Integrationsalternativen für die EU Politischer Wettbewerb oder Harmonisierungskartell? Gerhard Wegner

Ähnliche Dokumente
Europäische Integration

Klaus Zapka. Europaische Wirtschaftspolitik

Europäisierung und Deparlamentarisierung des Bundestags

LE 8: Das Binnenmarktrecht (1 von 5)

ARL-Kongress Karlsruhe, 26. Juni 2014 Dipl.-Jur. Alexander Milstein Zentralinstitut für Raumplanung an der Universität Münster

Inhaltsverzeichnis. Abbildungsverzeichnis 14. Abkürzungsverzeichnis Einleitung 17

Welche Fiskalunion für Europa Vorschlag für einen Europäischen Währungsfonds

Markt ohne Staat? Die Wirtschafts- und Währungsunion

LE 8: Das Binnenmarktrecht (1 von 5)

LE 2: Die Rechtsnatur der Europäischen Union und ihre Rechtsordnung

Europäisches Verfassungsrecht

Grundzüge des Europäischen Gemeinschaftsrechts

Die Sozialunion als Politische Union

Einführung in das politische System der EU: Akteure, Prozesse, Politiken

Buchners Kompendium Politik neu

Schulinterner Lehrplan für das Fach Sozialwissenschaften in der Sekundarstufe II

Inhaltsverzeichnis. Abbildungsverzeichnis Tabellenverzeichnis Abkürzungsverzeichnis. 1 Theorie der Wirtschaftspolitik, Ordnungspolitik 1

Krise der Globalisierung: Rückfall oder Neuordnung?

Gefahren und Chancen Europas

Vorwort zur dritten Auflage 11 Vorwort zur zweiten Auflage 12 Vorwort 13 Wege durch die Wirtschaftspolitik: Eine Lesehilfe 15

SCHULINTERNER LEHRPLAN FÜR DAS FACH POLITISCHE BILDUNG Schuljahr 2011/12 (erstellt von Thomas Nowak)

Schulinterner Lehrplan für das vierstündige Prüfungsfach Politik-Wirtschaft

Übersicht zur Europäischen Integration

Vorwort. Tabellen. Abbildungen. Abkürzungen

Die Zukunft des Staates und der Politik

Inhaltsverzeichnis. I. Demokratie im politischen Mehrebenensystem. Vorwort... 8

Einführung in das EU-Recht

Lehrveranstaltungen. Universität Kassel. Winter 2015/2016 B.A. Vorlesung, FB5 Politikwissenschaft Europäische Integration!?!

Wirtschaftspolitik. Instrumente, Ziele und Institutionen

Zweierlei Rundfunk im dualen System Zweierlei Rundfunkverständnis in Brüssel und Karlsruhe

Wie der Euro Europa spaltet

Europarecht I (Grundzüge des Europarechts)

Anmerkungen zur Verwendung des Schullehrplans im Jahrgang 10

Weiterentwicklung der Europäischen Wirtschafts- und Währungsunion. Thiess Büttner Universität Erlangen-Nürnberg

Europarecht. VII (2). Allgemeine Grundsätze des Unionsrechts


3. Was ist die EU? - Teil 2: eine kategoriale Einordnung 36

Vertrag von Lissabon

Der Binnenmarkt und die europäische Sozialpolitik Prof. Dr. Jürgen Neyer

Hans Adam, Peter Mayer. Europäische Integration. Einführung für Ökonomen. 2., überarbeitete und erweiterte Auflage

ENTWURF DER CHARTA DER GRUNDRECHTE DER EUROPÄISCHEN UNION

Die Eurokrise und die Strategie Europa Vortrag anlässlich der Eröffnung des Projektes NESTOR 6. März 2012 Prof. Dr.

Die Stellung der Telekommunikation im Europäischen Vertrag. von Dr. Konstantinos Goumagias. Lrr

Prof. Dr. iur., LL.M., Direktor des Europa Instituts an der Universität Zürich

Wesentliche Neuerungen des Maastricht-Vertrages

2.1 Theoretische Grundlagen: Spieltheorie, Oligopolwettbewerb, strategische

Europäische Dimension von Wirtschaftsdemokratie

2. Definitionen und Ziele der EU

STUDIENKURS POLITIKWISSENSCHAFT. Siegmar Schmidt I Wolf J. Schünemann. Europäische Union. Eine Einführung. o Nomos

Schulinterner Lehrplan für die Einführungsphase Sozialwissenschaften

ein Zukunftsmodel für Politik und Wirtschaft?

Europäische Wirtschaft Zusammenfassung

Mehrebenenansätze haben sich aus dem funktionalistischen Ansatz entwickelt Supranationalismus

Die rechtliche Ordnung von Geld, Währung und Banken

Thomas Eberhardt-Köster

Schulinternes Curriculum im Fach Sozialwissenschaften

Einleitung Die Asymmetrie in den klassischen Theorien zur Europäischen Integration 10

Eine unvollendete Aufgabe: Die politische Philosophie von Kants Friedensschrift

Informelle Ministerkonferenz zum Thema "Europa vermitteln"

(Mehr) Macht für die EU (?)

STAATSRECHT III. insoweit unterscheidet sich die Geltung des EU-Primärrechts nicht von anderen völkerrechtlichen Verträgen

Die Entwicklung des europäischen Vertragsrechts

Europäische Integration

Schlusserklärung des Donaugipfels am 6. Mai 2009 in Ulm

Fach Wirtschaft. Kursstufe (vierstündig) Schuleigenes Curriculum. Außerschulische Lernorte (Beispiele) und Methoden

Gesellschaftsbildung In der Eurokrise

Einführung in die Integrationsforschung Der Europäische Integrationsprozess im historischen Verlauf

Schuleigener Arbeitsplan

LE 5: Die Rechtshandlungen der EU nach innen und nach außen

Umfrage Beteiligungsportal Europadialog. 10. November 2018

WIE WEITER NACH DEM BREXIT? HANDLUNGSPERSPEKTIVEN FÜR EIN SOZIALES UND DEMOKRATISCHES EUROPA

Gemeinschaftskunde Curriculum Kursstufe 4-stündig

Soziale Marktwirtschaft Entstehungsgeschichte und historische Entwicklung

Der Generalsekretär des Konvents hat den beiliegenden Beitrag von dem Mitglied des Konvents Herrn Dr. Erwin Teufel erhalten.

Allgemeine Wirtschaftspolitik

Die Krise der Eurozone und die Zukunft der EU. Vortrag auf der Tagung des Projekts Nestor Osnabrück, Klaus Busch

EDZ-Systematik (Sekundärquellen)

2. Abschnitt: Europäisches Umweltrecht

Fragen. 1. Was bedeutet Ordnungspolitik und wozu ist sie notwendig? Fragen. 1. Was bedeutet Ordnungspolitik und wozu ist sie notwendig?

LE 2: Die Rechtsnatur der Europäischen Union und ihre Rechtsordnung

Die Themen und Inhalte des Faches Politik-Wirtschaft orientieren sich an dem Kerncurriculum, S

Spezifika des Systemwettbewerbs

(Wahlinfos u.a. Wahlkarten: > Wahlen > EU-Wahl)

Spannungsverhältnis Demokratie. Menschenrechte versus Volksrechte in der Schweiz

Inhaltsverzeichnis. Vorwort zur 1. Auflage. Verzeichnis der Abbildungen Verzeichnis der Tabellen Verzeichnis der Abkürzungen

Die Europäische Union

Vier Wellen der Theorieentwicklung

Inhaltsverzeichnis. Einleitung: Annäherung an den Parlamentsbegriff A. Das Europäische Parlament in seiner Entwicklung: Grundlagen...

Hans Adam, Peter Mayer. Europäische Integration. Einführung für Ökonomen. UVKVerlagsgesellschaft mbh Konstanz mit UVK/Lucius München

Europarecht. VII. Der Binnenmarkt

Schaffung eines Energiebinnenmarkts zum Nutzen aller Verbraucher in der EU

Europapolitische Erwartungen der Freien Wohlfahrtspflege an das Europäische Parlament

Die Europäische Union

Politischer Dialog Brüssel EU-Überregulierung am Beispiel der Entsenderichtlinie

PD Dr. Ansgar Klein BBE Europa-Newsletter 10/2013. Input Bundesnetzwerk Bürgerschaftliches Engagement (BBE)

Forschungsprojekt am IHS. Susanne Pernicka Monika Feigl-Heihs Alfred Gerstl Peter Biegelbauer. im Auftrag des BM:BWK Laufzeit: Oktober 1999-Mai 2002

Das demokratische Dilemma der Euro Rettungspolitik

iniiwiiuiiiii Der deutsche Fingerabdruck Nomos Die Rolle der deutschen Bundesregierung bei der Europäisierung der Grenzpolitik A2007/ 337

I. Vertrag über eine Verfassung für Europa

Transkript:

Integrationsalternativen für die EU Politischer Wettbewerb oder Harmonisierungskartell? Gerhard Wegner

Mitgliedstaatliche Souveränitätsrechte in der Wirtschafts- und Sozialpolitik (innerhalb und außerhalb der Eurozone) u.a.: Rentenpolitik (Renteneintrittsalter, Rentenhöhe) Gesundheitspolitik familienpolitische Leistungen Mindestlöhne Lohnfindungssystem, Arbeitsmarktverfassung z.t. Regulierung von Produkten und Dienstleistungen Steuerpolitik Budgetpolitik (in der Fiskalunion in der Ausgabenhöhe begrenzt), insbesondere hinsichtlich der Ausgabenstruktur (Investitionen, Ausgaben für Bildung) 2

verbreitete Krisendiagnose: mitgliedstaatliche Souveränitätsrechte müssen auf Unionsebene verlagert werden; weiche Koordination (Offene Methode der Koordination) ist durch verbindliche Politikkoordination zu ersetzen Europaarchitekten versus Nationalstaatsorthodoxe (Beck, Cohn-Bendit; Habermas, Bofinger, Nida-Rümelin ) => Ziele der Europäischen Integration, mögliche institutionelle Alternativen, Auswahlkriterien? 3

Zwei Integrationsalternativen für Handelsräume (Tinbergen, International Economic Integration, 1954) negative Integration positive Integration negative Integration (Integration durch Wettbewerb: Beseitigung von Handelshemmnissen (tarifärer und nichttarifärer Art) bei mitgliedstaatlicher wirtschaftspolitischer Autonomie ; kann ökonomische Grundfreiheiten einschließen, die über Freihandel deutlich hinausgehen positive Integration (Integration durch Politik): Vereinheitlichung der Institutionen (z.b. der Rechtsordnung, und Übertragung von wirtschaftspolitischen Kompetenzen auf die höhere Ebene 4

gegenwärtiger Stand der europäischen Integration: sehr weitgehende Verwirklichung der negativen Integration bei wirksamen Ordnungsrahmen für den europäischen Wettbewerb ökonomische Grundfreiheiten (Warenfreiheit, Dienstleistungsfreiheit, Kapitalverkehrsfreiheit, Niederlassungsfreiheit, Freizügigkeit, Ursprungslandprinzip der Regulierung durch Cassis-de- Dijon-Rechtsprechung) verwirklichen Binnenmarkt unmittelbar anwendbares Recht, subjektive (einklagbare Rechte der Bürger) => Integration als evolutionärer Prozess (oft durch Rechtsprechung entscheidend vorangetrieben) 5

Elemente der positiven Integration zunächst auf Schaffung eines Ordnungsrahmens begrenzt: europäisches Wettbewerbsrecht europäische Beihilfenkontrolle europäische Umweltpolitik nach der Bankenkrise auch darüberhinausgehende europaweite Bankenregulierungen (Bankenunion) allerdings bereits seit Maastrichter Vertrag verstärkte Tendenz zur positiven Integration (Industriepolitik, Sozialpolitik, Aufforderung zur Koordination, Titel IX AEUV), Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung nach wie vor Grundlage der EU (durch BVerG bestätigt) 6

polit-ökonomische Folge: Systemwettbewerb zwischen unterschiedlichen mitgliedstaatlichen Politiken (Verknüpfung von politischem und ökonomischem Wettbewerb) demokratische Rückkopplung Folgen für den Wirtschaftsstandort mitgliedstaatliche Wirtschaftspolitik wirtschaftspolitische Performanz Wählerverhalten 7

Barry Weingast (1995, 2006), Market preserving federalism (mehrere Bedingungen, u.a.: hard budget constraints) Streit/Wohlgemuth (1995), Systemwettbewerb als Herausforderung an Theorie und Politik (kritisch hierzu: Sinn, 2003, The New Systems Competion) mitgliedstaatliche Wirtschaftspolitik ist verstärkter Kontrolle durch ökonomischen und politischen Wettbewerb ausgesetzt Möglichkeiten des Protektionismus weitgehend verschlossen, politischer Wettbewerb kann (anders als in autoritären Ländern) nicht außer Kraft gesetzt werden 8

Normative Entscheidungskriterien für Integrationsrichtung Wohlstandsziel (als gemeinschaftliches Ziel der Union vielfach genannt) Bürgersouveränität (demokratische Kontrolle von Politik) => Bürger als Koautoren der Gesetzgebung => Marktwirtschaft plus Demokratie? inhärentes Spannungsverhältnis (Wegner, Ökonomischer Liberalismus als politische Theorie, Tübingen, 2012) 9

allgemeiner Befund: Bürger als Kollektiv von Wohlstandsinteressenten aber nur selten Anhänger einer marktwirtschaftlichen Ordnungspolitik Dauerkonflikt in der Demokratie zwischen wohlstandsfördernder liberaler Ordnungspolitik und einem umverteilenden Wohlfahrts- und Regulierungsstaat ständiger Korrekturbedarf zur Verständigung kollektiver Präferenzen über Wirtschaftspolitik systembedingter Nachteil von Demokratien: Gegenwartsorientierung (zu geringe Zeitpräferenzrate bei kollektivem Handeln) 10

institutionellefolgerung: Demokratien müssen als Lerngemeinschaften ( communities of inquirers, Dewey) ausgelegt sein ( Fehlerfreundlichkeit der politischen Ordnung) Systemwettbewerb institionalisiert kollektive Lernprozesse und vermeidet, dass politische Irrtümer auf eine Vielzahl von Staaten zugleich durchschlagen 11

Alternative: Zentralisierung plus Demokratisierung? Es gibt nur zwei in sich stimmige Strategien zur Überwindung der aktuellen Krise: entweder die Rückkehr zu nationalen Währungen in der EU insgesamt, die jedes einzelne Land den unberechenbaren Schwankungen hochspekulativer Devisenmärkte aussetzen würde, oder aber die institutionelle Absicherung einer gemeinsamen Fiskal-, Wirtschafts- und Sozialpolitik im Euroraum mit dem weitergehenden Ziel, die verlorene Handlungsfähigkeit der Politik gegenüber den Imperativen des Marktes auf transnationaler Ebene wiederzugewinnen. Bofinger, Habermas, Nida-Rümelin (FAZ v. 3. 8. 2012) 12

Sobald wir in der Eurozone den Spielraum für Politiken schaffen, die über nationale Grenzen hinweg Umverteilungseffekte zur Folge haben, muss auch ein europäischer Gesetzgeber, der die Bürger (unmittelbar über das Europäische Parlament und mittelbar über den Rat) vertritt, über diese Politiken beschließen können. Sonst verstoßen wir gegen das Prinzip, dass der Gesetzgeber, der über die Verteilung der Staatsausgaben beschließt, mit dem demokratisch gewählten Gesetzgeber identisch ist, der für diese Ausgaben Steuern erhebt. Bofinger, Habermas, Nida-Rümelin (FAZ v. 3. 8. 2012) 13

Nachteile der demokratischen Zentralisierung : Zunahme der Entscheidungsfindungskosten Anstieg der Duldungskosten bei Majorisierung selbst großer Mitgliedstaaten Entwicklungsunterschiede und Unterschiede in den nationalen Präferenzen machen Fehlangepasstheit zentralisierter Wirtschafts- und Sozialpolitik wahrscheinlicher Zunahme der Verteilungskämpfe zwischen den Mitgliedstaaten und damit der Konflikte Überbeanspruchung der Solidarität bei Versagen nationaler politischer Eliten Verantwortungsdiffusion bei eingeschränkter demokratischer Kontrolle Zunahme der ökonomischen Abschottung gegenüber Drittstaaten wahrscheinlich, um den Reformdruck zu mindern (erklärtes Ziel von Habermas) 14

Verlängerung der Rückkopplungsschleifen zwischen möglichen wirtschaftspolitischen Fehlentscheidungen und Korrektur auf Unionsebene Zentralisierung aufgrund von bürokratischen Eigeninteressen i.d.r. irreversibel => Überlastung des europäischen Apparats Kontrolle der Gesetzgebung durch europäische Öffentlichkeit schon aus praktischen Gründen (Ländervielfalt, Sprachenvielfalt) ausgeschlossen, d.h. Mitgliedstaaten bleiben Primärräume der Demokratie (BVerG) 15

Fazit: Systemwettbewerb fördert Marktwirtschaft und institutionalisiert demokratische Lernprozesse Kultivierung und Nutzung europäischer Vielfalt, Freisetzung ökonomischer Dynamik Bedingung: kollektive Entscheidungen und Folgen müssen zugeordnet bleiben demokratische Zentralisierung von Kompetenzen schädigt auf Dauer die Marktwirtschaft in der EU und unterminiert die Demokratie => Mitgliedstaaten würden tendenziell zu Verwaltungseinheiten herabstuft 16

Konsequenz: Erweiterung der Kompetenzen des Europäischen Parlaments muss verhindert werden; wäre Beginn einer zentralistischen Fassadendemokratie Ziel aller weiteren Integrationsschritte: Förderung von Demokratie und Marktwirtschaft 17