Evaluation von Verletzungen der Wirbelsäule mit primärer standardisierter Polytrauma-Spiral-CT

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Transkript:

Aus dem Institut für Diagnostische Radiologie und Neuroradiologie (Direktor: Prof. Dr. med. N. Hosten) der Ernst Moritz Arndt Universität Greifswald Evaluation von Verletzungen der Wirbelsäule mit primärer standardisierter Polytrauma-Spiral-CT INAUGURAL-DISSERTATION zur Erlangung des akademischen Grades Doktor der Medizin (Dr. med.) der Medizinischen Fakultät der Ernst-Moritz-Arndt-Universität Greifswald 2008 vorgelegt von: Michael Boewer geb. am: 24.01.1971 in: Berlin

2 Dekan: Prof. Dr. rer. nat. H. K. Kroemer 1. Gutachter: Prof. Dr. med. S. Mutze 2. Gutachter: Priv.-Doz. Dr. med. R. Laun Tag der Disputation: 15.04.2009

Inhaltsverzeichnis 1. Einleitung 6 1.1. Begriffsdefinitionen 6 1.1.1. Polytrauma 6 1.1.2. Wirbelsäulenverletzungen und Begleitverletzungen 6 1.2. Epidemiologie 7 1.2.1. Polytrauma 7 1.2.2. Verletzungen der Wirbelsäule 8 1.2.2.1. Verletzungen der Halswirbelsäule 8 1.2.2.2. Verletzungen der Brust- und Lendenwirbelsäule 9 1.3. Posttraumatische bildgebende Diagnostik der Wirbelsäule - Darstellung in der Literatur 1.3.1. Indikationsstellung 9 1.3.2. Untersuchungsmethode 10 1.3.2.1. Konventionelle Röntgendiagnostik 10 1.3.2.2. Computertomographie 11 1.3.2.3. Vergleich zwischen konventioneller Röntgendiagnostik und CT 1.3.2.4. Magnetresonanztomographie 15 1.4. Klassifikation der Wirbelsäulenverletzungen 16 1.4.1. Einteilung nach dem Verletzungsmechanismus 16 1.4.2. Einteilung nach der Stabilität 17 1.4.3. Einteilung nach den neurologischen Ausfällen 18 1.4.4. Einteilung nach den betroffenen Abschnitten der Wirbelsäule 19 1.4.4.1. Frakturen der Okzipitalkondylen 19 1.4.4.2. Atlantookzipitale Dislokation 20 1.4.4.3. Atlantoaxiale Dislokation 20 1.4.4.4. Frakturen des Atlas 20 1.4.4.5. Frakturen des Dens axis 21 1.4.4.6. Frakturen des Axisbogens - traumatische Spondylolisthesis 22 HWK 2 1.4.4.7. Verletzungen der mittleren und unteren HWS 23 1.4.4.8. Magerl-Klassifikation 23 1.5. Aufgabenstellung 30 3 Seite 9 12

2. Patienten und Methoden 31 2.1. Untersuchte Patienten 31 2.2. Anzahl und Alter der Patienten 31 2.3. Diagnostikkonzept und Scanprotokolle der Original- Untersuchungen 2.3.1. Untersuchungsprotokoll für das SSCT 33 2.3.2. Untersuchungsprotokoll für das MSCT 35 2.4. Erfasste Daten in der vorliegenden Re-Evaluation 38 2.4.1. Methodik der Bildbetrachtung und Datenakquisition 39 2.4.2. Erfasste Befunde 42 2.5. Angewendete Klassifikationsschemata 43 4 32 3. Ergebnisse 44 3.1. Auswertung aller Diagnosen 44 3.1.1. Kraniozervikaler Übergang und obere Halswirbelsäule (HWK 0-HWK 2) 3.1.2. Mittlere und untere Halswirbelsäule (HWK 3-HWK 7) 46 3.1.3. Hirnversorgende Halsgefäße 48 3.1.4. Brust- und Lendenwirbelsäule 49 3.2. Vergleich Re-Evaluation mit Primärbefundung 55 3.2.1. Diagnose 55 3.2.1.1. Alle Patienten 55 3.2.1.2. Patienten ohne primär erkannte Traumafolgen 56 3.2.1.3. Patienten mit primär erkannten Traumafolgen 57 3.2.2. Frakturklassifikation 61 3.2.3. Lokalisation 63 3.3. Multiplanare Reformationen (MPR) in der Re-Evaluation 64 3.3.1. Diagnose 64 3.3.2. Klassifikation 64 44 4. Diskussion 66 4.1. Auswertung aller Diagnosen 66 4.1.1. Verletzungen der Halswirbelsäule inkl. Dissektionen der hirnversorgenden Halsgefäße 4.1.1.1. Kraniozervikaler Übergang u. obere Halswirbelsäule (HWK 0-HWK 2) 68 68

5 4.1.1.2. Mittlere und untere Halswirbelsäule (HWK 3-HWK 7) 70 4.1.1.3. Hirnversorgende Halsgefäße 72 4.1.2. Brust- und Lendenwirbelsäule 74 4.1.2.1. Verletzungen der Wirbelkörper und Wirbelbögen 75 4.1.2.1.1. Subgruppenanalyse Typ-A-Verletzungen 77 4.1.2.1.2. Subgruppenanalyse Typ-B-Verletzungen 78 4.1.2.1.3. Subgruppenanalyse Typ-C-Verletzungen 79 4.1.2.2. Frakturen der Dorn- und Querfortsätze 81 4.1.2.3. Therapeutische Konsequenz 82 4.2. Vergleich der Re-Evaluation mit der Primärbefundung 83 4.2.1. Diagnose 84 4.2.2. Frakturklassifikation 87 4.2.3. Lokalisation 90 4.3. Multiplanare Reformationen (MPR) in der Re-Evaluation 91 4.3.1. Diagnose 91 4.3.2. Klassifikation 92 5. Zusammenfassung 93 6. Abbildungsverzeichnis 95 7. Tabellenverzeichnis 96 8. Diagrammverzeichnis 97 9. Abkürzungsverzeichnis 98 10. Literaturverzeichnis 100 11. Eidesstattliche Erklärung 113 12. Lebenslauf 114 13. Danksagung 116

6 1. Einleitung 1.1. Begriffsdefinitionen 1.1.1. Polytrauma Nach der allgemein anerkannten Definition nach Tscherne [117] werden als Polytrauma Verletzungen mehrerer Körperregionen oder Organsysteme bezeichnet, die gleichzeitig entstanden sind und die einzeln oder in ihrer Kombination lebensbedrohlich sind. Die Definition nach Trentz [116] berücksichtigt noch stärker die konsekutiven Funktionsstörungen, wonach der Terminus Polytrauma ein Syndrom von Verletzungen mehrerer Körperregionen oder Organe mit konsekutiven Funktionsstörungen beinhaltet, wobei die einzelnen Komponenten der Verletzungen und Funktionsstörungen in der Regel überlebbar sind, jedoch in ihrer Kombination und Kumulation und, vor allem bei inadäquater Behandlung, tödlich enden können. In den Leitlinien der Deutschen Gesellschaft für Unfallchirurgie ist das Polytrauma definiert als Verletzung mehrerer Körperregionen oder von Organsystemen, wobei wenigstens eine Verletzung oder die Kombination mehrerer Verletzungen vital bedrohlich ist mit einer Verletzungsschwere nach Injury Severity Score (ISS) 16 Pkt. und ist zu unterscheiden von der Mehrfachverletzung ohne vitale Bedrohung oder der schweren, lebensbedrohlichen Einzelverletzung (Barytrauma) [38]. 1.1.2. Wirbelsäulenverletzungen und Begleitverletzungen Die traumatischen Verletzungen der Wirbelsäule bestehen in erster Linie aus knöchernen Läsionen wie Frakturen der Wirbelkörper, Wirbelbögen, der Dorn- und Querfortsätze, die unverschoben oder disloziert sein können. Oft treten auch Verletzungen der das sogenannte Bewegungssegment [63] bildenden Strukturen auf, zu denen Discus intervertebralis und ligamentäre Strukturen ebenso gehören wie die entsprechenden Muskeln, Gelenke und Wirbelkanal einschließlich seines Inhalts sowie die Foramina intervertebralia mit den neuronalen Strukturen. Die Folge kann der Verlust der Integrität der Wirbelsäule mit segmentalen Fehlstellungen sein [24]. Nach schweren Traumata, wie z. B. Rasanztraumata im Rahmen von Verkehrsunfällen oder Stürzen aus großer Höhe, sind kombinierte knöcherne und Weichteilverletzungen häufig. Insbesondere bei solchen Verletzungen besteht die

7 große Gefahr einer Alteration des Spinalkanals und Myelons durch knöcherne Einengung oder auch Einblutung. Je nach Unfallmechanismus und Schwere der Verletzung können Begleitverletzungen, wie z. B. Frakuren benachbarter Rippen oder Verletzungen perivertebraler Weichteile und Gefäße, auftreten [42]. 1.2. Epidemiologie 1.2.1. Polytrauma Nach Angaben der Deutschen Gesellschaft für Unfallchirurgie (DGU) erleiden in der Bundesrepublik Deutschland jährlich ca. 35 000 38 000 Patienten ein Polytrauma. Dabei beträgt die durchschnittliche Mortalitätsrate bei von den teilnehmenden Kliniken an das Traumaregister der DGU gemeldeten schweren Traumata ca. 20 % [100]. Bei polytraumatisierten Patienten ist in epidemiologischen Untersuchungen ein deutliches Überwiegen des männlichen Geschlechts mit 65 % - 80 % erkennbar [96, 100, 101]. Die Altersverteilung zeigt, dass überwiegend jüngere Patienten betroffen sind. Das mittlere Alter der polytraumatisierten Patienten in den drei letztgenannten Studien liegt zwischen 31 und 36,5 Jahren. Die Hauptursache für die Verletzungen sind Verkehrsunfälle mit ca. 49 % - 89 % [96, 100], gefolgt von Stürzen aus großer Höhe mit ca. 14 % - 29 % [100]. Polytraumatisierte Patienten erleiden Schädel-Hirn-Traumata in 57,5 %, Verletzungen des Thorax in 57,6 %, des Abdomens in 25,5 % und der Extremitäten in 40,6 %. Als Folge der sehr komplexen Verletzungsmuster bei polytraumatisierten Patienten ergibt sich ein hoher Aufwand in der Bergung, der medizinischen Versorgung, in Diagnostik und Therapie sowie in der Nachbehandlung. Neueren Erhebungen zufolge liegen bei der Krankenhausbehandlung polytraumatisierter Patienten die nach dem Algorithmus der Arbeitsgemeinschaft Polytrauma der DGU ermittelten Fallkosten bei 29 775 34 274 [51, 82, 109]. Die mittlere Krankenhausverweildauer beträgt ca. 31 33 d, davon die Intensivliegedauer ca. 12,2-17 d. Die Gesamtkosten der Behandlung verunfallter Patienten werden auf ca. 13,5 Mrd. Euro/Jahr geschätzt.

8 1.2.2. Verletzungen der Wirbelsäule Die Häufigkeit von Verletzungen der Wirbelsäule im Rahmen eines Polytraumas wird in der Literatur mit einer Häufigkeit von etwa 14-30 % angegeben [26, 96, 98]. Es besteht eine deutliche Dominanz des männlichen Geschlechts von ca. 2/3 der Fälle und ein Altersgipfel zwischen 20 und 40 Jahren. Als Hauptursachen sind Verkehrsunfälle, gefolgt von Stürzen aus großer Höhe, zu nennen [30, 84]. Die Häufigkeit der Verletzung von mehr als einem Wirbelkörper wird mit 27 % angegeben [84]; Blauth et al. geben die Inzidenz für langstreckige oder mehretagige Wirbelsäulenverletzungen mit 2,5 % an [26]. Ca. 1/3 der Wirbelsäulenfrakturen bedürfen der operativen Stabilisierung [26, 84]. Bezogen auf operationspflichtige Verletzungen finden sich bei 20 % der Fälle komplette oder inkomplette neurologische Läsionen [68]. 1.2.2.1. Verletzungen der Halswirbelsäule Ursächlich für Halswirbelsäulenverletzungen sind zu über 80 % Verkehrs- und Sportunfälle [85], nach Aebi et al. sogar zu 87 % [4]. Letzterer Autor hatte noch 1986 den Anteil von Verkehrs- und Sportunfällen mit 61 % beziffert [1]. Etwa 80 % der HWS-Verletzungen sind im unteren Abschnitt (HWK 2/3 bis HWK 7/BWK 1) lokalisiert [1, 2, 3, 4]. Nach Iencean treten Mehrfachverletzungen der HWS in etwa 20 % und mehrortige, nichtkontinuierliche Läsionen in ca. 3,2 % auf [60]. Aufgrund der großen Beweglichkeit der HWS und der Verletzlichkeit des Rückenmarks, das einen relativ großen Raum im knöchernen Spinalkanal einnimmt, ist bei Verletzungen der Halswirbelsäule die Gefahr einer Schädigung des Rückenmarks am größten. Meyer und Heim stellten fest, dass nur 27 % der Verletzungen der HWS ohne neurologische Symptomatik auftreten und 32 % der Verletzungen mit kompletten und 41 % mit inkompletten oder radikulären neurologischen Defiziten einhergehen [86]. Nach Aebi et al. [1, 4] beträgt der Anteil der Verletzungen der HWS mit neurologischen Defiziten ca. 55 % aller Verletzungen der Wirbelsäule und stellt somit das Hauptkontingent der Wirbelsäulenverletzungen mit neurologischen Defiziten dar.

1.2.2.2. Verletzungen der Brust- und Lendenwirbelsäule 9 Insbesondere bei Patienten, die Hochenergie- oder Rasanztraumata erfahren haben, besteht ein erhöhtes Risiko, Frakturen der BWS und LWS zu erleiden [110]. So machen zu je etwa einem Drittel Verkehrsunfälle mit Pkw oder Motorrad einerseits sowie Sportunfälle und Stürze aus größerer Höhe andererseits die Hauptverletzungsursachen aus [30, 42], wobei die häufigen Unfallmechanismen Flexions-Distraktions-Mechanismen sind [30, 119]. Der Altersgipfel der entsprechend Betroffenen wird mit 20-50 Jahren angegeben [30, 42]. 2/3 aller entsprechend Verletzten sind Männer [30]. Die Brust- und Lendenwirbelsäule ist von relevanten Wirbelsäulenverletzungen weitaus häufiger betroffen, als die Halswirbelsäule; nach Angaben von Bühren liegt der Anteil bei etwa 70-80 % [30]. Andere Autoren geben diesen Anteil mit etwa 34 % an [42, 86]. Mehr als die Hälfte der Frakturen sind im thorakolumbalen Übergang lokalisiert, insbesondere sind der LWK 1 und das Segment BWK 12/LWK 1 am häufigsten betroffen [30]. Nicht selten sind mehrere Wirbelkörper oder mehrere, voneinander getrennte Segmente betroffen [13, 84] oder es ist zusätzlich die Halswirbelsäule involviert [60]. 1.3. Posttraumatische bildgebende Diagnostik der Wirbelsäule Darstellung in der Literatur 1.3.1. Indikationsstellung Die Voraussetzung für die Erkennung und optimale Behandlung von Verletzungen der Wirbelsäule ist eine klare Aussage zu Indikation und Art der bildgebenden Diagnostik. Dazu müssen zwei zentrale Fragen beantwortet werden: 1. Welche Patienten sollen einer bildgebenden Diagnostik zugeführt werden? 2. Welche bildgebende Untersuchungsmethode ist geeignet? Hierfür sind die klinische Untersuchung und die Beachtung von Unfallmechanismus und Verletzungsmuster notwendig. Gonzalez et al. konnten eine Sensitivität der klinischen Untersuchung von 91 % für Verletzungen der HWS finden [49]. Volkmann et al. zeigten allerdings, dass eine insuffizient durchgeführte bzw. falsch interpretierte neurologische Untersuchung zu einer falschen Diagnose führen kann und schlugen ein standardisiertes

10 diagnostisches Vorgehen für die klinische und röntgenologische Untersuchung von Patienten mit neurologischem Defizit nach Wirbelsäulenverletzungen vor [118]. Überhaupt herrscht Einigkeit darüber, dass bei Patienten mit neurologischer Symptomatik eine radiologische Diagnostik erforderlich ist [83]. Bei Patienten ohne neurologisches Defizit können Algorithmen zur Entscheidungsfindung hilfreich sein. Für die Wahrscheinlichkeit z. B. einer Verletzung der Halswirbelsäule im Rahmen eines Traumas können klinische Vorhersageregeln herangezogen werden [19, 20, 22, 53, 57, 79]. Danach werden Patienten in Hoch- und Niedrigrisikogruppen anhand klinischer Kriterien, z. B. von neurologischem Status, Kopf- und anderen Begleitverletzungen, Unfallmechanismus und Alter, zugeordnet. Durch Erarbeitung von Entscheidungsregeln und Diagnostikrichtlinien werden dann entsprechende Patienten einer bildgebenden Diagnostik der Halswirbelsäule zugeführt, insbesondere bei Zugehörigkeit zu den Hochrisikogruppen [5, 53, 57, 113]. 1.3.2. Untersuchungsmethode Ist die Entscheidung zu bildgebender Diagnostik der Wirbelsäule gefallen, muß die einzusetzende Untersuchungsmodalität festgelegt werden. Hier ist primär die Entscheidung zwischen konventioneller Röntgendiagnostik und CT zu treffen. 1.3.2.1. Konventionelle Röntgendiagnostik Derzeit ist die konventionelle Radiographie als primäre bildgebende Methode der Diagnostik der Wirbelsäule etabliert, auch in der primären bildgebenden Diagnostik der Polytrauma-Versorgung [54]. In den geltenden Leitlinien der DGU sowie gängigen Algorithmen der Behandlung Polytraumatisierter werden an unverzüglichen apparativen Untersuchungen (neben der Sonographie von Abdomen und Thorax) die konventionelle Röntgendiagnostik mit Aufnahmen von Thorax und Becken a.p. sowie der Halswirbelsäule seitlich, ggf. unter Armzug, gefordert [38, 44, 54]. Als allgemeiner Standard anerkannt ist die Röntgenuntersuchung der HWS in 2 Ebenen, fast immer ergänzt durch eine Denszielaufnahme [19, 23, 39, 43, 50, 67, 79, 106, 118], gelegentlich durch Schrägaufnahmen [33, 39, 67, 79] und evtl. durch Funktionsaufnahmen [5, 43, 50, 67, 88]. Bei schlechter Beurteilbarkeit der unteren HWS bzw. des zervikothorakalen Übergangs wird zusätzlich eine Schwimmer -

11 Aufnahme angefertigt [5, 23, 43, 67, 106, 114, 118]. Da die alleinige Anfertigung einer seitlichen konventionellen Röntgenaufnahme der HWS die Sensitivität der klinischen Untersuchung nicht erhöht [49], beinhaltet der Standard der konventionellen Röntgendiagnostik, dass immer mehrere Röntgenaufnahmen zur Beurteilung der Halswirbelsäule angefertigt werden. Zudem besteht nach Blauth et al. zu 20 % die Gefahr, beim Polytraumatisierten auf Grund unvollständiger Diagnostik eine Wirbelsäulenverletzung zu übersehen [26]. Daher sollte bei allen polytraumatisierten Patienten routinemäßig die Röntgendiagnostik nicht nur der Hals-, sondern der gesamten Wirbelsäule erfolgen [26, 54, 98]. Im Bereich der thorakolumbalen Wirbelsäule werden standardmäßig konventionelle Röntgenaufnahmen in 2 Ebenen angefertigt, die ggf. durch Zielaufnahmen und an der LWS durch zusätzliche Schrägaufnahmen ergänzt werden können [71, 79, 110]. Funktionsaufnahmen der Wirbelsäule sind prinzipiell dazu geeignet, Segmentinstabilitäten aufzuzeigen. Nach Untersuchungen verschiedener Autoren allerdings haben standardmäßig zusätzlich zur Röntgenuntersuchung in 2 Ebenen angefertigte Funktionsaufnahmen der HWS eine unzureichende Zusatzaussagekraft bei gleichzeitig hohem Aufwand [5, 50] und konnten sich letzlich auch nicht als Standard posttraumatischer Diagnostik durchsetzen. 1.3.2.2. Computertomographie Seit längerem ist im Polytraumamanagement die zerebrale CT zur Evaluation eines Schädel-Hirn-Traumas fest verankert [44], während für die Diagnostik der Wirbelsäule die konventionelle Radiographie primär zur Anwendung kommt. Allerdings fordern mehrere Autoren bei unbefriedigenden Ergebnissen der Röntgendarstellung mit schlechter Beurteilbarkeit, unklaren Befunden oder Verdachtsmomenten die zusätzliche CT-Untersuchung der Halswirbelsäule [27, 106] und auch der thorakolumbalen Wirbelsäule [70, 72]. Viele Autoren diskutieren jedoch mittlerweile, bereits die initiale Bildgebung der Wirbelsäule, insbesondere der Halswirbelsäule, bei entsprechenden Verdachtsmomenten standardmäßig mit der CT durchzuführen und auf die konventionelle Bildgebung der HWS von vornherein zu verzichten. Dies kann insbesondere dann erfolgen, wenn ohnehin eine zerebrale CT durchgeführt wird oder geplant ist [65, 74, 92, 121] oder die Patienten klinische Hochrisiko-Kriterien erfüllen [20, 53]. Nunez Jr. et al. zogen den Schluss, dass die

12 Spiral-CT routinemäßig insbesondere bei der Diagnostik der HWS bei Polytraumapatienten eingesetzt werden sollte [93]. Lomoschitz schlägt vor, lediglich bei Patienten mit niedrigem Risiko primär konventionelle Röntgenaufnahmen anzufertigen [79]. Die Erkennung von Verletzungen der Wirbelsäule und die korrekte Klassifikation der Frakturen vor OP sind nicht nur unbedingte Voraussetzungen für die Einleitung einer adäquaten, ggf. operativen Therapie, sondern sie sind mitentscheidend für die Wahl des operativen Verfahrens [25]. Bei Anwendung der Spiral-CT können durch die Möglichkeit der Anfertigung von sekundären multiplanaren Reformationen entscheidende Zusatzinformationen zur Morphe der Fraktur, damit zur Einschätzung des Frakturtyps und letztlich zur Indikationsstellung zu ggf. operativer Therapie gewonnen werden [79, 94, 104]. Unter Umständen können wertvolle Zusatzinformationen durch 3D-Oberflächen-Rekonstruktionen erlangt werden, die mit der heute üblichen Software aus dem CT-Datensatz in der Regel angefertigt werden können. Schröder et al. zeigten, dass 3D-Rekonstruktionen der Wirbelsäule die diagnostische Aussagekraft der CT bei Typ-B- und Typ-C-Frakturen nach Magerl erhöhen [107]. Auch andere Autoren konnten aus 3D-Oberflächenrekonstruktionen insbesondere bei Verletzungen mit Rotationskomponente, Translation oder bei Abweichungen der Achsausrichtung der Wirbelsäule ein besseres dreidimensionales Frakturverständnis ableiten [40, 69]. Als Nachteil der 3D-Oberflächenrekonstruktion ist allerdings festzustellen, dass die methodischen Grenzen bei Patienten mit ausgeprägten degenerativen Veränderungen oder Osteoporose erreicht werden [40]. 1.3.2.3. Vergleich zwischen konventioneller Röntgendiagnostik und CT Im kritischen Vergleich der beiden Methoden bildgebender Diagnostik der Wirbelsäule weist die konventionelle Röntgendiagnostik einige, z. T. gravierende Nachteile auf. So herrscht in der Literatur allgemein große Einigkeit darüber, dass mit alleinigen konventionellen Röntgenaufnahmen regelhaft Frakturen und Luxationen insbesondere der HWS nicht erkannt werden. Somit scheint im Vergleich der bildgebenden Methoden der wesentliche Nachteil der konventionellen Radiographie gegenüber der CT-Untersuchung die deutlich schlechtere Sensitivität zu sein, was durch eine Vielzahl an Studien belegt wurde [21, 23, 34, 39, 75, 79, 108]. Dabei werden für die Spiral-CT Sensitivitäten für die Frakturdetektion an der

13 HWS zwischen 97,4 % und 100 % angegeben, während die Sensitivität der konventionellen Radiographie nur zwischen 44,0 % und 54,5 % liegt [39, 75]. Zudem konnten falsch positive Befunde der konventionellen Röntgenuntersuchung durch die CT widerlegt werden [80]. Einer der Gründe für die schlechte Sensitivität der konventionellen Röntgenuntersuchung ist die oft unzureichende Beurteilbarkeit der Aufnahmen, die einstellungs- oder technisch bedingt sein kann. So nannten Gerrets et al. die unzureichende Beurteilbarkeit der zum Teil multiplen Röntgenaufnahmen als Ursache für die verspätete Erkennung zervikaler Frakturen und Luxationen bei mehreren Patienten [48]. Insbesondere der kraniozervikale Übergang ist konventionell-röntgenologisch häufig nur schlecht beurteilbar, gerade bei schwerverletzten Patienten. Mehrere Autoren konnten hier eindrucksvoll zeigen, dass projektionsradiographisch eine Vielzahl von Verletzungen des kraniozervikalen Übergangs regelhaft übersehen, mit der CT jedoch sicher erkannt werden [23, 39, 74, 75]. Einer ähnlichen Problematik unterliegen die untere HWS und der zervikothorakale Übergang, da konventionell-röntgenologisch wegen oft schlechter Einsehbarkeit hier Frakturen leicht übersehen werden können [23, 34, 49, 106, 114, 118], was auch für Funktionsaufnahmen gilt [50]. Vergleichbar mit der HWS zeigten viele Autoren auch in Höhe der BWS und LWS eine deutlich geringere Sensitivität der Röntgenuntersuchung gegenüber der CT [70, 72, 95, 110, 122]. Beispielsweise betrug die von Sheridan et al. ermittelte Sensitivität der CT für thorakale und lumbale Frakturen für die Spiral-CT 97 % bzw. 95 %, für die konventionellen Röntgenaufnahmen jedoch nur 62 % bzw. 86 % [110]. Zudem konnte eine geringere Untersucherabhängigkeit der Diagnosen bei der CT gegenüber der konventionellen Röntgendiagnostik gezeigt werden [122]. Eine weitere, gravierende Schwäche der konventionellen Röntgendiagnostik besteht in der häufigen Unterschätzung der Schwere der Wirbelsäulenverletzung. Die konventionellen Aufnahmen reichen in der Regel nicht aus, um das gesamte Verletzungsausmaß zu erfassen [14, 31, 71, 79]. Problematisch sind dabei insbesondere instabile Verletzungen. Der Fehler, eine instabile Fraktur konventionellröntgenologisch fälschlich als nicht instabil einzuschätzten, wird mit 17,2 % bis 33,3 % angegeben [39, 95, 122]. Bei einer systematischen Auswertung

14 konventioneller Röntgenaufnahmen unter Zuhilfenahme verschiedener Indizes wurde festgestellt, dass selbst der Index mit dem höchsten positiven prädiktiven Wert für das Vorhandensein einer primär stabilen Fraktur einen Fehler von 27 % aufweist [90]. In der Konsequenz betonen viele Autoren die herausragende Rolle der CT bei der Erkennung und Klassifikation des Frakturtyps [14, 103, 115]. Ein weiterer Aspekt in der Wahl des bildgebenden Verfahrens ist der Zeitfaktor. Nach Auffassung mehrerer Autoren ist auch in dieser Hinsicht die Spiral-CT der projektionsradiographischen Untersuchung der HWS vorzuziehen, da deutlich weniger Zeit bis zur der Hälfte wie für eine konventionelle Röntgenuntersuchung gebraucht wird [21, 35]. Dies gilt insbesondere für die Untersuchung von Patienten mit eingeschränkter Bewusstseinslage [33, 39, 110]. In den Überlegungen zur Untersuchungsmodalität spielen auch die zu erwartenden Kosten eine Rolle. Hier zeigte sich in mehreren Untersuchungen zur Halswirbelsäule ein Vorteil der Spiral-CT, da bei primärer Anwendung der CT konventionelle Folgeuntersuchungen und zusätzliche, unnötige bildgebende Diagnostik auf diese Art vermieden werden können [19, 22]. Lediglich unter Berücksichtigung der initial applizierten Röntgendosis zeigt sich ein Nachteil der CT-Untersuchung. In Bezug auf die Abklärung der Halswirbelsäule ist nach Angaben von Rybicki et al. in der CT die Strahlenbelastung der Schilddrüse als strahlensensitives Organ um ein ca. 14-faches höher als bei der konventionellen Röntgenuntersuchung (26,0 mgy vs. 1,80 mgy) [102]. Daher ist es auch aus strahlenhygienischen Gesichtspunkten wichtig, eine klinische Strategie zu entwickeln, um Hochrisiko-Patienten zu erkennen und nur diese einer CT- Untersuchung zuzuführen. Allerdings kann durch Abklärung der Wirbelsäule im Rahmen der primären Untersuchung von Thorax und Abdomen polytraumatisierter Patienten mittels Spiral-CT nicht nur ein exaktes Screening nach thorakolumbalen Frakturen erfolgen, sondern es werden gleichzeitig die zusätzlich erforderliche Zeit, Aufwand und Strahlenbelastung der zusätzlichen konventionellen Röntgenuntersuchung der Wirbelsäule vermieden oder reduziert [78, 110, 122]. Auch postoperativ hat die CT einen erhöhten Stellenwert im Vergleich mit konventionellen Röntgenaufnahmen, z. B. bei der Einschätzung von Lokalisation,

15 Volumen, Größe und möglichen Komplikationen transplantierter Knochenspäne bzw. eingebrachten Knochenzements [89]. Zusammenfassend ist festzustellen, dass eine erhebliche Verbesserung der bildgebenden Diagnostik der Wirbelsäule mit der CT gelingt, die als Goldstandard für die Diagnostik knöcherner Verletzungen der Wirbelsäule gilt. Ohnehin ist die CT in der Diagnostik von Verletzungen mit konkretem Organbezug bereits seit langem etabliert, z. B. im Bereich des Thorax, Abdomens oder Skeletts [91, 101, 117]. In Untersuchungen schwerverletzter Patienten mittels in kurzer Zeit durchführbarer, primärer Spiral-CT-Diagnostik werden nicht nur alle relevanten Verletzungen von Kopf, Thorax, Abdomen und Becken verlässlich und schnell erkannt, sondern es können auch die Diagnosestellung und die Einteilung der Frakturen der Wirbelsäule sehr rasch erfolgen [77, 78]. Mittlerweile wird diese Einschätzung allgemein geteilt. Daher hat sich in letzter Zeit die Spiral-CT, insbesondere die MSCT, zunehmend gegenüber der primären bildgebenden Röntgendiagnostik bei polytraumatisierten Patienten nach der Schockraum-Erstversorgung durchgesetzt und stellt derzeit das zentrale Untersuchungsverfahren bei der Diagnostik von Mehrfachverletzten dar [15, 76, 77]. Zuletzt wurde die CT-Diagnostik durch kontinuierliche Bilddatenakquisition, standardisierte Untersuchungsprotokolle, schnelle Bildrekonstruktion und Einsatz von Sekundärkonsolen für die Berechnung von multiplanaren Reformationen (MPR) und Maximum-Intensitäts-Projektionen (MIP) sowie durch Monitorbefundung weiter verbessert. Eine moderne, auf einer RIS/PACS-Lösung basierte digitale Bildverteilung ermöglicht die zu einem suffizienten Management Wirbelsäulenverletzter gehörende, zeitnahe Demonstration und Erörterung der Befunde mit allen beteiligten klinischen Partnern [15, 54]. 1.3.2.4. Magnetresonanztomographie Zahlreiche Autoren ordnen die MRT als Goldstandard für die Erkennung von Verletzungen des Myelons, insbesondere von Kontusionen, sowie von diskoligamentären Verletzungen inkl. Diskusherniation sowie anderer Weichteilverletzungen und Einblutungen ein [28, 43, 52, 66, 67, 108]. Insbesondere ist die MRT hervorragend geeignet, wertvolle weiterführende Informationen in Bezug

16 auf Verletzungen der diskoligamentären Anteile der Wirbelsäule zu gewinnen, die mit der CT nicht oder in deutlich geringerem Maße erkennbar sind [52, 108]. Zwar wird in älteren Arbeiten eine geringere Sensitivität der MRT im Vgl. mit der CT für die rein knöchernen Läsionen der Wirbelsäule angegeben [66, 108], dennoch sehen andere Autoren auch Vorteile der MRT [52]. Nicht zuletzt wegen der apparativ und logistisch deutlich komplizierteren Untersuchungsbedingungen und des wesentlich höheren Zeitaufwands hat die MRT derzeit ihren Stellenwert als eine die CT ergänzende Untersuchungsmethode, insbesondere falls bei Verletzungen der Wirbelsäule die Abklärung neurologischer Symptomatik oder diskoligamentärer Verletzungen erforderlich wird. 1.4. Klassifikation der Wirbelsäulenverletzungen Wirbelsäulenverletzungen lassen sich nach anatomischen Gesichtspunkten, Wirkmechanismus des erlittenen Traumas und Stabilität einteilen. Letztlich existiert eine Vielzahl an verschiedenen Klassifikationen von vielen Autoren, von denen sich aber nur wenige im klinischen Gebrauch durchgesetzt haben [1, 2]. Eine einheitliche, die Gesamtheit der möglichen Verletzungen der gesamten Wirbelsäule umfassende, allgemein akzeptierte Klassifikation existiert derzeit nicht [1]. 1.4.1. Einteilung nach dem Verletzungsmechanismus Diese Einteilung wird auf Basis der Entstehungsmechanik vorgenommen. Am häufigsten ist die Wirbelsäule von indirekten Traumata mit Wirkung auf den Kopf oder Körperstamm betroffen, während direkte Traumata z. b. durch Schuss-, Schlag- oder Stichverletzungen seltener sind. Die wesentlichen Mechanismen der einwirkenden Kraft bestehen in den 5 Arten Kompression, Flexion, Extension, Rotation und Translation. Entsprechend dem gemeinsamen oder unmittelbar aufeinanderfolgenden Wirken der unterschiedlichen Kräfte im Rahmen eines Traumas sind kombinierte Verletzungen häufig. Für die Halswirbelsäule haben Whitley und Forsyth 1960 eine Klassifikation erarbeitet, bei der Verletzungen der oberen und unteren Halswirbelsäule unterteilt werden in Flexions-, Extensions- und kombinierte Verletzungen mit zusätzlicher Unterscheidung von ein- oder beidseitiger Einwirkung [120]. Ergänzt wurde diese

17 Klassifikation 1970 durch Holdsworth durch die zusätzliche Definition von Rotationsund Scherkräften [59] und durch Allen et al. 1982 durch die Einführung einer zusätzlichen kompressiven und einer distrahierenden Kraft [7]. Gehweiler et al. stellten 1979 eine Klassifikation nach dem Verletzungsmechanismus vor, bei der die Läsionen der HWS in Hyperextensions- oder Hyperflexionsverletzungen mit jeweils 5 bzw. 4 Untergruppen eingeteilt wurden [45]. 1.4.2. Einteilung nach der Stabilität Als Stabilität bezeichnet man die Festigkeit der Wirbelsäule im Rahmen ihres physiologischen Bewegungsumfangs. Kommt es im Zuge eines erlittenen Traumas zu einer Verletzung der Strukturen der Wirbelsäule, kann dies zu einer Erweiterung des möglichen Bewegungsumfangs mit Verschiebung über das physiologische Maß hinaus führen. Dieser Zustand wird als instabil betrachtet. Aus der klinischen Erfahrung ist bekannt, dass im Falle der Instabilität der Wirbelsäule bei Bewegung eine Fehlstellung und die Verletzung der benachbarten neurovaskulären Strukturen drohen. Während der knöcherne Aufbau der Wirbelsäule die Beweglichkeit in allen Richtungen ermöglicht, stellen die ligamentären Strukturen das eigentliche Stabilisierungssystem dar. Sind lediglich knöcherne Strukturen verletzt, kann eine instabile Fraktur knöchern konsolidieren und somit stabil ausheilen. Ligamentäre Verletzungen sind jedoch häufig permanent oder sogar progredient [55]. Ein Modell zur Einteilung der Verletzungen hinsichtlich der Stabilität ist das Säulenmodell. Holdsworth stellte 1963 die 2-Säulen-Theorie der Stabilität der Wirbelsäule vor [58]. Denis griff diese 2-Säulen-Theorie auf und entwickelte sie weiter zu einem 3-Säulen-Modell mit Unterteilung der Wirbelsäule in eine vordere, in eine mittlere und in eine hintere Säule [37]. Die vordere Säule wird gebildet aus dem vorderen Längsband und aus der ventralen Hälfte von Wirbelkörper und Bandscheibe. Die mittlere Säule beinhaltet die dorsale Hälfte von Wirbelkörper und Bandscheibe, das hintere Längsband sowie die Bogenwurzeln. Die hintere Säule besteht aus den Wirbelbögen, den Zwischenwirbelgelenken und dem dorsalen Bandapparat. Die derzeit gültige Modifikation des Modells zieht die Grenze zwischen vorderer und mittlerer Säule zwischen dem mittleren und dem dorsalen Drittel des Wirbelkörpers [56]. Frakturen oder Verletzungen nur der vorderen oder nur der hinteren Säule gelten als stabil, Verletzungen der mittleren Säule oder von mehr als

18 einer Säule als instabil. Definitionsgemäß tritt eine isolierte Verletzung der mittleren Säule nicht auf es muss dann nach weiteren Verletzungsfolgen gesucht werden. Abb. 1: Säulenmodell nach Denis Für die Verletzungen der Halswirbelsäule entwickelte Louis 1979 ein Säulenmodell, das die anatomischen Besonderheiten der HWS berücksichtigt. Danach werden eine vordere Säule, bestehend aus den Halswirbelkörpern, und zwei hintere Säulen, bestehend aus den Facettengelenken jeder Seite, unterschieden und nach einem Punktesystem bestimmt, ob die erlittene Verletzung stabil oder instabil ist. Es wird festgestellt, dass die Instabilität einer Verletzung sowohl ossär als auch ligamentär bedingt sein kann [2]. 1.4.3. Einteilung nach den neurologischen Ausfällen Neben der Notwendigkeit, die knöchernen und ligamentären Verletzungsfolgen an der Wirbelsäule selbst zu klassifizieren, kann eine zusätzliche Einteilung nach den neurologischen Ausfällen erfolgen. Zunächst hat Apley 1970 die Verletzungen der Wirbelsäule in solche mit und solche ohne neurologische Ausfälle eingeteilt [12]. Eine Ergänzung der derzeit gängigen Klassifikation der osteoligamentären Wirbelsäulenverletzungen um das Ausmaß der neurologischen Schäden kann mit

19 dem heute weit verbreiteten Schema nach Frankel vorgenommen werden, dass von Aebi und Nazarian 1987 modifiziert wurde [2]. Das Frankel-Schema ist verlässlich und einfach anzuwenden und stellt daher die im klinischen Gebrauch bevorzugte Methode dar [36]. 1.4.4. Einteilung nach den betroffenen Abschnitten der Wirbelsäule Wegen der anatomischen Besonderheiten der Segmente HWK 0-2 im Vergleich mit den übrigen Segmenten der zervikalen und der thorakolumbalen Wirbelsäule und unter Berücksichtigung von Unfallmechanismus und Frakturstabilität wurden verschiedene Einteilungen nach Wirbelkörpern und Bewegungssegmenten erarbeitet [29]. Einige Klassifikationen finden ausschließlich im Bereich der Halswirbelsäule, insbesondere der Segmente HWK 0-2 Anwendung; andere Klassifikationen können Verletzungen sowohl der thorakolumbalen Wirbelsäule als auch an der Halswirbelsäule unterhalb HWK 2 einteilen. Aebi und Nazarian stellten 1987 eine umfassende Klassifikation zur Einteilung der Verletzungen sowohl der oberen als auch der unteren HWS vor, die in Anlehnung an die AO-Klassifikation erarbeitet wurde [2]. Diese sehr ausführliche Einteilung mit 3 unterschiedlichen Frakturhaupttypen und Untergruppen 1. und 2. Ordnung konnte sich im klinischen Alltag jedoch nicht durchsetzen. 1.4.4.1. Frakturen der Okzipitalkondylen Nach Anderson und Montesano können drei verschiedene Typen von Frakturen der Okzipitalkondylen unterschieden werden [11]. Typ I besteht in einer Kompressionsfraktur der Gelenkfläche; neurologische Schäden sind in der Regel nicht zu erwarten. Typ II wird bezeichnet als eine in den Kondylus einstrahlende Schädelbasisfraktur; daher können entsprechende Hirnnerven alteriert sein. Typ III ist eine knöcherne Avulsionsverletzung der Ligamenta alaria im Rahmen atlantookzipitaler Distraktionsverletzungen. Ausgeprägte Dislokationen mit schweren neurologischen Schädigungen bis hin zum letalen Ausgang können die Folge sein.

20 1.4.4.2. Atlantookzipitale Dislokation Atlantookzipitale Dislokationen können nach sehr schweren Traumata, in der Regel Distraktionsverletzungen, auftreten. Häufig resultieren eine vollständige axiale Instabilität mit vorderer Luxation und ein in der Regel tödlicher Ausgang [29]. 1.4.4.3. Atlantoaxiale Dislokation Diese Verletzung ist sehr selten und weist eine rotatorische oder translatorische Dislokation des Atlas gegen den Axis auf, häufig mit Ventroposition des Atlas gegen den Axis. Es besteht eine Ruptur des Lig. transversum atlantis ohne Densfraktur, manchmal auch eine Ruptur der Ligamenta alaria [56, 29]. 1.4.4.4. Frakturen des Atlas Frakturen des Atlas können den vorderen und hinteren Bogen sowie die Massae laterales betreffen, auch kombiniert. Nach Gehweiler et al. werden 5 Typen unterschieden [46]: Typ I: Fraktur des vorderen Atlasbogens. Es ist eine seltene, in der Regel stabile Verletzung. Es kann zusätzlich eine Fraktur des Dens axis bestehen. Typ II: Fraktur des hinteren Atlasbogens. Es handelt sich um eine Extensionsverletzung, ist die häufigste Form der Atlasfraktur und stabil. Typ III: Kombinierte Fraktur des vorderen und des hinteren Atlasbogens, auch als Jefferson-Fraktur bezeichnet. Der Mechanismus ist eine starke axiale Gewalteinwirkung auf den gestreckten Hals, die zu einem Berstungsbruch führt. Diese vollständige Sprengung des Atlasrings muss nicht zwangsläufig instabil sein; erst ein zusätzlicher Aus- oder Abriss des den Atlas quer stabilisierenden Ligamentum transversum atlantis kann zu einem deutlichen Auseinanderweichen der Massae lateralis atlantis und zu einer instabilen Situation führen. Typ IV: Isolierte Fraktur der Massa lateralis atlantis, eine stabile Verletzung. Typ V: Fraktur des Processus transversus

21 a b c d e Abb. 2 a-e: Atlasfrakturen nach Gehweiler, Typ I-V. (a) Typ I; (b) Typ II; (c) Typ III (Jefferson-Fraktur); (d) Typ IV; (e) Typ V. 1.4.4.5. Frakturen des Dens axis Dens-axis-Frakturen treten typischerweise nach Extensionsmechanismen auf, sind jedoch auch bei einem Flexionstrauma möglich [56]. Die Densfrakturen werden nach Anderson und D Alonzo in drei Hauptgruppen eingeteilt [10]. Typ I: Fraktur der Spitze des Dens axis oberhalb des Ligamentum transversum atlantis, wohl durch Avulsion der Ligamenta alaria bei instabilen Dislokationen. Typ II: Fraktur des Dens axis quer im Bereich des Abgangs aus dem Corpus axis. Sie ist die häufigste der Densfrakturen und ist instabil. Dislozierte Frakturen neigen bei konservativer Behandlung zur Pseudarthrosenbildung. Typ III: Fraktur des Axis im kranialen Anteil des Wirbelkörpers, streng genommen handelt es sich nicht um eine Densfraktur, sondern um eine Korpusfraktur. Es besteht in der großen Mehrzahl der häufig horizontal verlaufenden Frakturen eine ventrale Dislokation des Axisfragments und konsekutiv auch des Dens axis. Da die Typ-I-Fraktur sehr selten ist und auch kontrovers diskutiert wird z. B. als Variante einer atlantoaxialen Dislokation wird die Einteilung in 3 Typen zugunsten einer in 2 Typen zunehmend verlassen. Die Unterscheidung erfolgt dann zwischen einer oberen Densfraktur, entsprechend Typ II, und einer unteren Densfraktur, entsprechend Typ III [113].

22 a b c Abb. 3 a-c: Dens-Frakturen nach Anderson/D Alonzo: (a) Typ I; (b) Typ II; (c) Typ III 1.4.4.6. Frakturen des Axisbogens - traumatische Spondylolisthesis HWK 2 Die Verletzung tritt bei Hyperextensions-Distraktions-Traumata auf. Das Erhängen stellt einen solchen Mechanismus dar, daher rührt der Name Erhängungsfraktur oder Hanged man s fracture. Auch Hyperextensions-Kompressions-Mechanismen kommen ursächlich in Frage. Weil typischerweise der Bogen im Bereich des Isthmus oder Abgangs der Bogenwurzeln frakturiert, kann die Verletzung auch traumatische Spondylolisthese genannt werden [56]. Der diskoligamentäre Komplex des Segments HWK 2/3 ist häufig beteiligt. Die Einteilung erfolgt nach Effendi et al. mit der Unterscheidung von 3 Schweregraden [41]. Typ I: Fraktur des Wirbelbogens ohne diskoligamentäre Beteiligung, meist wenig (<3 mm) oder nicht disloziert. Diese Verletzung kann als stabil angesehen werden. Typ II: Fraktur des Wirbelbogens mit Beteiligung des Discus intervertebralis, mäßiger Dislokation des Axiskorpus nach ventral (>3 mm) und Angulation (>10 ) gegen HWK 3. Dieser Frakturtyp ist durch die diskoligamentäre Beteiligung instabil. Typ III: Fraktur des Wirbelbogens mit Zerreißung des diskoligamentären Komplexes, zusätzlich mit Ruptur dorsaler Bandstrukturen und ein- oder beidseitiger Luxationsfehlstellung der Facettengelenke HWK 2/3. Häufig besteht eine ausgeprägte Dislokation in Flexion oder eine erhebliche Antelisthese des Axiskorpus gegen HWK 3. Diese schwerste Luxationsverletzung ist hochgradig instabil.

23 a b c Abb. 4 a-c: Einteilung der Axisfrakturen nach Effendi: (a) Typ I; (b) Typ II; (c) Typ III 1.4.4.7. Verletzungen der mittleren und unteren HWS Hier sind die Wirbelkörper bzw. Segmente HWK 3-HWK 7 betroffen. Dabei kann nach dem Unfallmechanismus unterschieden werden zwischen Flexions-, Extensions- und Kompressionsverletzungen [56]. In Abhängigkeit von den betroffenen Strukturen können viele verschiedene Frakturformen unterschieden werden, deren Namen sich zum Teil vom radiologischen Erscheinungsbild herleiten und in der vorliegenden Studie zugunsten der Magerl-Klassifikation nicht verwendet wurden. Diese Frakturen können stabil sein wie z. B. die Avulsionsfrakturen der Dornfortsätze, auch Schipperfrakturen genannt, oder einseitige Lamina-Frakturen. Es kommen aber auch sehr instabile Frakturformen vor wie z. B. die Flexions-teardrop-Fraktur, die Extensions-tear-drop-Fraktur und Berstungsfrakturen, die mit schweren neurologischen Defiziten einhergehen können. 1.4.4.8. Magerl-Klassifikation Speziell für die Verletzungen der Brust- und Lendenwirbelsäule entwickelten Magerl et al. [81] eine umfassende Klassifikation, die von der Arbeitsgemeinschaft für Osteosynthese (AO) übernommen wurde. Deren Anwendung beschränkt sich aber nicht nur auf die thorakolumbale Wirbelsäule, sondern kann auch an der Halswirbelsäule unterhalb und einschließlich des Segments HWK 2/3 erfolgen. Nachfolgend wird das Prinzip der Magerl-Klassifikation eingehender erläutert, da diese Einteilung im Rahmen der Re-Evaluation in der vorliegenden Arbeit besondere Berücksichtigung findet.

24 Grundlage ist ein 2-Säulen-Modell der Wirbelsäule ohne Berücksichtigung isolierter Frakturen der Processus transversi oder der Processus spinosi, die nicht eingeteilt werden. Als Basis der Einteilung dienen bildgebend erkennbare pathomorphologische Charakteristika der Frakturen. Das Verletzungsmuster wird besonders berücksichtigt. Dabei werden axiale Kompressionsverletzungen als Typ A, Läsionen des anterioren und posterioren Wirbelelements mit Distraktionsmechanismus als Typ-B und Verletzung des anterioren und posterioren Wirbelelements mit Rotationskomponente als Typ C bezeichnet. Zusätzlich erfolgt eine weitere Aufgliederung in je 3 Gruppen und mehrere (in der Regel 3) Subgruppen, entsprechend dem allgemeinen Prinzip der AO; die ausführliche Klassifikation beinhaltet außerdem eine weitere Einteilung in bis zu 7 Subgruppen 4. Ordnung. Entsprechend der aufsteigenden Rangordnung nimmt der Schweregrad der Verletzung, insbesondere hinsichtlich Instabilität und neurologischem Defizit, zu. Typ-A-Verletzungen entstehen durch axiale Kompression mit möglicher zusätzlicher Flexionskomponente. Es ist hauptsächlich der Wirbelkörper, also die anteriore Säule, betroffen. Die hintere Säule ist häufig nicht betroffen, höchstens durch einen (für die Stabilität irrelevanten) Längsbruch. Die posterioren ligamentären Strukturen sind intakt, es besteht kein Versatz knöcherner Elemente. A1-Frakturen sind prinzipiell stabil; der Wirbelkörper ist durch Kompression deformiert, aber nicht geborsten. Es liegt keine Fraktur der Wirbelkörperhinterkante vor, der knöcherne Spinalkanal wird nicht eingeengt. A2-Frakturen sind Spaltfrakturen, die in allen Ebenen auftreten können, mit unterschiedlicher Verlagerung der Fragmente. Zusätzlich kann eine Verlagerung von Bandscheibenmaterial in den Frakturspalt auftreten, z. B. bei der Kneifzangenfraktur. A3-Frakturen weisen eine inkomplette oder komplette Berstung des Wirbelkörpers auf, die Hinterkante ist beteiligt. Hinterkantenfragmente können in den Spinalkanal verlagert sein und neuronale Strukturen alterieren. Die hintere Säule (Lamina oder Processus spinosus) kann mit längs verlaufender Spaltbildung beteiligt sein. Die wichtigsten radiologischen Zeichen sind Höhenminderung des Wirbelkörpers, eventuell mit kyphotischer Knickbildung, und ein Längsbruch der Lamina, der zu einer Verbreiterung des Pedikelabstands führt. Fragmente der Hinterkante sind bei Kompressionfrakturen nach dorsal, nicht nach kranial verlagert.

25 a kranialer Keilbruch b frontaler Spaltbruch c inkompl. kranialer Berstungs- (A 1 2 1) (A 2 2) bruch (A 3 1 1) Abb. 5 a-c: Typ-A-Frakturen nach Magerl Typ-B-Verletzungen weisen als Hauptmerkmal eine quer verlaufende Zerreissung mit Distanzierung der anterioren (bei Hyperextensionstrauma) und/oder posterioren (bei Flexions-Distraktions-Verletzung) Säule auf und sind immer instabil. Dadurch kann ein ventraler oder dorsaler Versatz im betroffenen Segment vorliegen. Es besteht eine deutlich höhere Gefahr eines neurologischen Defizits als beim Typ A. B1-Frakturen sind kombinierte Verletzungen der posterioren Säule mit Zerreißung ligamentärer Strukturen, beidseitiger Subluxation, Luxation oder Fraktur der Facettengelenke einerseits mit einer transversalen Diskuszerreißung oder einer Typ- A-Fraktur des Wirbelkörpers andererseits. Eine B2-Fraktur besteht aus einer transversalen Fraktur der posterioren Elemente mit Ruptur der Ligg. supra- et intraspinosa bei gleichzeitiger horizontaler Diskuszerreißung oder Typ-A-Fraktur des Wirbelkörpers. B3-Verletzungen entstehen durch Hyperextensionstraumata und führen zur einer anterioren horizontalen Diskuszerreißung, die mit einer (knöchernen) Verletzung der hinteren Säule und einem Versatz nach ventral oder dorsal kombiniert sein kann. Ein Querschnittssyndrom ist bei dieser Verletzung ist nicht selten. Bildgebend ist eine kyphotische oder selten lordotische Knickbildung anzutreffen, bei Kyphosierung häufig mit einer Vergrößerung der interspinösen Distanz. Posteriore Wirbelanteile und Wirbelgelenke können horizontal oder beidseitig frakturiert bzw. luxiert/subluxiert sein. Ferner können Frakturen der Wirbelkörperabschlussplatten und der Dornforsätze vorliegen.

26 a vordere Luxation b horizontale Zerreißung c Hyperextensions- (B 1 1 2) Pedikel (B 2 2 1) spondylolyse (B 3 3 2) Abb. 6 a-c: Typ-B-Frakturen nach Magerl Von Typ-C-Verletzungen spricht man bei Vorhandensein einer zusätzlichen Rotationskomponente zu den o.g. Frakturtypen. Sie sind in der Regel hochgradig instabil, auch rotatorisch. Neben schweren ossären Läsionen sind auch Rupturen des gesamten diskoligamentären Apparats mit massiven Dislokationen möglich. C1-Frakturen bestehen aus Typ-A-Frakturen mit Rotationskomponente und sind selten. Die häufigen C2-Verletzungen bestehen aus Typ-B-Verletzungen also Flexions-Distraktions-Verletzungen mit gleichzeitiger Rotation. Der schwerste Frakturtyp, die C3-Fraktur, beinhaltet neben der Rotationskomponente auch eine gleichzeitige Scherverletzung und ist die instabilste Frakturform. Bildgebend sind neben den Zeichen der Typ-A- oder Typ-B-Verletzungen eine Lateralisation von Anteilen des Wirbelkörpers, Asymmetrie der Pedikel und eine Achsabweichung der Dornfortsätze erkennbar. a koronare Ansicht WK b sagittale Ansicht c koronare Ansicht Bogen Abb. 7 a-c: Typ-C-Fraktur (Rotationsberstungsbruch, Typ C3.1.1) nach Magerl

27 Tab. 1: Ausführliches Schema der Magerl-Klassifikation Typ-A-Frakturen A1 Wirbelkörperimpaktion A1.1 Endplatteneinbruch A1.2 Keilfraktur A1.2.1 Kranialer Keilbruch A1.2.2 Lateraler Keilbruch A1.2.3 Kaudaler Keilbruch A1.3 Wirbelkörperkollaps A2 Spaltbruch A2.1 Sagittaler Spaltbruch A2.2 Koronarer Spaltbruch A2.3 Kneifzangenbruch (Pinzer-Bruch) A3 Berstungsbruch A3.1 Inkompletter Berstungsbruch A3.1.1 Kranialer inkompl. Berstungsbruch A3.1.2 Lateraler inkompl. Berstungsbruch A3.1.3 Kaudaler inkompl. Berstungsbruch A3.2 Berstungsspaltbruch A3.2.1 Kranialer Berstungsspaltbruch A3.2.2 Lateraler Berstungsspaltbruch A3.2.3 Kaudaler Berstungsspaltbruch A3.3 Kompletter Berstungsbruch A3.3.1 Zangenförmiger Berstungsbruch (Pinzer) A3.3.2 Kompletter Flexionsberstungsbruch A3.3.3 Kompletter axialer Berstungsbruch

28 Typ-B-Frakturen B1 Posteriore, hauptsächlich ligamentäre Zerreißung (Flexions-Distraktions-Verletzung) B1.1 Mit transversaler Zerreißung der Bandscheibe B1.1.1 B1.1.2 B1.1.3 Flexion-Subluxation Anteriore Luxation Flexion-Subluxation/anteriore Luxation mit Bruch der Gelenkfortsätze B1.2 Mit Typ-A-Bruch des Wirbelkörpers B1.2.1 B1.2.2 B1.2.3 Flexion-Subluxation und Typ-A-Bruch Anteriore Luxation und Typ-A-Bruch Flexion-Subluxation/anteriore Luxation mit Bruch der Gelenkfortsätze und Typ-A-Bruch B2 Posteriore, hauptsächlich ossäre Zerreißung (Flexions-Distraktions-Verletzung) B2.1 Transversaler 2-Säulen-Bruch B2.2 Mit transversaler Zerreißung der Bandscheibe B2.2.1 B2.2.2 Zerreißung durch Pedikel und Bandscheibe Zerreißung durch Pars interarticularis und Bandscheibe (Flexionsspondylolyse) B2.3 Mit Typ-A-Bruch des Wirbelkörpers B2.3.1 B2.3.2 Bruch der Pedikel und Typ-A-Bruch Bruch durch die Pars interarticularis und Bandscheibe (Flexionsspondylolyse) und Typ-A-Bruch B3 Anteriore Zerreißung durch die Bandscheibe (Hyperextensions-Scher-Verletzung) B3.1 Hyperextensions-Subluxation B3.1.1 B3.1.2 Ohne Verletzung der hinteren Säule Mit Verletzung der hinteren Säule B3.2 Hyperextensionsspondylolyse B3.3 Posteriore Luxation

29 Typ-C-Frakturen C1 C1.1 Rotationskeilbruch Typ-A-Verletzung mit Rotation (Kompressionsverletzung mit Rotation) C1.2 Rotationsspaltbruch C1.2.1 C1.2.2 C1.2.3 C1.2.4 Sagittaler Spaltbruch mit Rotation Koronarer Spaltbruch mit Rotation Zangenförmiger Bruch (Pinzer-Bruch) mit Rotation Wirbelkörperseparation C1.3 Rotations-Berstungs-Bruch C1.3.1 C1.3.2 C1.3.3 Inkompletter Berstungsbruch mit Rotation Berstungsspaltbruch mit Rotation Kompletter Berstungsbruch mit Rotation C2 Typ-B-Verletzung mit Rotation C2.1 Typ-1-Verletzung mit Rotation (Flexions-Distraktionsverletzung mit Rotation) C2.1.1 Flexion-Subluxation mit Rotation C2.1.2 Flexion-Subluxation mit Rotation mit einseitigem Gelenkfortsatzbruch C2.1.3 Einseitige Dislokation C2.1.4 Anteriore Dislokation ohne/mit Gelenkfortsatzbruch C2.1.5 Flexion-Subluxation mit Rotation ohne/mit einseitigem Gelenkfortsatzbruch und Typ-A-Bruch C2.1.6 Einseitige Dislokation und Typ-A-Bruch C2.1.7 Anteriore Dislokation ohne/mit Gelenkfortsatzbruch und Typ-A-Bruch C2.2 Typ-2-Verletzung mit Rotation (Flexions-Distraktions- Verletzung mit Rotation) C2.2.1 C2.2.3 C2.2.3 Transversaler 2-Säulen-Bruch mit Rotation Einseitige Flexionsspondylolyse mit BS-Zerreissung Einseitige Flexionsspondylolyse und Typ-A-Bruch C2.3 B3-Verletzung mit Rotation (Hyperextensions-Scher- Verletzung mit Rotation) C2.3.1 Hyperextensions-Subluxation mit Rotation ohne/mit Bruch der dorsalen Wirbelelemente C2.3.2 Einseitige Hyperextensionsspondylolyse C2.3.3 Posteriore Dislokation mit Rotation C3 Rotations-Scher-Verletzungen C3.1 Slice (querer) Bruch C3.2 Obliquer (schräger) Bruch

30 1.5. Aufgabenstellung Das im Unfallkrankenhaus Berlin angewendete Konzept bei der Diagnostik potentiell polytraumatisierter Patienten besteht darin, nach der klinischen Erstversorgung der Patienten mit Abdomensonographie im Schockraum die weitere bildgebende Abklärung der Verletzungsfolgen mittels primärer standardisierter Spiral- Computertomographie durchzuführen ohne vorherige Anfertigung konventioneller Röntgenaufnahmen. Basierend auf der Analyse der Daten von 386 aufeinander folgenden Patienten wird dieses Diagnostikkonzept in Bezug auf Verletzungen der Wirbelsäule diskutiert. Dabei sollen folgende Fragestellungen behandelt werden: 1. Ist die Spiral-CT geeignet, Verletzungen der Wirbelsäule sicher zu erfassen und zu klassifizieren unter Verzicht auf die konventionelle Röntgendiagnostik? 2. Welche Rolle spielen die sekundären multiplanaren Reformationen (MPR) bei der Erkennung der Frakturen und bei der Frakturklassifikation? 3. Welche Unterschiede ergeben sich in der Beantwortung der vorstehenden Fragen im Vergleich zwischen der Einzeilen-Spiral-CT und der Mehrzeilen- Spiral-CT? Diese Fragen sollen ausführlich diskutiert und es soll dabei beurteilt werden, welche Möglichkeiten bestehen, die diagnostische Sicherheit für Verletzungen der Wirbelsäule im Rahmen der Polytraumadiagnostik zu erhöhen.