Institut Arbeit und Qualifikation Gerhard Bosch Arbeitszeit sozialkritisch beleuchtet Campus Arbeitsrecht Goethe-Universität Frankfurt am Main 25. Februar 2016 Prof. Dr. Gerhard Bosch Universität Duisburg Essen Institut Arbeit und Qualifikation Forsthausweg 2, LE, 47057 Duisburg Telefon: +49 (0)203 / 379-1827; Fax: +49 (0)203 / 379-1809 Email: gerhard.bosch@uni-due.de; www.iaq.uni-due.de
- Hohe Dynamik in der Arbeitszeitentwicklung in den letzten Jahrzehnten - Analysen immer nur vergängliche Zeitaufnahmen - AZ = Spiegel wirtschaftlicher, technischer und sozialer Veränderungen - Gemengelage von Interessen an neuen AZ-formen - Entzerrung dieser Gemengelage notwendig, um Schutz- und Gestaltungsbedarf zu identifizieren - Institutionen (nicht nur AM-Institutionen auch Wohlfahrtsstaat, Steuersystem etc.) zentrale Rolle: Zwischen AZ z.b. in SE, DE und den USA liegen Welten - Gloablisierung und technischer Wandel keine universellen Gleichmacher AZ ist gestaltbar
Gliederung 1. Trends in der AZ-Entwicklung 2. Unternehmerinteressen an neuen AZformen 3. Neue AZ-Wünsche der Beschäftigten 4. Neues Leitbild der AZ-Gestaltung
1.1 Trends in der AZ-Entwicklung 1950 1990 kontinuierliche Verkürzung der tariflichen AZ - Hauptkomponenten: tarifliche Wochen-AZ und Jahresurlaub - Wichtigster Erfolg: Freies Wochenende / Gewinn an kalulierbarer Freizeit - Verkürzung der Lebensarbeitszeit allem für Männer AZ auch in Vergangenheit flexibel: - über Überstunden/Kurzarbeit - prägende Kraft der Normal-AZ - in der Regel Kompensation für unsoziale AZ
1.2 Durchschnittliche vereinbarte Wochen-AZ und Urlaubstage pro Arbeitnehmer 1960-2014 44,6 vereinbarte Wochenarbeitszeit 41,5 40,2 39,0 38,0 38,0 38,1 tariflicher Regelurlaub 21,7 25,7 28,2 29,2 29,3 29,8 15,5 1960 1970 1980 1990 2000 2010 2014 1960 1970 1980 1990 2000 2010 2014 Quelle: IAB-Arbeitszeitrechnung, eigene Zusammenstellung
1.3 Überstunden und Krankheit in Stunden pro Arbeitnehmer/Jahr 1960-2014 bezahlte und nicht bezahlte Überstunden 157 Krankheitsstunden 97 80 73 69 52 46 97 109 109 89 67 55 56 1960 1970 1980 1991 2000 2010 2014 1960 1970 1980 1991 2000 2010 2014 Quelle: IAB-Arbeitszeitrechnung, eigene Zusammenstellung
1.4 Neue Trends in der AZ-Entwicklung seit 1990 (1) Flexible Verteilung der AZ Vielfalt der Flexibilitäten mit unterschiedlichen AZ-Konten (Woche, Monat, Jahr, Produktzyklus, Erwerbsleben) (2) Differenzierung der gewöhnlichen AZ: Von kurzer TZ bis zu langer VZ (3) Verkürzung der Durchschnitts-AZ (aber ohne Lohnausgleich über Zunahme von TZ) erklärt den Beschäftigungsboom der letzten Jahre (4)) Abnehmende Tarifbindung von 85% 1989 auf 60% 2014 damit Bedeutungsgewinn des AZ- Gesetzes und seiner Mindeststandards
1.5 Neue Trends in der AZ-Entwicklung (5) Abnehmende normative Kraft der Normal-AZ (z.b. keine Zuschläge für Überstunden und unsoziale AZ, Entscheidung über Dauer der vertraglichen AZ beim Unternehmer) (6) Entkoppelung von Arbeitsort und AZ (unterschiedliche Formen von mobiler Arbeit) (7) Verlängerung der Lebensarbeitszeit (hohe Ungleichheit des Austritts aus dem Erwerbsleben) (8) Wachsende Differenzierung der Arbeitszeiten nach Haushalten erklärt zum Teil zunehmende Einkommensungleichheit
1.6 Differenzierung der AZ nach Geschlecht 2011 Quelle: Arbeitskräftestichprobe, IAQ- Berechnungen (Angelika Kümmerling)
1.7 Entwicklung der bezahlten und unbezahlten Überstunden pro Arbeitnehmer/Jahr (1991-2014) 50,0 45,0 40,0 35,0 30,0 25,0 20,0 15,0 10,0 5,0 0,0 Bezahlte Überstunden Unbezahlte Überstunden Quelle: IAB-Arbeitszeitrechnung. Stand: 11/2015, eigene Darstellung
1.9 Entwicklung der Teilzeitbeschäftigungsverhältnisse, in Tsd. und in % der Erwerbstätigen, 1994 bis 2014 18.000 45,0 16.000 14.000 12.000 10.000 21,6 22,9 24,2 25,8 27,3 28,3 29,5 30,0 30,7 31,7 33,3 34,3 34,9 35,1 36,0 37,1 37,5 38,1 38,1 38,5 38,6 40,0 35,0 30,0 25,0 8.000 20,0 6.000 15,0 4.000 10,0 2.000 5,0 0 1994 1995 1996 1997 1998 1999 2000 2001 2002 2003 2004 2005 2006 2007 2008 2009 2010 2011 2012 2013 2014 0,0 Teilzeitbeschäftigte Teilzeitquote in % Quelle: IAB Arbeitszeitrechnung 12
1.10 Brutto-Jahresarbeitszeit* pro Haushalt nach Einkommensschicht Quelle: SOEP v29, eigene Berechnungen * Enthält auch bezahlten Urlaub, Feiertage und bezahlte Krankenzeiten
2.1 Unternehmerinteressen - Verlängerung der Betriebs- und Öffnungszeiten - Abbau der Lager AZ wird Flexibilitätspuffer - Verdichtung der Arbeit (hohe Taktzeiten, enge Zeitvorgaben etc.) - Arbeitskräftebindung und gewinnung - Kosteneinsparungen (Arbeitstunden nur nach Bedarf, Vermeidung von Zuschlägen, AZ-Verlängerung ohne Lohnausgleich, Umgehung von Gesetzen und TV etc Vorrat gemeinsamer Interessen mit Beschäftigten aber vor allem beim Geld Gegensätze Deutschland Spitzenreiter in EU bei AZ-flexibilisierung
Betriebszeiten in Stunden pro Woche 2.2 Betriebszeiten in Industrie und Dienstleistungen 2004 70 60 50 61, 5 57,2 63,4 55,2 Industrie Dienstleistungen 51,1 51,5 51,5 51,5 50,1 51,6 59, 4 58,6 40 30 20 10 0 FR DE NL PT ES UK j Quelle : Groß u.a. 2004
2.3 Anteil der Verkürzung der AZ pro Beschäftigten am Rückgang der Arbeitsvolumens insgesamt 2009 100 90 80 70 60 50 40 30 20 10 0 Source: http://www.conference-board.org/economics/database.cfm EUROSTAT (2010a).
2.4 Unternehmerinteressen Blick auf USA zeigt - ohne starken Regulierungsrahmen: Dominanz kurzfristiger Unternehmerinteressen (Lange AZ, kein oder wenig Urlaub, kurzfristige Einsatzplanung, externe Flexibilität, kaum Kompensation unsozialer AZ..) Deutschland unterschiedliche AZ-Welten: (1) Verhandelte Flexibilität: Kompromisse zwischen Unternehmens- und Beschäftigteninteressen z.t. vorbildliche Arbeitszeitmodelle (2) Unilaterale Flexibilität in Betrieben ohne Tarifbindung und Betriebsräten hoher Schutzbedarf der Beschäftigten
3.1 Neue AZ-Wünsche der Beschäftigten Wünsche nach einer Variation der AZ im Erwerbsverlauf Wichtigste Treiber: - Zunahme der Frauenerwerbstätigkeit Aufhebung der Trennung von Erwerbs- und Sorgearbeit - Lebenslanges Lernen - Verkürzung der AZ oder Unterbrechung - Wünsche nach Auszeiten Reaktion auf Zunahme der Belastungen - Flexibler Übergang ins Alter (Bislang erst in der Nachwerbsphase Altersteilzeit fast nur Blockmodell)
3.2 Neue AZ-Wünsche der Beschäftigten - Traditionelles Normalarbeitverhältnis basierte auf dem Modell des männlichen Alleinverdieners mit kontinuierlicher VZ - Kontinuierliche Vollzeitarbeit für männlichen Hauptverdiener - Anreize/Zwänge für geringe oder keine Erwerbstätigkeit der Partnerin (Halbtagsschule/ unzureichende Kinderbetreuung / hohe Grenzsteuersätze bei der Ausdehnung der AZ durch Ehegattensplitting und abgeleitete Sozialversicherungen) Variationen der AZ im Erwerbsverlauf nur auf eigenes Risiko
3.3 Neue AZ-Wünsche der Beschäftigten - Fragmentierung der Frauenerwerbstätigkeit auf der Suche nach individuellen Lösungen der Vereinbarkeit von Beruf und Familie - TZ gewünscht aber hohe Narbeneffekte : Niedriglöhne, unzureichende Weiterbildung, kaum Optionen auf Vollzeit. - Langsamer Umbau des Ordnungsrahmens: Erweiterung der AZ-Optionen durch Ausbau der Kinderbetreuung und Ganztagsschulen, Anspruch auf TZ etc. - Wünsche nach längerer TZ und kürzerer VZ - Aber: Optionen muss man sich leisten können Einkommen entscheidend -
3.4 Erwerbstätigenquote 2001-2012 in Köpfen und in Vollzeitäquivalenten in Deutschland (in %) 80 75 70 65 60 55 50 45 64,3 65,2 66,1 58,7 58,9 58,9 59,2 59,6 61,5 63,2 47,9 49,0 49,8 50,6 46,5 46,4 46,2 45,5 45,7 46,6 67,7 68,0 51,8 52,1 Erwerbstätigenquote der Frauen pro Kopf Erwerbstätigenquote der Frauen pro Kopf in Vollzeitäquivalenten 40 35 30 2001 2002 2003 2004 2005 2006 2007 2008 2009 2010 2011 2012 Quelle: European Commission (2013), Employment and Social developments in Europe 2013
3.6 Arbeitszeiten in verschiedenen Lebensphasen: Deutschland und Schweden (M/F, 2011) 45 40 35 30 25 20 15 10 5 0 Männer Frauen Durchschnittliche gewöhnliche Wochenarbeitszeiten, abhängig Beschäftigte, DE (links) und SE (rechts) Quelle: Arbeitskräftestichprobe, IAQ- Berechnungen (Angelika Kümmerling)
3.7 Arbeitszeitwünsche 2011: Trend zur Konvergenz? Vollzeit Reguläre TZ Geringfügig Männer Frauen Männer Frauen Männer Frauen Tatsächliche AZ (1) Vereinbarte AZ (2) Gewünschte AZ (3) 44,2 42,1 26,2 24,9 13,7 11,6 39,6 38,4 24,5 22,9 14,8 11,1 39,2 36,3 29,4 25,6 21,3 17,5 Diff. (3-1) -5-5,8 3,2 0,7 7,6 5,9 Quelle: IAB 2012 http://doku.iab.de/arbeitsmarktdaten/arbeitszeitwuensche.pdf 25
3.9 Wunsch nach Ausweitung der Arbeitszeit nach Einkommensschichten (Haushalte) 2012 Quelle: SOEP v29, eigene Berechnungen
4.1 Leitbild einer lebensphasenorientierten Arbeitszeitgestaltung Neues flexibles Normalarbeitsverhältnis (Gösta Rehn, 1957 Society of free choice) Schutzfunktionen des alten NAV plus sozial abgesicherte Arbeitszeitoptionen über den Erwerbsverlauf - Verringerung der Narben - Effekte bei Variation der Arbeitszeit - Überwindung der Teilzeitfalle - Optionen in beide Richtungen von VZ in TZ und umgekehrt
4.2 Rahmenbedingungen für neues NAV 1. Verringerung der Einkommensungleichheit 2. Lohnersatz bei gesellschaftlichen anerkannten Freistellungen (Kinder, Weiterbildung, Pflege) 3. Bedarfsgerechter Ausbau der Kinderbetreuung und Ganzstagsschulen 4. Optionen auf TZ und zurück auf VZ Wahl-AZ 5. Neue Arbeitszeitnormen: Kurze VZ und lange TZ 6. Equal pay für alle Stunden (bei Minijobs nicht gewährleistet) 7. Gute Qualifikation und flexible Arbeitsorganisation 8. Hohe Tarifbindung und Vertretung durch BR/PR
5. Schlussfolgerungen Positiv: - Beachtlicher Ausbau von gesetzlichen AZ- Optionen vor allem für Eltern - Viele weiche Regelungen in TV/BV: Müssen für echten Kulturwandel noch mit Leben erfüllt werden Negativ: - Fehlanreize bei marginaler Teilzeit - Einkommensungleichheit beeinträchtigt Wahlfreiheit - AZ-Optionen für Weiterbildung fehlen - Unterschätzung der Wünsche nach AZverlängerung im unteren Einkommensbereich - Hohe Schutzbedarf in tarif- und mitbestimmungsfreien Zonen des Arbeitsmarktes
Literatur: Berg, Peter / Bosch, Gerhard / Charest, Jean 2014: Working-time configurations: a framework for analyzing diversity across countries. In: Industrial & Labor Relations Review 67 (3), S. 805-837 Bosch, Gerhard / Kalina, Thorsten: Die Mittelschicht in Deutschland unter Druck. Internet-Dokument. Duisburg: Inst. Arbeit und Qualifikation. IAQ-Report, 2015-04 Kümmerling, Angelika / Postels, Dominik / Slomka, Christine: Arbeitszeiten von Männern und Frauen alles wie gehabt? Analysen zur Erwerbsbeteiligung in Ost- und Westdeutschland. Duisburg: Inst. Arbeit und Qualifikation. IAQ-Report, 2015-02 Lehndorff, Steffen / Wagner, Alexandra / Franz, Christine 2010: Arbeitszeitentwicklung in Europa. Hrsg. von Thomas Händel und Axel Troost ; in Zusammenarbeit mit der Wolfgang-Abendroth-Stiftungs- Gesellschaft, Fürth. Brüssel: Fraktion der Vereinigten Europäischen Linken / Nordisch Grüne Linke