Integrationsalternativen für die EU Politischer Wettbewerb oder Harmonisierungskartell? Gerhard Wegner
Mitgliedstaatliche Souveränitätsrechte in der Wirtschafts- und Sozialpolitik (innerhalb und außerhalb der Eurozone) u.a.: Rentenpolitik (Renteneintrittsalter, Rentenhöhe) Gesundheitspolitik familienpolitische Leistungen Mindestlöhne Lohnfindungssystem, Arbeitsmarktverfassung z.t. Regulierung von Produkten und Dienstleistungen Steuerpolitik Budgetpolitik (in der Fiskalunion in der Ausgabenhöhe begrenzt), insbesondere hinsichtlich der Ausgabenstruktur (Investitionen, Ausgaben für Bildung) 2
verbreitete Krisendiagnose: mitgliedstaatliche Souveränitätsrechte müssen auf Unionsebene verlagert werden; weiche Koordination (Offene Methode der Koordination) ist durch verbindliche Politikkoordination zu ersetzen Europaarchitekten versus Nationalstaatsorthodoxe (Beck, Cohn-Bendit; Habermas, Bofinger, Nida-Rümelin ) => Ziele der Europäischen Integration, mögliche institutionelle Alternativen, Auswahlkriterien? 3
Zwei Integrationsalternativen für Handelsräume (Tinbergen, International Economic Integration, 1954) negative Integration positive Integration negative Integration (Integration durch Wettbewerb: Beseitigung von Handelshemmnissen (tarifärer und nichttarifärer Art) bei mitgliedstaatlicher wirtschaftspolitischer Autonomie ; kann ökonomische Grundfreiheiten einschließen, die über Freihandel deutlich hinausgehen positive Integration (Integration durch Politik): Vereinheitlichung der Institutionen (z.b. der Rechtsordnung, und Übertragung von wirtschaftspolitischen Kompetenzen auf die höhere Ebene 4
gegenwärtiger Stand der europäischen Integration: sehr weitgehende Verwirklichung der negativen Integration bei wirksamen Ordnungsrahmen für den europäischen Wettbewerb ökonomische Grundfreiheiten (Warenfreiheit, Dienstleistungsfreiheit, Kapitalverkehrsfreiheit, Niederlassungsfreiheit, Freizügigkeit, Ursprungslandprinzip der Regulierung durch Cassis-de- Dijon-Rechtsprechung) verwirklichen Binnenmarkt unmittelbar anwendbares Recht, subjektive (einklagbare Rechte der Bürger) => Integration als evolutionärer Prozess (oft durch Rechtsprechung entscheidend vorangetrieben) 5
Elemente der positiven Integration zunächst auf Schaffung eines Ordnungsrahmens begrenzt: europäisches Wettbewerbsrecht europäische Beihilfenkontrolle europäische Umweltpolitik nach der Bankenkrise auch darüberhinausgehende europaweite Bankenregulierungen (Bankenunion) allerdings bereits seit Maastrichter Vertrag verstärkte Tendenz zur positiven Integration (Industriepolitik, Sozialpolitik, Aufforderung zur Koordination, Titel IX AEUV), Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung nach wie vor Grundlage der EU (durch BVerG bestätigt) 6
polit-ökonomische Folge: Systemwettbewerb zwischen unterschiedlichen mitgliedstaatlichen Politiken (Verknüpfung von politischem und ökonomischem Wettbewerb) demokratische Rückkopplung Folgen für den Wirtschaftsstandort mitgliedstaatliche Wirtschaftspolitik wirtschaftspolitische Performanz Wählerverhalten 7
Barry Weingast (1995, 2006), Market preserving federalism (mehrere Bedingungen, u.a.: hard budget constraints) Streit/Wohlgemuth (1995), Systemwettbewerb als Herausforderung an Theorie und Politik (kritisch hierzu: Sinn, 2003, The New Systems Competion) mitgliedstaatliche Wirtschaftspolitik ist verstärkter Kontrolle durch ökonomischen und politischen Wettbewerb ausgesetzt Möglichkeiten des Protektionismus weitgehend verschlossen, politischer Wettbewerb kann (anders als in autoritären Ländern) nicht außer Kraft gesetzt werden 8
Normative Entscheidungskriterien für Integrationsrichtung Wohlstandsziel (als gemeinschaftliches Ziel der Union vielfach genannt) Bürgersouveränität (demokratische Kontrolle von Politik) => Bürger als Koautoren der Gesetzgebung => Marktwirtschaft plus Demokratie? inhärentes Spannungsverhältnis (Wegner, Ökonomischer Liberalismus als politische Theorie, Tübingen, 2012) 9
allgemeiner Befund: Bürger als Kollektiv von Wohlstandsinteressenten aber nur selten Anhänger einer marktwirtschaftlichen Ordnungspolitik Dauerkonflikt in der Demokratie zwischen wohlstandsfördernder liberaler Ordnungspolitik und einem umverteilenden Wohlfahrts- und Regulierungsstaat ständiger Korrekturbedarf zur Verständigung kollektiver Präferenzen über Wirtschaftspolitik systembedingter Nachteil von Demokratien: Gegenwartsorientierung (zu geringe Zeitpräferenzrate bei kollektivem Handeln) 10
institutionellefolgerung: Demokratien müssen als Lerngemeinschaften ( communities of inquirers, Dewey) ausgelegt sein ( Fehlerfreundlichkeit der politischen Ordnung) Systemwettbewerb institionalisiert kollektive Lernprozesse und vermeidet, dass politische Irrtümer auf eine Vielzahl von Staaten zugleich durchschlagen 11
Alternative: Zentralisierung plus Demokratisierung? Es gibt nur zwei in sich stimmige Strategien zur Überwindung der aktuellen Krise: entweder die Rückkehr zu nationalen Währungen in der EU insgesamt, die jedes einzelne Land den unberechenbaren Schwankungen hochspekulativer Devisenmärkte aussetzen würde, oder aber die institutionelle Absicherung einer gemeinsamen Fiskal-, Wirtschafts- und Sozialpolitik im Euroraum mit dem weitergehenden Ziel, die verlorene Handlungsfähigkeit der Politik gegenüber den Imperativen des Marktes auf transnationaler Ebene wiederzugewinnen. Bofinger, Habermas, Nida-Rümelin (FAZ v. 3. 8. 2012) 12
Sobald wir in der Eurozone den Spielraum für Politiken schaffen, die über nationale Grenzen hinweg Umverteilungseffekte zur Folge haben, muss auch ein europäischer Gesetzgeber, der die Bürger (unmittelbar über das Europäische Parlament und mittelbar über den Rat) vertritt, über diese Politiken beschließen können. Sonst verstoßen wir gegen das Prinzip, dass der Gesetzgeber, der über die Verteilung der Staatsausgaben beschließt, mit dem demokratisch gewählten Gesetzgeber identisch ist, der für diese Ausgaben Steuern erhebt. Bofinger, Habermas, Nida-Rümelin (FAZ v. 3. 8. 2012) 13
Nachteile der demokratischen Zentralisierung : Zunahme der Entscheidungsfindungskosten Anstieg der Duldungskosten bei Majorisierung selbst großer Mitgliedstaaten Entwicklungsunterschiede und Unterschiede in den nationalen Präferenzen machen Fehlangepasstheit zentralisierter Wirtschafts- und Sozialpolitik wahrscheinlicher Zunahme der Verteilungskämpfe zwischen den Mitgliedstaaten und damit der Konflikte Überbeanspruchung der Solidarität bei Versagen nationaler politischer Eliten Verantwortungsdiffusion bei eingeschränkter demokratischer Kontrolle Zunahme der ökonomischen Abschottung gegenüber Drittstaaten wahrscheinlich, um den Reformdruck zu mindern (erklärtes Ziel von Habermas) 14
Verlängerung der Rückkopplungsschleifen zwischen möglichen wirtschaftspolitischen Fehlentscheidungen und Korrektur auf Unionsebene Zentralisierung aufgrund von bürokratischen Eigeninteressen i.d.r. irreversibel => Überlastung des europäischen Apparats Kontrolle der Gesetzgebung durch europäische Öffentlichkeit schon aus praktischen Gründen (Ländervielfalt, Sprachenvielfalt) ausgeschlossen, d.h. Mitgliedstaaten bleiben Primärräume der Demokratie (BVerG) 15
Fazit: Systemwettbewerb fördert Marktwirtschaft und institutionalisiert demokratische Lernprozesse Kultivierung und Nutzung europäischer Vielfalt, Freisetzung ökonomischer Dynamik Bedingung: kollektive Entscheidungen und Folgen müssen zugeordnet bleiben demokratische Zentralisierung von Kompetenzen schädigt auf Dauer die Marktwirtschaft in der EU und unterminiert die Demokratie => Mitgliedstaaten würden tendenziell zu Verwaltungseinheiten herabstuft 16
Konsequenz: Erweiterung der Kompetenzen des Europäischen Parlaments muss verhindert werden; wäre Beginn einer zentralistischen Fassadendemokratie Ziel aller weiteren Integrationsschritte: Förderung von Demokratie und Marktwirtschaft 17