Sichere Bindungsentwicklung unter erschwerten Startbedingungen Karl Heinz Brisch Kinderklinik und Kinderpoliklinik im Dr. von Haunerschen Kinderspital Abteilung Pädiatrische Psychosomatik und Psychotherapie Ludwig-Maximilians-Universität München
Übersicht Einführung Bindungstheorie Trauma Frühgeburt Prospektive Längsschnittstudie Ergebnisse Zusammenfassung
Einführung Verbesserung der perinatalen und neontalenversorgung Zunahme der Zahl überlebender Frühgeborener Zunahme der Morbidität
Frühgeborene und ihre Entwicklung (1) Sehr kleine Frühgeborene haben eine großes Risiko für Entwicklungsprobleme Kognitive und neurologische Defizite Selten Längsschnittstudien zur emotionalen Entwicklung (Bindung)
Frühgeborene und ihre Entwicklung (2) Die Befunde zur Bindungsentwicklung von Frühgeborenen sind widersprüchlich. Neonatale Risikofaktoren und neurologische Entwicklung müssen als Einflussfaktoren für die emotionale Entwicklung (Bindung) betrachtet werden. In vielen Studien werden diese Zusammenhänge nicht untersucht.
Bindungstheorie Ein Säugling entwickelt im Laufe des ersten Lebensjahres eine spezifische emotionale Bindung an eine Hauptbindungsperson Die Bindungsperson ist der sichere emotionale Hafen für den Säugling Durch Angst und Trennung wird das Bindungssystem aktiviert
Bindungstheorie Durch körperliche Nähe zur Bindungsperson wird das Bindungssystem wieder beruhigt Das Bindungssystem steht im Wechsel mit dem Erkundungssystem Wenn das Bindungssystem beruhigt ist, kann der Säugling die Umwelt erkunden
Feinfühligkeit Die Pflegeperson mit der größten Feinfühligkeit in der Interaktion wird die Hauptbindungsperson für den Säugling große Feinfühligkeit fördert eine sichere Bindungsentwicklung
Bindungsqualitäten bei Reifgeborenen Schutzfaktor Bindung Sichere Bindung (ca. 55-60%) Risikofaktor Bindung Unsichere Bindungen Vermeidend (ca. 15-20%) Ambivalent (ca. 5-10%) Beginnende Psychopathologie der Bindung Desorganisiert (ca. 5-10%) Manifeste frühe Psychopathologie der Bindung Bindungsstörung (ca. 3-5%)
Bindungsrepräsentationen der Erwachsenen sicher-autonom unsicher distanziert verstrickt ungelöstes Trauma
Bindung zwischen den Generationen Zusammenhang zwischen Bindung der Eltern und des Kindes sichere Eltern mit sicheren Kindern Mutter-Kind ca. 75% Vater-Kind ca. 55% unsichere Eltern mit unsicheren Kindern traumatisierte Eltern mit desorganisierten Kindern Kinder, die durch ihre Eltern traumatisiert wurden, entwickeln Bindungsstörungen
Traumatisierung der Eltern durch Frühgeburt Notfall-Entbindung mit Lebensgefahr Verlusterlebnis durch vorzeitige Entbindung High-Tech-Atmosphäre Hilflosigkeit und Ohnmacht Verlustangst durch Erkrankung des Kindes Reaktivierung früherer Traumata Folge Extreme Aktivierung des Bindungssystems
Elternrisiko - Trauma Frühgeburt Akutes Trauma Behinderung Chronisches Trauma Frühere Verlust- / Trennungserlebnisse reaktiviertes Trauma
Traumatisierung des Frühgeborenen durch Intensiv-Pflege Abrupte Trennung von der Mutter Emotionale und kommunikative Deprivation Fehlender Haut- und Körperkontakt mit Eltern Signale werden nicht berücksichtigt Keine Berücksichtigung des Rhythmus Häufige extreme Reize Bedrohung durch Operationen Reanimationen - Todeserfahrung
Kumulatives Entwicklungsrisiko von Frühgeborenen Behinderung Körperlich Kognitiv Emotional
Schutz- und Risiko-Modell der Entwicklung Frühgeburt Eltern Ängste / Traumata Bewältigung Bindungspräsentation soziale Bedingungen Frühgeborenes biologische Risiken der Frühgeburt Komplikationen der neonatalen Behandlung Mutter / Vater-Kind-Interaktion Entwicklung Motorische Entwicklung Kognitive Entwicklung Verhaltensentwicklung Bindungsentwicklung
Studien-Design Sehr kleine Frühgeboren mit Geburtsgewicht < 1.500g Neonatologische Behandlung zwischen 1994 und 1998 in der Universitätskinderklinik Ulm Follow-up bis zum frühen Schulalter (M=6,8 Jahre) Copyright Copyright Karl Heinz Julia Brisch Borns München & K. H. 2013. Brisch Alle München Rechte vorbehalten 2010
Stichprobe N=79 Frühgeborene < 1500g Geburtsgewicht M = 944 g, SD = 284, range = 320-1490 Gestationswoche M = 28 Wochen, SD = 2.7, range = 23-35 Geschlecht 36 männlich 43 weiblich
Bindungsqualität Frühgeborene Alter 14 Monate
Bindungsrepräsentation der Mütter
Bindungsrepräsentation der Mutter und Bindungsqualität des Frühgeborenen (14 Mon. korr. Alter) Unterschied zu Reifgeborenen keine statistisch signifikante Übereinstimmung in den Bindungsmustern Eltern-Kind
Neurologische Entwicklung
Bindung und Neurologie (Chi-Quadrat: 8,169, df=1, p=.004)
Ziel der Follow-up-Studie im Alter 6-7 Jahre Neurologische und kognitive Entwicklung ehemals sehr kleiner Frühgeborener im Alter von 6-7 Jahren Bindungsentwicklung der Frühgeborenen Einfluss der perinatalen Risikofaktoren auf die Entwicklung Elterliche Verarbeitung der Frühgeburtserfahrung
Daten Erhebung aller peri- und postnalen neonatologischen Risikofaktoren Neurologische Untersuchung Kognitive Testung (K-ABC) Bindungsdiagnostik
Perinatale Komplikationen 65% mechanische Beatmung 61% dokumentierte Infektionen 32% Zeichen intraventrikulärer Blutung 25% Zeichen einer Azidose 15% Krampfanfälle 14% Hypoglykämie 9% periventrikuläre Leukomalazie
Kognitive Entwicklung Intelligenz-Quotient M=100.7, SD 14.2 14.9 % IQ < 85 5.7% IQ < 70 (geistige Behinderung)
Einflussfaktoren auf die kognitve Entwicklung im Alter 6-7 Jahre 1. Geburtsgewicht 2. Mütterliche Bildungsgrad 3. Intraventrikuläre Blutung Das Geburtsgewicht hatte den größten Einfluss bei FG mit einem GW < 750g. Mit steigendem Gewicht wurden sozio-ökonomische Faktoren bedeutungsvoller für die Vorhersage der Entwicklung
Neurologische Entwicklung im Altern von 6-7 Jahren 54,8 % neurologisch normal 24,7 % fragliche neurologische Defizite 20,5 % eindeutige neurologische Störung Häufigste neurologische Defizite Ataxie und Koordinationsstörung (32.6%) Sehbehinderung (23.9%) Muskeltonus-Störung (16.3%)
Einflussfaktoren auf die neurologische Entwicklung im Altern von 6-7 Jahren Intraventriculäre Blutung Postnatale Atemprobleme mit Notwendigkeit zur Intubation und Beatmung
Zusammenhang zwischen neurologischer und kognitiver Entwicklung (6-7 Jahre) Ehemalige Frühgeborene mit neurologischen Defiziten haben signifikant niedrigere IQ Werten als neurologisch gesunde Kinder
Bindungsentwicklung im Alter von 6 Jahren (1) 14 Monate (korrigiert) 6 Jahre Follow-up Sicher 63.1% Vermeidend 21.5% Ambivalent 3.1% Desorganisiert 12.3% Sicher 39.1% Vermeidend 47.8% Ambivalent 0% Desorganisiert 13.0%
Neonatales Risiko, Gehirnentwicklung und Bindungsentwicklung (6 Jahren) Desorganisierte Bindung Periventrikuläre Leukomalazie infolge von intrazerebralen Blutungen Postnatale Hypoglykämien Beide Faktoren zeigten einen voneinander unabhängigen Beitrag zu Entwicklung der desorganisierten Bindung
Verarbeitung der Diagnose Frühgeburt 6 Jahre NACH der Geburt Die Bindungsklassifikation unverarbeiteter Verlust/Trauma der Mütter war sehr hoch (40%!) Signifikante Korrelation zwischen Status unverarbeitete Diagnose und PTSD
Neurologisches Risiko und Fütterstörungen Korrelation mit neurobiologischen Risikofaktoren Struggle for control korrelierte positiv mit Gesamt-Morbidität Intraventrikulärer Blutung Hypoglykämie Anzahl der medizinischen Interventionen Dyadic conflict korrelierte positiv mit Dauer der Beatmung, Intubation und CPAP
Ursachen von Bindungsstörungen Multiple unverarbeitete Traumatisierungen von Kindern in der frühen Zeit durch ihre Bindungspersonen Massive Vernachlässigung Emotionale Gewalt Sexuelle Gewalt Körperliche Gewalt Verbale Gewalt Häufig wechselnde Bezugssysteme Multiple Verluste Zeuge von Gewalt zwischen den Bindungspersonen
Prävention bei Frühgeburt Screening der Eltern auf Ängste Bewältigungsstrategien Soziale Unterstützung
Präventive Beratung und Psychotherapie bei Frühgeburt (1) Beratung und Therapie Soziale Unterstützung und Beratung Erlernen von neuen Bewältigungsstrategien Langfristige Betreuung und Traumapsychotherapie
Präventive Psychotherapie bei Frühgeburt (2) Unmittelbar nach der Frühgeburt einsetzende Hilfe Ulmer Modell Elterngruppe Einzel-Psychotherapie Hausbesuch Feinfühligkeitstraining
Ergebnisse der präventiven Psychotherapie bei Frühgeburt Randomisierte Längsschnittstudie Kontrollgruppe n = 44 Interventionsgruppe n = 43 Eltern mit präventiver Psychotherapie Eltern weniger Belastung und Angst Traumatisierte Mütter hatten ca. 8fach höhere Wahrscheinlichkeit für ein sicher gebundenes Frühgeborenes (OR 7,9) Bindung war unabhängig von neurologischer Entwicklung des Kindes Korrelation von sicherer Bindung, besserer kognitiver und Verhaltensentwicklung
SAFE SICHERE AUSBILDUNG FÜR ELTERN SAFE-Spezial Frügeburt www.safe-programm.de Modellprojekt zur Förderung einer sicheren Bindung zwischen Eltern und Kind
Zusammenfassung (1) Neurologisch gesunde Frühgeborene haben eine größere Chance zur Entwicklung einer sicheren Bindung Frühgeborene mit neonatalen neurobiologischen Risikofaktoren haben eine größere Wahrscheinlichkeit zur Entwicklung von Neurologischen Erkrankungen Kognitiven Defizite Unsicherer Bindung Frühgeborene haben eine besonderes Risiko zur Entwicklung von desorganisierter Bindung nach Zerebraler Blutung und Leukomalazie Postnataler Hypoglykämie
Zusammenfassung (2) Frühe psychotherapeutisch orientierte Unterstützung der Eltern könnte die Wahrscheinlichkeit für eine sichere Bindungsentwicklung von Frühgeborenen selbst bei Kindern mit neurologischen Problemen erhöhen
Zusammenfassung (3) Die Minimierung von neurobiologischen Risiken während der neonatologischen Behandlungszeit könnte sich positiv auf die neurologische und die emotionale Entwicklung der Kinder auswirken.
Ausblick in die Zukunft Psycho-Perinatologie Psychosoziale Teams als fester Bestandteil zur Behandlung von Eltern auf der pränatalen Station und während der neonatologischen Behandlungszeit Gesetzliche Verankerung von Psychosozialen Teams als vorgeschriebene Grundausstattung für Perinatalzentren Supervision für ALLE als Pflicht!
Forschungsförderung Deutsche Forschungsgemeinschaft Ludwig-Maximilians-Universität München Universitäts-Klinikum Ulm Köhler-Stiftung Hübner-Stiftung Elternverein für intensiv-pflegebedürftige Kinder Ulm e.v. Fa. Dr. Karl Thomae
Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter Doris Bechinger Susanne Betzler Anna Buchheim Hilde Heinemann Brigitte Köhntop Dieter Kunzke Margret Österle Elisabeth Rehm Jutta Scheppach Gesine Schmücker Tanja Siegmund-Bosch Gabriele Süß Karin Trübel Rainer Ungermann Birgit Vogel Thomas Wörz Christine Kern
Danksagung Mein Dank gilt allen Eltern und ihren Kindern, die mit großem Engagement über viele Jahre an der Längsschnittstudie teilgenommen haben. Ohne sie wäre diese Studie und die daraus gewonnenen Erkenntnisse nie möglich gewesen.
Internationale Konferenz 11. - 13. Oktober 2013 in München Bindung und Psychosomatik Information and Programm www.khbrisch.de
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit! www.safe-programm.de Karl-Heinz.Brisch@med.uni-muenchen.de