Grundemotionen (Plutchik 1962)

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Transkript:

Dr. Götz Fabry Vorlesung Medizinische Psychologie 31.01.2005: Emotionen Trauer Trauer kann zunächst als die Emotion verstanden werden, die ganz allgemein Verluste begleitet. Der Verlust muß dabei nicht unbedingt eine nahestehende Person betreffen, sondern kann sich auch auf ideelle Werte (z.b. Lebensziele), den sozialen Rang (z.b. bei Arbeitslosigkeit), Körperteile, Körperfunktionen und sonstigen Besitz beziehen. Diese unvollständige Aufzählung macht deutlich, daß sich im Bereich der Medizin zahlreiche Situationen ergeben können, die einen Verlust zur Folge haben, der vielleicht als solcher nicht auf den ersten Blick im Vordergrund steht. Die daraus resultierende Trauerreaktion bleibt dann möglicherweise unverstanden und kann nicht angemessen wahrgenommen werden (Folie 1). Folie 1 Verluste von Körperteilen (z.b. durch Amputation): Verlust der körperlichen Integrität, der Attraktivität, der gewohnten Funktion von sensorischen Funktionen (z.b. Blindheit, Taubheit): Einschränkung der Kommunikationsfähigkeit von kognitiven Funktionen (z.b. Demenz) von engen Bezugspersonen: Eltern, Geschwistern, Kindern, Partnern, Freunden von beruflichen Idealen (z.b. während der ärztlichen Tätigkeit) von Privatleben (z.b. durch zu hohe berufliche Belastung)... Die Frage nach der Funktion der Emotionen, ihrem evolutionsbiologischen Sinn, stellt sich auch bei der Trauer (Folie 2). Am besten versteht man diese Funktion wenn man sich vor Augen führt, welche Bedeutung zwischenmenschlichen Bindungen haben. Man geht davon aus, daß das Bedürfnis nach Bindung ein eigenständiges menschliches Motiv ist, d.h. daß es ein dem Menschen innewohnendes Streben nach engen emotionalen Beziehungen gibt. Aus Sicht der Evolutionsbiologie ist eine solche Annahme vor allem im Hinblick auf die Schutzbedürftigkeit des Säuglings unmittelbar einleuchtend aber auch vor dem Hintergrund der für ein Überleben als Einzelwesen relativ dürftigen biologischen Ausstattung des Menschen. Insofern ist es nicht verwunderlich, daß wir über ein Motivationssystem verfügen, daß Bindungen belohnt, bzw. die Auflösung von Bindungen mit negativen Emotionen bewehrt. Folie 2 Grundemotionen (Plutchik 1962) Reiz-Ereignis Kognition Gefühl Verhalten Wirkung Bedrohung Gefahr Furcht, Schreck Flucht Schutz Hindernis Feind Ärger, Wut Beißen, Schlagen Zerstören möglicher Partner Verlust einer nahen Person Gruppenmitglied scheußlicher Gegenstand neue Umwelt plötzlicher neuer Gegenstand Besitz Freude Werbung und Paarung Isolierung Freund Traurigkeit, Kummer Aufnahme, Vertrauen Hilferuf Herausputzen, Teilen Gift Ekel Erbrechen, Wegstoßen Was ist hier los? Reproduktion Reintegration Anschluß Zurückweisen Erwartung Untersuchen Exploration Was ist das? Überraschung Anhalten Orientierung Dr. Götz Fabry, Abteilung für Medizinische Psychologie, Freiburg. www.medizinische-psychologie.de 1 / 6

Es liegt nahe, daß die individuelle Trauerreaktion durch den Verlauf und die Erfahrungen, die im Laufe der Lebensgeschichte mit Bindungen gemacht wurden, beeinflußt wird. Daher ist ein kurzer Verweis auf die Bindungsforschung notwendig. Der Psychiater und Psychoanalytiker John Bowlby formulierte in den 60er Jahren erstmals seine bis heute einflußreiche Bindungstheorie. Demnach entwickelt das Kleinkind aus der Interaktion mit seinen frühen Bezugspersonen ein sogenanntes inneres Arbeitsmodell von Bindungen. Dieses Arbeitsmodell intergriert die verschiedenen einzelnen Bindungserfahrungen zu einem Gesamtbild, aus dem wiederum Erwartungen und Emotionen für das eigene Bindungsverhalten generiert werden. Die frühen Bindungserfahrungen haben entscheidenen Einfluß auf das Bindungsverhalten im weiteren Verlauf des Lebens. Sie beeinflussen nicht nur die Art und Weise der Beziehungsgestaltung (Gefühl des Vertrauens, der Sicherheit etc.) sondern auch, wie eine Person mit Verlusten umgeht. Die Bindungstheorie wird ausführlicher Gegenstand der Vorlesung im kommenden Semester sein. Obwohl die die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit der Trauer noch relativ jung ist, gibt es eine Fülle von theroretischen Modellen, die sich jeweils verschiedenen Aspekten der Trauer widmen (Folie 3). Nachfolgend soll vor allem auf das psychoanalytische Modell, das Bewältigungsmodell von Worden sowie auf das Stadienmodell von Kübler-Ross eingegangen werden. Die aus der Streßforschung stammenden Modelle werden Thema eigener Vorlesungen sein. Folie 3 Trauer: theoretische Modelle psychoanalytisch (z.b. S. Freud 1915: Trauer und Melancholie ) Streß-, Bewertungs-, Bewältigungs-Modelle (z.b. J.W. Worden, 2 1999: Beratung und Therapie in Trauerfällen ) Stadien-Modelle (z.b. E. Kübler-Ross 1969 Interviews mit Sterbenden ) systemtheoretische Modelle, soziale Unterstützung, soziales Netzwerk Sigmund Freud war einer der ersten, der sich systematisch der Trauer widmete. In seiner Schrift Trauer und Melancholie aus dem Jahr 1915 entwarf er ein psychoanalytisches Modell der Trauerreaktion, das die Theoriebildung stark beeinflußte. Vor allem der darin erstmals verwendete Begriff der Trauerarbeit begründete eine völlig neue Sichtweise insofern, als Trauer seither nicht mehr einfach als eine Reaktion verstanden wird, deren Abklingen einfach nur abgewartet werden muß ( Zeit heilt alle Wunden ), sondern als ein aktiv zu gestaltender Prozeß, der die Lösung verschiedener Aufgaben umfaßt. Vereinfacht dargestellt bestehen nach Freuds Vorstellung libidinöse Bindungen ( energiereiche Bindungen, als Libido bezeichnet Freud die psychische Energie, die den Seelenvorgängen zugrunde liegt) zu Objekten (Bezugspersonen). Geht ein solches Objekt verloren (z.b. durch den Tod) bestehen immer noch zahlreiche Erinnerungen oder intensive Gefühle, die sich auf dieses Objekt beziehen und die die Libido binden, die damit nicht für den Aufbau neuer Bindungen zur Verfügung steht. Im Prozeß der Trauerarbeit geht es also darum, diese libidinösen Bindungen Schritt für Schritt abzubauen, um schließlich neue Bindungen aufbauen zu können (Folie 4). Dr. Götz Fabry, Abteilung für Medizinische Psychologie, Freiburg. www.medizinische-psychologie.de 2 / 6

Folie 4 Trauer: psychoanalytisches Modell Ich Ich Ich neue Bindung libidinöse Bindung Trauerarbeit verlorenes Objekt Sehr konkret faßt J. William Worden in seinem Konzept zur Beratung und Therapie in Trauerfällen die Trauerarbeit auf und formuliert vier Traueraufgaben, die während des Trauerprozesses zu bewältigen sind (Folie 5). Folie 5 Traueraufgaben (Worden 2 1999) 1. Verlust als Realität akzeptieren 2. Trauerschmerz erfahren 3. Anpassung an eine veränderte Umwelt 4. gefühlsmäßige Ablösung vom Verstorbenen Das von Elisabeth Kübler-Ross formulierte Modell der Phasen des Sterbeprozesses (Folie 6) hat innerhalb der Medizin große Beachtung gefunden und wurde schon bald auch auf den Prozeß des Trauerns übertragen, weil sich in der Praxis zeigte, daß hier offensichtlich ganz ähnliche Aufgaben zu bewältigen sind, wie bei der Vorbereitung auf das eigene Sterben. Kritisiert wurde dieses Modell vor allem dafür, daß der Eindruck erweckt wird, die einzelnen Phasen müßten vollständig und in dieser Reihenfolge aufeinanderfolgen (was sicher nicht die Auffassung der Autorin widerspiegelt sondern der häufig verkürzten Wiedergabe ihres Modells geschuldet ist). In der Realität scheint es vielmehr so zu sein, daß die von Kübler-Ross benannten Phänomene in unterschiedlicher Reihenfolge auch mehrmals und unter Auslassung bestimmter Stadien auftreten können (Folie 7). Daß auch Jahre nach einem insgesamt gut bewältigten Trauerprozeß immer wieder kurzzeitig Gefühle der Depression oder des Zorns angesichts des damals erlebten Verlustes aufkommen, scheint empirischen Studien nach durchaus nicht ungewöhlich zu sein. Dr. Götz Fabry, Abteilung für Medizinische Psychologie, Freiburg. www.medizinische-psychologie.de 3 / 6

Folie 6 Trauer: Stadienmodell (E. Kübler-Ross, 1969) 1. Nicht-wahrhaben-wollen, Isolierung 2. Zorn 3. Verhandeln 4. Depression 5. Zustimmung Folie 7 Trauer: Stadienmodell Nicht-wahrhabenwollen, Isolierung Verhandeln Zorn Zustimmung Depression Insgesamt gilt für praktisch alle theoretischen Modelle, daß sie zwar sehr plausible Aussagen über den Prozeß des Trauerns machen, die meist aus der praktischen Erfahrung z.b. der Beratung von Trauernden abgeleitet sind, daß aber empirische Belege im Sinne von Studien zumeist fehlen. So gibt es z.b. sehr unterschiedliche Annahmen darüber, was eigentlich normale und was chronische, abnorme oder pathologische Trauer ist. Auch die Frage, ob eine nur gering ausgeprägte Trauerreaktion eher negative Konsequenzen hat (unter der plausibel erscheinenden Annahme, daß der Betreffende seine wahren Trauergefühle unterdrückt und abwehrt, was zu psychosomatischen Beschwerden führen könnte) oder vielleicht im Gegenteil sogar positive Konsequenzen, ist aus heutiger Sicht nicht eindeutig zu beantworten. Es gibt aber mittlerweile zahlreiche Hinweise darauf, daß sich positive Emotionen während des Trauerprozesses offenbar auch positiv auf die Trauerarbeit auswirken, wie die in Folie 8 dargestellten Befunde zeigen. Dr. Götz Fabry, Abteilung für Medizinische Psychologie, Freiburg. www.medizinische-psychologie.de 4 / 6

Folie 8 Trauer: positive Aspekte 2 Monate nach dem Verlust des Ehepartners gaben 42% der Befragten an, sie wären durch die Trauererfahrung bessere Menschen geworden und 36% gaben an, sie könnten sich über die Freiheit des Alleinseins freuen In den Berichten homosexueller Männer fanden sich einen Monat nach dem Verlust des Partners mehr positive als negative Bewertungen des Trauerprozesses. Je größer der Anteil positiver Bewertungen war, umso besser war der Gesundheitszustand ein Jahr nach dem Verlust. Emotionsbezogene Äußerungen in den Berichten von verwitweten Ehepartnern waren zu 49% positiv getönt, weitere 21% umfaßten sowohl negative wie auch positive Emotionen Lächeln und Lachen während eines Interviews mit verwitweten Ehepartnern 6 Monate nach dem Verlust war ein guter Prädiktor für geringere Trauer nach 3 Jahren verwitwete Ehepartner, die während eines Interviews echtes Lächeln zeigten, berichteten weniger Ärger und mehr Freude, fühlten sich sozial besser integriert und bekamen positivere Rückmeldungen von Fremden, denen ein Video von ihnen gezeigt wurde. Die bisher durchgeführten empirischen Studien zeigen, daß viele Symptome, die man bisher als Ausweis pathologischer Trauer betrachtet hätte, durchaus nicht so ungewöhnlich sind (z.b. Pseudo- Halluzinationen, Derealisationserleben) (Folie 9). Folie 9 Trauer kognitive Störungen: Konzentrationsstörungen, Verwirrtheit, Eingenommensein Identitätsstörungen Zukunftslosigkeit Suche nach Sinn emotionale Störungen: Unbehagen: Ärger, Gereiztheit, Feindseligkeit, Traurigkeit, Angst, Schuld Gram, Sehnsucht Einsamkeit (sozial, emotional) Gesundheitsprobleme: somatische Symptome: Atem-, Herz-, Verdauungsbeschwerden, Appetitlosigkeit, Unruhe, Schlaflosigkeit Störungen der Immunfunktion erhöhte Mortalität soziale Störungen: Rückzug, Isolation negative Gefühlsinduktion Rollenkonflikte Probleme mit neuen Beziehungen Folie 10 zeigt den Verlauf der Trauerreaktion auf der Grundlage bisheriger empirischer Befunde. Interessant ist daran vor allem, daß es offensichtlich eine Gruppe von Personen gibt, die eine geringer ausgeprägte Trauerreaktion zeigen, die aber nicht, wie in vielen theoretischen Modellen vorhergesagt wird, nach einem bestimmten Zeitraum umso größere Schwierigkeiten haben, sondern ebenso wie die Mehrzahl der Personen, die eine normale Trauerreaktion zeigen, nach etwa ein bis zwei Jahren nur noch gering ausgeprägte Trauer empfinden. Dagegen wird die Trauer bei etwa 15% derjenigen, die einen zunächst normalen Verlauf zeigen, zu einem chronischen Prozeß, der professionelle Hilfe erforderlich macht. Ob es sich bei dieser chronischen Trauer um ein eigenständiges Krankheitsbild handelt, oder ob nicht vielmehr Verlust und anschließender Trauerprozeß eine psychische Krankheit ausgelöst haben, die sich als Angsterkrankung, Depression oder posttraumatische Belastungsstörung beschreiben läßt, ist gegenwärtig Gegenstand der Diskussion. Bisher jedenfalls ist die chronifizierte oder pathologische Trauer nicht als eigenständiges Krankheitsbild in den beiden großen Klassifikationssystemen der Psychiatrie (DSM IV bzw. ICD-10, Kapitel F) enthalten. Dr. Götz Fabry, Abteilung für Medizinische Psychologie, Freiburg. www.medizinische-psychologie.de 5 / 6

Folie 10 Verlauf der Trauerreaktion VERLUST erstes Jahr zweites Jahr 15-50% geringe Trauer 85% geringe Trauer 50-85% normale Trauer 15% chronische Trauer Depression Angststörung Posttraumatische Belastungsreaktion Bonanno & Kaltmann 2001 Literaturhinweise: Bonanno GA, Kaltman S: The varieties of grief experience. Clin Psych Rev 21(5): 705-34, 2001. Kächele H, et al.: Entwicklung, Bindung und Beziehung Neuere Konzepte der Psychoanalyse. In: Helmchen et al. (Hrsg.): Psychiatrie der Gegenwart Bd. 1. Berlin 4 1999. Tolstoij, Leo: Der Tod des Iwan Iljitsch. Stuttgart (Reclam). Worden, JW: Beratung und Therapie in Trauerfällen. Bern 2 1999. Dr. Götz Fabry, Abteilung für Medizinische Psychologie, Freiburg. www.medizinische-psychologie.de 6 / 6