstaatlichen Rechts gehen vor!
Gewöhnlicher, rechtmäßiger oder geduldeter Aufenthalt Gewöhnlicher Aufenthalt (ga) 30 Abs. 3 S. 2 SGB I Den ga hat jemand dort, wo er sich unter Umständen aufhält, die erkennen lassen, dass er an diesem Ort oder in diesem Gebiet nicht nur vorübergehend verweilt Zukunftsoffener Verbleib bis auf Weiteres (BVerwG) Keine Mindestaufenthaltszeit erforderlich Dann nicht, wenn jemand in Deutschland lediglich zu Besuch ist Rechtmäßiger Aufenthalt Bleiberecht (Aufenthaltstitel), Aufenthaltsgestattung (Begriffe in Flüchtlingskinder und ihre Förderung in Tageseinrichtungen und Kindertagespflege s. Anhang) Duldung Ausreisepflicht vollziehbar aber aus tatsächlichen oder rechtlichen Gründen nicht möglich rechtswidriger aber geduldeter Aufenthalt Fazit: Ausgeschlossen sind danach lediglich Personen, die sich illegal im Bundesgebiet aufhalten
. Regelungen des über- und zwischenstaatlichen Rechts gehen vor Für Leistungen an Kinder und Jugendliche (also für alle unter 18- Jährige), gilt folgender Merkposten: Für individuelle Maßnahmen, die im Interesse des Kindes erforderlich sind (alle Leistungen nach SGB VIII), ist der Anwendungsbereich des SGB VIII unabhängig eines besonderen Aufenthaltsstatus grds. eröffnet
Fazit Im Hinblick auf Leistungen der Frühen Hilfen, die am System des Kinder- und Jugendhilferechts angedockt sind, ist das SGB VIII für Personen, die einen Asylantrag gestellt haben oder Inhaber/innen einer Duldung sind, offen. Soweit die Leistungen Schutzmaßnahmen für Kinder betreffen (Förderung in Kindertagespflege und Tageseinrichtungen), ist der Anwendungsbereich immer unabhängig vom Aufenthaltsstatus eröffnet Bei anderen Aufgaben, wie bspw. der Inobhutnahme ist ohnehin nur der tatsächliche Aufenthalt im Bundesgebiet maßgeblich
Rechtsanspruch Schwangerschaft, sozialrechtliche Teilhabe
Asylbewerberleistungsgesetz (AsylbLG) Abgesenktes Leistungsgesetz, das anderen Sozialleistungen i.d.r. vorgeht Stellt Unterbringung, notwendigen Bedarf und gesundheitliche Versorgung sicher (Sach- und Geldleistungen) Leistungsberechtigte nach dem Asylbewerberleistungsgesetz sind vom SGB II und XII ausgenommen Keine Krankenversicherung nach SGB V NRW: Elektronische Gesundheitskarte ab Verlassen der Erstaufnahmeeinrichtung Problem: nur Rahmenvorgaben und Personen, die noch in der Erstaufnahmeeinrichtung leben, sind ausgenommen - Personen aus sicheren Herkunftsländern also immer (?)
Gesundheitliche Versorgung nach AsylbLG 4 Gesundheitsversorgung bei akuten Erkrankungen und Schmerzzuständen Notfallbehandlung Vorsorgeuntersuchungen und Schutzimpfungen Mehrbedarfe 6 AsylbLG: Sonstige Leistungen können insbesondere gewährt werden, wenn sie im Einzelfall zur Sicherung des Lebensunterhalts oder der Gesundheit unerlässlich, zur Deckung besonderer Bedürfnisse von Kindern geboten oder zur Erfüllung einer verwaltungsrechtlichen Mitwirkungspflicht erforderlich sind. Die Leistungen sind als Sachleistungen, bei Vorliegen besonderer Umstände als Geldleistung zu gewähren. Erstausstattung Baby, umfassende psychologische Unterstützung (Fahrtkosten, Dolmetscherkosten), Frühforderung (?), Eingliederungshilfe P: gut begründeter Antrag erforderlich
Rechtsanspruch während der Schwangerschaft 4 AsylbLG Rechtsanspruch auf umfängliche Versorgung während der Schwangerschaft: [ ] Werdenden Müttern und Wöchnerinnen sind ärztliche und pflegerische Hilfe und Betreuung, Hebammenhilfe, Arznei-, Verband- und Heilmittel zu gewähren. Die zuständige Behörde [ ] stellt auch sicher, dass den Leistungsberechtigten frühzeitig eine Vervollständigung ihres Impfschutzes angeboten wird. Hiervon u.a umfasst Maßnahmen zur Feststellung der Schwangerschaft, Untersuchungen zur Vor- und Nachsorge, Hilfen während der Schwangerschaft, Betreuung und Begleitung durch Hebammen. Der Leistungsanspruch erstreckt sich auf den Zeitraum, der mit der Schwangerschaft beginnt und nach der Geburt endet, umfasst aber noch die Nachsorge
Leistungsanspruch nach 15 Monaten Nach 15 Monaten nicht rechtsmissbräuchlichen gestatteten Aufenthalts idr Anspruch auf Leistungen in Höhe und Umfang des SGB XII Gilt idr nicht für Duldungsinhaber/innen Kinder müssen diese Voraussetzungen nicht in eigener Person erfüllen, soweit die Eltern, mit denen sie zusammenleben müssen, diese erfüllen Medizinische Leistungen werden von der Krankenkasse geleistet fingierte gesetzliche Krankenversicherung der Sachleistungsanspruch gegen die zuständige Landesbehörde bleibt unberührt Betroffener müssen durch Erklärung unverzüglich eine Kassenwahl treffen Volles Leistungsspektrum
Der tatsächliche Zugang und seine Hindernisse
Ausländerrechtliche Einschränkungen Faktischer Zugang zu Regelangeboten/Vernetzung/Information wird erschwert durch: Räumliche Beschränkungen Pflicht in Erstaufnahmeeinrichtungen bzw. Gemeinschaftsunterkünften zu leben Eingeschränkte Möglichkeit der Aufnahme einer Erwerbstätigkeit Anschluss an die Gesellschaft [Allgemein: Fehlende Information, Sprache, Unkenntnis des Systems]
Rechte müssen geltend gemacht werden Sprachbarriere Kinder übernehmen Rolle der Eltern Hilflosigkeit der Eltern Verlust der starken Elternposition? fehlende Kenntnis des deutschen Systems, Unverständnis (bspw. Willkommensbesuche) Unsicherer Aufenthaltsstatus Angst (negativ) aufzufallen Schlechte Erfahrungen mit Behörden (Heimatstaat Verfolgung, Fluchtweg) Misstrauen Mittellosigkeit
Schwierigkeiten auf Seiten der Fachkräfte Sprache (es ist immer ein Dolmetscher dabei/es ist nie ein Dolmetscher dabei) Rollenunklarheit Unsicherheit in rechtlicher Hinsicht Wer hat das Sorgerecht? Fehlende Kenntnis im Asyl- und Ausländerrecht Welche Rechte gibt es überhaupt? Müssen diese geltend gemacht werden? Stehen existierende Rechte und Hilfen auch geflüchteten Familien überhaupt umfänglich zu? Limitierende Vorgaben aus Leitungsebene Idee, dass keine nachhaltige Planung möglich ist (?) Setting (Gewalt in Erstaufnahmeeinrichtungen, Privatsphäre)
Eingeschränkter Zugang zum Gesundheitssystem bei Unterbringung in Erstaufnahmeeinrichtung Eingeschränktes Leistungsspektrum Notfallversorgung Faktischer Zugang: Arzt erwirbt einen eigenen Anspruch, nur soweit der Leistungsträger eine Kostenzusage gemacht hat, es sei denn Notfall ( 6a AsylbLG) Strittig ist, ob der Berechtigte vor Inanspruchnahme von Leistungen die Genehmigung des Leistungsträgers einholen muss in der Praxis und aus Kostengründen idr ja (Krankenschein) Problem der Vergütung der Hebammen in Dortmund (?) Fahrtkosten zum Arzt werden darüber hinaus nur übernommen, wenn keine anderen Transportmöglichkeiten zur Verfügung stehen bzw. dem Betroffenen zugemutet werden kann, zu Fuß zu gehen Im Ergebnis entscheidet damit eine Person ohne medizinische Ausbildung (am WE auch das Security Personal) darüber, ob das Aufsuchen eines Arztes erforderlich ist, welche konkrete (ärztliche) Behandlung im Einzelfall erbracht wird und ob ein Notfall vorliegt
Was brauchen geflüchtete Familien mit Säuglingen und Kleinkindern, um in den Frühen Hilfen anzukommen? Einen den besonderen Umständen angepassten niedrigschwelligen Zugang Aufsuchende sozialraumorientierte Angebote, Netzwerke o.ä. Beratung und Aufklärung über die ihnen zustehenden Leistungen - Empowerment Unterstützung bei der Geltendmachung von Rechten Aufgeklärte und informierte Behörden/Fachkräfte Empathie und Offenheit An besondere Bedarfe angepasste Leistungen (Traumatisierung) Dolmetscher, Sprachregelungen Erweiterung der Vernetzung Sozialämter als Behörden des AsylbLG
Literatur Meysen/Beckmann/González Méndez de Vigo, Flüchtlingskinder und ihre Förderung in Tageseinrichtungen und Kindertagespflege, 2016, abrufbar über http://www.dji.de/fileadmin/user_upload/bibs2016/meysen_et_al_e xpertise_kitazugang_fluechtlingskinder_2016.pdf Meysen/González Méndez de Vigo, Kinder auf der Flucht, DJI impulse 3/2015, S. 21-24. UNICEF/Berthold, IN ERSTER LINIE KINDER - Flüchtlingskinder in Deutschland, 2014, abrufbar über www.unicef.de Classen, Sozialleistungen für MigrantInnen und Flüchtlinge Handbuch für die Praxis, 2016
Auf Wiedersehen für die Aufmerksamkeit!!!