Bestrafung trotz Schuldunfähigkeit im Zeitpunkt der Tatbegehung? Grundsätzlich muss Schuldfähigkeit im Zeitpunkt der Tatbegehung gegeben sein wenn Art. 19 Abs. 1 StGB eingreift, ist eine Bestrafung grundsätzlich ausgeschlossen. Ausnahme: wenn die Voraussetzungen des Art. 19 Abs. 4 StGB gegeben sind «actio libera in causa» = die zwar nicht in der Ausführung, aber in ihrem Ursprung (causa) freiverantwortete (libera) Tathandlung (actio) Szenario: mehraktiges Geschehen Begehung einer Tat (Vorsatz- oder Fahrlässigkeitsdelikt) im Zustand der Schuldunfähigkeit (SUF) dieser Tat zeitlich vorgelagert: vorsätzliche/fahrlässige Herbeiführung des Zustandes der Schuldunfähigkeit, wobei der Täter die in diesem Zustand begangene Tat voraussehen konnte DONATSCH/TAG, S. 280 ff.; STRATENWERTH, 11 N 32 ff. HS 2016 Strafrecht AT I, Prof. Dr. iur. Gunhild Godenzi Folie 244
Fallbeispiel: Der Nikolaus kommt X. beschloss, den steinreichen P. in dessen Haus zu überfallen. Er wollte ihn niederschlagen und dann alle Wertsachen einsammeln. Zur Tatausführung beschaffte sich X. ein komplettes St. Nikolaus-Kostüm. Im Sack führte er eine entschärfte Handgranate, ein abgesägtes Kleinkalibergewehr, eine Schachtel Schokolade, einen Regenmantel, eine schwarze Reisetasche sowie einen Schreckschussrevolver mit sich. Am 24. Dezember 1992 begab sich X. zum Haus des P. Vor dem Haus blieb er zunächst eine ganze Weile im Wagen sitzen und trank mehrere Flaschen Gin, um sich Mut zu machen. Im Zustand der Schuldunfähigkeit (3,2 Promille BAK) schleppte er sich zum Haus, klingelte und schlug auf P ein, als der ihm die Türe öffnete. Dann brach X zusammen. P alarmierte die Polizei, während er eine dicke Platzwunde am Auge kühlte. (angelehnt an BGE 121 IV 162) HS 2016 Strafrecht AT I, Prof. Dr. iur. Gunhild Godenzi Folie 245
Promille-Rechtsprechung des Bundesgerichts «[ ] keine feste Korrelation zwischen Blutalkoholkonzentration und darauf beruhender forensisch relevanter Psychopathologie; stets sind Gewöhnung, Persönlichkeit und Tatsituation in die Beurteilung einzubeziehen. Als grobe Faustregel kann lediglich davon ausgegangen werden, dass bei einer Blutalkoholkonzentration von unter 2 Promille in der Regel keine Beeinträchtigung der Schuldfähigkeit vorliegt, während bei einer solchen von 3 Promille und darüber meist Schuldunfähigkeit gegeben ist [ ] Bei einer Blutalkoholkonzentration zwischen 2 und 3 Promillen kann somit im Regelfall von einer verminderten Zurechnungsfähigkeit ausgegangen werden. [ ] Diese Vermutung kann jedoch im Einzelfall durch Gegenindizien umgestossen werden.» (BGE 122 IV 50) grobe Faustregel: verminderte Schuldfähigkeit bei einer BAK zwischen 2 und 3 Schuldunfähigkeit bei einer BAK von > 3 HS 2016 Strafrecht AT I, Prof. Dr. iur. Gunhild Godenzi Folie 246
Sind die Voraussetzungen einer a.l.i.c erfüllt, wird der Täter grundsätzlich wegen der im Zustand der SUF begangenen Tat (= wegen eines versuchten oder vollendeten Vorsatzoder Fahrlässigkeitsdeliktes) schuldig gesprochen Einschränkung: bei einem Vorsatzdelikt muss eine vorsätzliche actio libera in causa gegeben sein, damit eine Verurteilung aus dem Vorsatzdelikt erfolgen kann (streitig) ist nur eine fahrlässige actio libera in causa gegeben, kann eine Bestrafung auch nur aus einem Fahrlässigkeitstatbestand erfolgen (streitig) dem Umstand, dass der Täter bei seiner Vorsatztat in Wirklichkeit schuldunfähig war, wird in diesem Falle also durch ein Ausweichen auf den Fahrlässigkeitsvorwurf Rechnung getragen HS 2016 Strafrecht AT I, Prof. Dr. iur. Gunhild Godenzi Folie 247
Voraussetzungen der vorsätzlichen a.l.i.c.: Zu dem Zeitpunkt, als er noch voll schuldfähig war, muss der Täter «Vorsatz» in Bezug auf die Versetzung in den Zustand der Schuldunfähigkeit und «Vorsatz» in Bezug auf die spätere Tatbegehung gehabt haben. Merke: Es reicht doppelter «Eventualvorsatz» in Bezug auf den Ausschluss der Schuldfähigkeit und die potentielle Tatbestandsverwirklichung aus. Bei einem Vorsatzdelikt tritt dieser Doppelvorsatz zu dem regulären Vorsatz des jeweiligen Tatbestandes hinzu, so dass bei der vorsätzlichen a.l.i.c. ein Vorsatz dann insgesamt 3mal zu prüfen ist. HS 2016 Strafrecht AT I, Prof. Dr. iur. Gunhild Godenzi Folie 248
Fallbeispiel: Der Nikolaus kommt Strafbarkeit von X (u.a.) wegen vorsätzlicher Körperverletzung an P (Art. 123 Ziff. 1 Abs. 1 StGB)? TB, RW (+) Schuld: im Tatzeitpunkt schuldunfähig (Art. 19 Abs. 1 StGB), aber Unanwendbarkeit von Art. 19 Abs. 1 StGB wegen a.l.i.c. nach Art. 19 Abs. 4 StGB? hier vorsätzliche a.l.i.c.: vorsätzliche Herbeiführung der Schuldunfähigkeit (Gin) mit dem Vorsatz zu einem späteren Überfall auf P einschliesslich körperlicher Attacke Ergo: Strafbarkeit von X u.a. wegen vorsätzlicher Körperverletzung an P trotz SUF im Tatzeitpunkt HS 2016 Strafrecht AT I, Prof. Dr. iur. Gunhild Godenzi Folie 249
Konstellationen der fahrlässigen a.l.i.c.: Vorsatz-/ Fahrlässigkeitskombination: Täter führt den Zustand der Schuldunfähigkeit vorsätzlich herbei und bedenkt sorgfaltswidrig nicht, dass er in diesem Zustand ein solches Delikt begehen werde (unbewusste Fahrlässigkeit) oder setzt sich im Vertrauen darauf, dass es schon gut gehen werde, über die erkannte Möglichkeit der Straftatbegehung hinweg (bewusste Fahrlässigkeit) Beispiel: A will seinen Liebenskummer in Schnaps ertränken und lässt sich voll laufen. Dabei bedenkt er nicht, dass er in alkoholisiertem Zustand zu Gewalttätigkeiten neigt. Zu denen kommt es auch dieses Mal. Beachte bei fahrlässiger a.l.i.c.: Bestrafung nur wegen eines Fahrlässigkeitsdeliktes möglich (streitig) HS 2016 Strafrecht AT I, Prof. Dr. iur. Gunhild Godenzi Folie 250
Konstellationen der fahrlässigen a.l.i.c.: Fahrlässigkeits-/Fahrlässigkeitskombination: Täter gerät fahrlässig in den Zustand der Schuldunfähigkeit und bedenkt dabei sorgfaltswidrig nicht, dass er in diesem Zustand eine bestimmte Tat begehen werde (unbewusste Fahrlässigkeit) oder setzt sich im Vertrauen darauf, dass es schon gut gehen werde, über die erkannte Möglichkeit einer Straftatbegehung hinweg (bewusste Fahrlässigkeit) Beispiel: A hat kaum geschlafen und einen depressiven Schub. Deshalb unterschätzt er bei Trinkbeginn die Wirkungen des Alkohols enorm. Zugleich ist ihm bewusst, dass er in alkoholisiertem Zustand zu Gewalttätigkeiten neigt. Er ist aber felsenfest überzeugt, sich diesmal beherrschen zu können. Eben das gelingt ihm im Zustand der SUF dann aber doch nicht. Beachte bei fahrlässiger a.l.i.c.: Bestrafung nur wegen eines Fahrlässigkeitsdeliktes möglich (streitig) HS 2016 Strafrecht AT I, Prof. Dr. iur. Gunhild Godenzi Folie 251
Konstellationen der fahrlässigen a.l.i.c.: Fahrlässigkeits-/Vorsatzkombination: Täter gerät fahrlässig in den Zustand der Schuldunfähigkeit und führt darin eine vorab geplante Straftat aus Beispiel: A hat bereits bei Trinkbeginn vor, N umzubringen. Er schläft generell schlecht, daher konsumiert er abends regelmässig eine Menge Alkohol. Bedingt durch seinen labilen Nervenzustand und die Nervosität wegen der geplanten Tat wirken Wein und Schnaps noch sehr viel intensiver als sonst, so dass er in den Zustand der SUF gerät. Beachte bei fahrlässiger a.l.i.c.: Bestrafung nur wegen fahrlässiger Tatbegehung, wenn der Täter dann im Zustand der SUF das vorweg geplante Vorsatzdelikt begeht (streitig) HS 2016 Strafrecht AT I, Prof. Dr. iur. Gunhild Godenzi Folie 252