Insomnie. Tatjana Crönlein. 2.1 Epidemiologie Symptomatik Formen der Insomnie Differenzialdiagnostik 59

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Transkript:

43 2 Insomnie Tatjana Crönlein 2.1 Epidemiologie 45 2.2 Symptomatik 46 2.3 Formen der Insomnie 48 2.3.1 Alte und neue Klassifikation 48 2.3.2 Akute Form 50 2.3.3 Chronische Form 52 2.3.4 Schwere chronische Form 54 2.3.5 Komorbide Form 56 2.3.6 Sonderform der Insomnie: Schlafwahrnehmungsstörung 57 2.4 Differenzialdiagnostik 59 2.4.1 Wann besteht der Verdacht auf eine andere Schlafstörung? 59 2.4.2 Differenzialdiagnostische Möglichkeiten bei der Insomnie 61 2.4.3 Differenzialdiagnostik der Insomnie und der Depression 62 T. Crönlein et al., Schlafmedizin 1x1, DOI 10.1007/978-3-662-49789-0_2, Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2017

2.5 Erklärungsmodelle 64 2.5.1 3P-Modell 65 2.5.2 Insomnie als Reaktion 66 2.5.3 Hyperarousal 66 2.5.4 Kognitive Theorie 68 2.6 Therapie der Insomnie 70 2.6.1 Komplikationen einer unbehandelten Insomnie 71 2.6.2 Therapieoptionen 72 2.6.3 Psychoedukation und Schlafschule 76 2.6.4 Insomniespezifische Verhaltenstherapie 77 2.6.5 Entspannungsmethoden 77 2.6.6 Psychopharmaka 78

2.1 Epidemiologie 45 2 Die Insomnie gehört zu den häufigsten Störungen in der Medizin mit Prävalenzen um die 10 % der Bevölkerung. Während insomnische Beschwerden bei ca. 30 % der Bevölkerung bestehen, sind primäre Insomnien bei 3 % der Bevölkerung zu finden. Insomnie bezeichnet die Störung des Einschlafprozesses in Abwesenheit einer organischen oder externen Ursache und geht in der Regel mit einer erhöhten Fokussierung auf die Schlafstörung und einer erheblichen Beeinträchtigung der Tagesbefindlichkeit einher. Die Insomnie zeichnet sich grundsätzlich durch eine gute Prognose und Behandelbarkeit aus. Für die Therapie stehen eine Reihe von pharmakologischen Substanzen sowie gut evaluierte verhaltenstherapeutische Programme zur Verfügung. In den Programmen lernt der Betroffene, ohne Medikamente wieder in den Schlaf zu finden. 2.1 Epidemiologie Die Insomnie gehört zu den häufigsten Störungen der Medizin. Prävalenzzahlen zur Insomnie hängen allerdings von den zugrunde liegenden Diagnosekriterien ab, die je nach Klassifikation (ICD-10 oder DSM-5) leicht variieren können. Die Häufigkeit transienter Insomnien kann bis zu 35 % der Bevölkerung betragen, ca. 10 % der Bevölkerung erfüllen die Kriterien einer klinisch relevanten Insomnie, und ca. 3 % zeigen eine primäre Form. Unter Insomnien leiden mehr Frauen als Männer. Sie zeigen sich meist im mittleren Alter, häufiger Beginn sind die Wechseljahren oder nach Abschluss der Berufstätigkeit mit Wegfall der täglichen Arbeitsstruktur. Sie können jedoch in jedem Alter auftreten. > > Ungefähr 10 % der Bevölkerung erfüllen die Kriterien einer Insomnie.

46 Kapitel 2 Insomnie 2.2 Symptomatik Ein- und Durchschlafstörungen sind allen Menschen mehr oder weniger bekannt, und sei es auch nur im Vorfeld eines aufregenden Ereignisses. Diese»Schlafstörungen«gelten als Normvarianten ohne näheren Krankheitswert oder als Befindlichkeitsstörung. Gestörter Schlaf bedeutet also nicht zwangsläufig Insomnie. Personen mit einer Insomnie haben andere Symptome als Menschen, die wenig schlafen, dies zeigen diverse wissenschaftliche Studien an gesunden Schlafdeprivierten. Während Letztere die typischen Zeichen von Schlafmangel aufweisen, nämlich eine erhöhte Tagesschläfrigkeit und ein Nachlassen der Leistungsfähigkeit, sind Insomniepatienten unfähig, den verlorenen Schlaf tagsüber nachzuholen, und sind trotz des schlechten Schlafes noch relativ leistungsfähig. Insomniepatienten zeigen also keine Zeichen einer erhöhten Schläfrigkeit am Tag, sondern eher Zeichen einer erhöhten Anspannung. Die Symptome der Insomnie unterscheiden sich somit von jenen eines akuten Schlafmangels. Wesentliche Symptome der Insomnie 55Probleme mit dem Einschlafen (auch mit dem Wiedereinschlafen bei nächtlichem Aufwachen) 55Schlaf ist auch unter optimalen Bedingungen gestört 55starke Fokussierung auf die Schlafprobleme, die Schlafstörung ist die Hauptbeschwerde 55Anspannung und innere Unruhe 55Angst vor den Folgen der Schlafstörungen 55starke Müdigkeit und ständige Erschöpfung 55Konzentrationsstörungen

2.2 Symptomatik 47 2 Typischerweise wird eine quälend lange Einschlafzeit erlebt, auch nach einem Wiederaufwachen in der Nacht. Die Insomnie ist hauptsächlich eine Einschlafstörung. Die Einschlafstörung besteht unabhängig von den Tagesereignissen und scheint durch keine Regelhaftigkeit voraussagbar zu sein. Die Schlafstörung besteht auch bei optimalen Bedingungen, zum Beispiel im Urlaub. Fallbeispiel Herr D. kann nicht einschlafen, auch im Urlaub nicht. Er hat schon alles versucht, ist gewandert und Fahrrad gefahren, er hat sich richtig ausgepowert. Während alle anderen schlafen können, ist er wach und verzweifelt. Es ist ein Charakteristikum der Insomnie, dass der verlorene Schlaf auch tagsüber nicht willentlich nachgeholt werden kann, ungewolltes Einnicken in monotonen Situationen kann jedoch vorkommen. Tagsüber sind Patienten matt, erschöpft und vermindert belastbar (körperlich und geistig). Bei zunehmender Dauer der Störung rücken der gestörte Schlaf und die Sorge um die Folgen immer weiter in den Lebensmittelpunkt. Stress und vermeintlich schlafstörende Ereignisse werden vermieden. Durch mangelndes Verständnis der Umwelt (»Ich habe auch manchmal schlechte Nächte«) oder durch übertriebene Sorge (»Das kann doch nicht gesund sein«) fühlen sich Betroffene oft unverstanden und isoliert. Durch die Zentrierung der Aufmerksamkeit auf die Schlafstörung erhöht sich der Erwartungsdruck auf den Schlaf noch weiter. Schlaf wird immer unnatürlicher und immer angstbesetzter. Neben der Unfähigkeit zu schlafen und der vermehrten Sorge um den Schlaf besteht bei Insomniepatienten oft eine erhöhte Angst vor den Folgen des Schlafmangels. Diese kann zum Beispiel durch Meldungen in der Presse über die Folgen von Schlafmangel noch verstärkt werden. Die Sorge kann so

48 Kapitel 2 Insomnie stark werden, dass sich ein sekundäres depressives Syndrom bildet. Fallbeispiel Frau Z. weint im Gespräch, sie kann nicht schlafen und fühlt sich auch nicht mehr leistungsfähig. Dabei kann sie sich Fehler in ihrem Beruf als Ärztin nicht leisten. Sie bemüht sich wirklich, alles richtig zu machen, ohne Erfolg. Sie hat Angst um ihre Zukunft. Insomniepatienten sind schon wegen dieser Besorgnis sehr therapiemotiviert und in der Regel relativ gut informiert. Trotz des hohen Leidensdrucks sind die meisten Patienten mit einer Insomnie Schlafmitteln gegenüber eher misstrauisch eingestellt. Sie befürchten Nebenwirkungen und Abhängigkeit. Andererseits befürchten Sie auch die Folgen von zu wenig Schlaf. So kommt eine oft unorthodoxe Art der Hypnotikaeinnahme zustande, mit einer regelmäßigen Einnahme von Niedrigstdosen auch mitten in der Nacht. Fallbeispiel Frau H. möchte eigentlich keine Medikamente. Sie hat die Abhängigkeit schon bei ihrer Mutter beobachtet. Um dies zu vermeiden, versucht sie es immer wieder ohne Schlafmittel. Wenn es dann nicht klappt, nimmt sie doch wieder etwas. Meist teilt sie die Tablette oder viertelt sie. Wenn sie nachts aufwacht und nicht schlafen kann, nimmt sie die andere Hälfte. 2.3 Formen der Insomnie 2.3.1 Alte und neue Klassifikation In der ICD-10 wird die nicht organische Insomnie unter F51.0 klassifiziert. Hier ist neben dem gestörten Schlaf das

2.3 Formen der Insomnie 49 2 Symptom»Schlaf wird als Hauptbeschwerde gesehen«vordergründig, was weist auf die starke psychische Beteiligung bei dieser Störung hinweist. Die frühere Version der Internationalen Klassifikation für Schlafstörungen (ICSD-2) sah darüber hinaus unterschiedliche Formen der Insomnie vor: psychoreaktive Insomnie, psychophysiologische Insomnie, paradoxe Insomnie, Insomnie bei psychiatrischer Erkrankung und Insomnie durch Substanzmittelgebrauch. In dieser alten Einteilung wurde noch nach psychoreaktiv und psychophysiologisch unterschieden. Unter einer psychoreaktiven Insomnie wird eine Schlafstörung im Sinne einer vegetativen Stressreaktion verstanden, psychoreaktive Insomnien treten also im Verbund mit einer Krisensituation auf. Die psychophysiologische Insomnie hingegen kann auch ohne nachvollziehbaren Grund auftreten und wird durch eine wechselseitige Beeinflussung physiologischer Anspannung, dysfunktionalem Denken und der Erfahrung des gestörten Schlafes aufrechterhalten. Unter einer paradoxen Insomnie wird eine Schlafwahrnehmungsstörung verstanden, die weiter unten beschrieben wird. Diese nosologische Unterteilung hat sich jedoch im klinischen Gebrauch als nicht praktikabel erwiesen. Außerdem wurde die Einteilung zwischen primärer und sekundärer Insomnie aufgegeben, da sich bei beiden Formen typische klinische Charakteristika zeigen, die letztendlich auf dieselben therapeutischen Verfahren ansprechen. In der ICSD-3 werden die Insomnien daher anders unterteilt, hier wird zwischen akuter und chronischer Insomnie differenziert. Für die ärztliche Praxis ist eine Einteilung relevant, die den unterschiedlichen Schweregraden einer Insomnie Rechnung trägt (. Tab. 2.1).

50 Kapitel 2 Insomnie.. Tab. 2.1 Verlaufsformen der Insomnie Form Akute Form Chronische Form Schwere chronische Form Komorbide Form Kurzbeschreibung Kurzer Zeitraum der Schlafstörung, in der Regel mit erinnerbarem Auslöser oder Beginn Schlafstörung unabhängig von erkennbaren Auslösern, Fixierung auf die Insomnie mit depressiver Überformung (z. B. Gereiztheit, Probleme mit der Konzentration), Beeinträchtigung der Tagesbefindlichkeit. Mindestdauer 3 Monate Mindestens ein gescheiterter Therapieversuch wegen Insomnie, Krankschreibungen oder Aufenthalte in psychosomatischen Kliniken wegen der Schlafstörung Mindestens eine andere Erkrankung 2.3.2 Akute Form Bei der akuten Form finden sich in der Regel Auslöser im psychosozialen Umfeld (Umzug, Trennung, Probleme bei der Arbeit o. ä.), die zu einem erhöhten Stressniveau und somit zu erschwertem Einschlafen führen. Die Patienten zeigen häufig eine eher gedrückte Stimmung und können den Auslöser (manchmal nach einer etwas längeren Exploration) auch thematisieren. Die akute Form kann jedoch auch ohne ersichtlichen Grund auftreten. Die Patienten suchen dann den Arzt auf, weil sie sich die Einschlafstörungen nicht erklären können.

2.3 Formen der Insomnie 51 2 Vorgehen bei akuter Insomnie 55Aufklärung über den Zusammenhang zwischen Belastung, Stress und Insomnie 55schlafhygienische Maßnahmen 55Schlafprotokoll 55falls erwünscht, kurzwirksames Hypnotikum oder pflanzliches Präparat 55Wiedervorstellung nach ca. 4 Wochen Bei dieser Form reicht in der Regel eine Kurzintervention in Form einer Psychoedukation über richtiges Verhalten bezüglich des Schlafes und/oder die Gabe eines Schlafmittels aus. Die Psychoedukation kann auch in Form der Empfehlung eines Ratgebers erfolgen (z. B. der Patientenratgeber der Deutschen Gesellschaft für Schlafforschung und Schlafmedizin, online verfügbar unter www.dgsm.de/ patienten informationen_ratgeber.php). Viele Patienten lassen sich schon durch die Information beruhigen, dass der gestörte Schlaf eine normale Reaktion auf den Stressor sein kann. Fallbeispiel Frau P. ist Studentin, sie ist in den Examensvorbereitungen und setzt sich sehr unter Druck. In den letzten Wochen bemerkt sie, dass sie immer schlechter einschlafen kann und oft zu früh erwacht. Sie kommt dann ins Grübeln und wird immer wacher. Tagsüber fühlt sie sich minderbelastbar, kann sich schlecht konzentrieren und wird immer angespannter. Sie hat allmählich das Gefühl, gar nicht mehr entspannen zu können. Frau P. hat von ihrem Arzt Zaleplon bekommen, außerdem Informationen über den richtigen Umgang mit dem Schlaf. Der Schlaf hat sich durch beide Maßnahmen rasch stabilisiert.

52 Kapitel 2 Insomnie Bei der akuten Form der Insomnie ist eine rasche professionelle Intervention notwendig, um eine Chronifizierung der Störung zu vermeiden. 2.3.3 Chronische Form Die chronische Form der Insomnie wird in der dritten Ausgabe der Internationalen Klassifikation für Schlafstörungen (ICSD-3) nach einer Mindestdauer von 3 Monaten diagnostiziert. Die chronische Insomnie wurde früher psychophysiologische Insomnie genannt, sie wird durch ein Wechselspiel von erhöhter Anspannung, vermehrter Fokussierung auf den Schlaf und schlafbezogenen Ängsten aufrechterhalten. Diese Form der Insomnie wird häufig durch Stress ausgelöst, verselbstständigt sich dann jedoch. Die Patienten erleben die fehlenden Auslöser als beängstigend und haben in der Regel das Gefühl, dass mit ihrem»körper etwas nicht in Ordnung«ist. Diese chronische Form der Insomnie kann sich unter Umständen über Jahre hinziehen. Die Patienten erleben dabei einen erheblichen Verlust an Lebensqualität und entwickeln oft subdepressive Symptome. Bei der chronischen Form der Insomnie hat sich bereits ein Teufelskreis aus schlechtem Schlaf, Verminderung der Leistungsfähigkeit, Angst vor den Folgen der Schlafstörung, verstärkter Fokussierung auf den Schlaf und erhöhter Anspannung entwickelt (. Abb. 2.1). Die Patienten erleben sich wie gefangen in der vermehrten Beobachtung des Schlafes, den damit verbundenen Ängsten, der erhöhten Anspannung, die sich schließlich als Einschlafstörung weiter manifestiert.

2.3 Formen der Insomnie 53 2 Teufelskreis Insomnie Eingeschränkte Tagesbefindlichkeit Nachlassende Leistungsfähigkeit Gestörtes Einschlafen Erwartung: schlechter Schlaf Dysfunktionales Verhalten Erhöhte körperliche und psychische Anspannung Angst vor Schlaflosigkeit Vermehrte Selbstbeobachtung.. Abb. 2.1 Teufelskreis Insomnie Vorgehen bei chronischer Insomnie 55Differenzialdiagnostische Abklärung im Falle von Übergewicht Alter über 60 Jahren Depressivität 55Aufklärung über Behandlungsmöglichkeiten: Verhaltenstherapie und Psychopharmakologie 55falls erwünscht: Empfehlung einer insomniespezifischen Verhaltenstherapie 55falls erwünscht: pharmakologische Behandlung mit einem Hypnotikum Bei der chronischen Form ist eine störungsspezifische Verhaltenstherapie indiziert (7 Kap. 8). Zur Überbrückung kann eine Intervalltherapie mit Hypnotika stattfinden oder eine Medikation mit einem sedierenden Antidepressivum, wenn sich bereits depressive Symptome zeigen. Bei der Intervalltherapie kann das Hypnotikum intermittierend genommen werden, beispielsweise kann vereinbart werden, nur an be-

54 Kapitel 2 Insomnie stimmten Wochentagen und dann nur bei Bedarf das Schlafmittel zu nehmen. Bei der chronischen Form der Insomnie sollte auch an mögliche andere schlafmedizinische Ursachen gedacht werden. Zur differenzialdiagnostischen Abklärung empfiehlt es sich hier unter Umständen, den Patienten an ein schlafmedizinisches Zentrum oder einen Schlafmediziner zu überweisen. Fallbeispiel Frau H. ist 72 Jahre alt. Seit dem Tod ihres Mannes vor 4 Jahren kann sie nicht mehr einschlafen. Sie sei Anfangs mit Zolpidem behandelt worden, worunter sich das Einschlafen zwar verbessert habe, sie habe jedoch noch schlechter geschlafen. Jetzt nehme sie Valdoxan und bei Bedarf eine Tablette Normoc. Der Schlaf ist nicht besser geworden. Sie wurde zur weiteren Abklärung in ein Schlaflabor geschickt, dort wurde ein Schlafapnoesyndrom festgestellt, das nur in Rückenlage auftritt. 2.3.4 Schwere chronische Form Die schwere chronische Form zeichnet sich durch eine erhebliche Steigerung im Schweregrad aus. Sie ist in dieser Form zwar nicht in der ICSD-3 beschrieben, hat aber therapeutische Konsequenzen im klinischen Alltag und wird deshalb hier aufgeführt. Die Patienten sind dann nur noch eingeschränkt oder nicht mehr arbeitsfähig, leiden unter erheblichen Zukunftsängsten und dies trotz einer Hypnotikaeinnahme. In der Regel betonen die Patienten,»alles probiert«zu haben, und beschreiben sich als einen hoffnungslosen Fall. In diesem Stadium kann der Kontakt zu ihnen schwierig werden, da sie einerseits recht fordernd sind, andererseits dazu neigen, Therapievorschläge zu entwerten.

2.3 Formen der Insomnie 55 2 Zeichen einer schweren chronischen Insomnie 55Nichtansprechen verschiedener Therapeutika 55chronischer Low-dose-Hypnotikagebrauch 55Patient hat Angst um seine Berufsfähigkeit bzw. die Erfüllung der Alltagspflichten 55Entwicklung sekundärer depressiver Symptome: Hoffnungslosigkeit depressive Verstimmungen oder Gereiztheit sozialer Rückzug Bei diesen Patienten wird nicht selten die Diagnose einer Depression gestellt. Sie fühlen sich dann unter Umständen missverstanden und wollen keine Antidepressiva nehmen. Auch wenn es schwierig ist, diese beiden Störungen im Querschnitt zu unterscheiden, gibt es doch Charakteristika, welche die chronische und schwere Insomnie von einer Depression unterscheiden. In schweren Fällen der Insomnie hat sich eine intensivierte Form der störungsspezifischen Verhaltenstherapie, zum Beispiel im stationären Rahmen, bewährt. Eine schwere chronische Insomnie sollte in einem Schlaflabor abgeklärt werden. Nicht selten verbergen sich hier unerkannte andere Schlafstörungen. Fallbeispiel Frau V. hat seit einem Jahr eine Insomnie. Sie ist Mutter zweier schulpflichtiger Kinder und arbeitet als Wissenschaftlerin in einem Pharmaunternehmen. Sie ist durch die Schlafstörung erheblich belastet und wird zunehmend ängstlicher, je mehr sie merkt, dass die Schlafmittel eigentlich nur kurzfristig helfen. Ausgelöst wurde die Insomnie durch eine schwere Erkrankung ihrer Tochter, die mittlerweile jedoch wieder gesund ist. Bei Frau V. dreht sich mittlerweile alles um den gestörten Schlaf und ihre Müdigkeit. Ihr wurde bereits geraten, eine längere Auszeit vom

56 Kapitel 2 Insomnie Berufsleben zu nehmen, sie arbeite aber sehr gerne. Nun weiß sie nicht mehr, was sie noch tun kann. Sie kann sich kaum noch freuen und ist immer hoffnungsloser geworden. In vielen Fällen kann auch ein psychosomatischer Aufenthalt mit Schwerpunkt Schlaf helfen. 2.3.5 Komorbide Form Die komorbide Insomnie ist eine Insomnie, die mit einem anderen medizinischen Krankheitsbild auftritt, von dem eine wechselseitige Beziehung angenommen werden kann. Dies können sowohl internistische als auch psychiatrische Krankheitsbilder sein. Die andere Störung wird dabei nicht als auslösend oder aufrechterhaltend angesehen; dies wurde vormals als sekundäre Insomnie bezeichnet. Beispielweise können chronische Schmerzsyndrome insomnische Beschwerden verursachen. Hier sollte jedoch der Schmerz und nicht die Schlafstörung behandelt werden. Die komorbide Insomnie kann zum Beispiel bei einem behandelten Schlafapnoesyndrom auftreten. Das Erkennen der zusätzlichen Insomnie ist nicht einfach und wird oft erst im Verlauf möglich. Auch wenn eine Schlafstörung die Ursache einer Erkrankung zu sein scheint, sollte bei einer Schlafstörung, die trotz Behandlung der anderen Erkrankung persistiert, auch immer an eine komorbide Insomnie gedacht werden. Fallbeispiel Herr O. leidet unter Schlafstörungen und ist übergewichtig, außerdem schnarcht er. In einem Schlaflabor wurde ein ausgeprägtes Schlafapnoesyndrom festgestellt. Er wurde auf CPAP eingestellt, hatte leider aber erhebliche Probleme mit der CPAP-Therapie. Er meint, er könne ohnehin nicht schlafen, wie sollte das dann mit dieser Maske im Gesicht funktionieren?

2.3 Formen der Insomnie 57 2 Ein weiteres häufiges Beispiel komorbider Insomnie ist die Depression. Auch hier ist die Unterscheidung schwierig, da Schlafstörungen nahezu regelhaft bei Depressionen auftreten. Wenn die Schlafstörung jedoch persistiert, obwohl die Stimmung sich bereits gebessert hat, sollte auch an eine komorbide Insomnie gedacht werden. > > Im Gegensatz zur klassischen sekundären Insomnie, bei der die zugrunde liegende Ursache alleine behandelt werden kann, sollte bei der komorbiden Insomnie immer auch eine insomniespezifische Behandlung stattfinden. Eine mögliche Wechselwirkung einer therapeutischen Maßnahme (z. B. eines Hypnotikums bei Vorliegen einer schlafbezogenen Atmungsstörung) mit der jeweilig anderen Störung liegt im Ermessen des Arztes. Grundsätzlich ist es hilfreich, den Patienten über schlafhygienische Maßnahmen zu informieren und bei ausgeprägter Insomnie eine Verhaltenstherapie zu empfehlen. Hier sind die wenigsten unerwünschten Nebenwirkungen auf andere Störungen zu erwarten. 2.3.6 Sonderform der Insomnie: Schlafwahrnehmungsstörung Schlafwahrnehmung bedeutet die Güte der Einschätzung, ob und wie viel ich geschlafen habe. Um dies festzustellen, bedarf es einer Polysomnographie. Es gibt Patienten, die ihren Schlaf überhaupt nicht wahrnehmen können. Sie äußern Sätze wie:»ich war tagelang ohne Schlaf.«Oder:»Ich komme einfach nicht mehr in den Schlaf.«Hierbei handelt es sich um eine extreme Form der Insomnie. Diese Insomniepatienten leiden an nahezu totaler Schlaflosigkeit, die jedoch nur subjektiv so empfunden wird. Sie berichten typischerweise, im Bett»nur zu liegen«und

58 Kapitel 2 Insomnie»vielleicht zu dösen, aber nicht zu schlafen«. Eine Polysomnographie zeigt aber einen allenfalls leicht gestörten Schlaf, teilweise auch völlig ungestörte Schlafprofile. Viele Patienten sind erstaunt bis fassungslos, wenn man sie über die Diskrepanz zwischen dem gemessenen und dem subjektiven Schlaf aufklärt. Die Schlafwahrnehmungsstörung ist sehr selten und nicht mit einer Unterschätzung des Schlafes bei Insomniepatienten generell zu verwechseln. Es gibt für diese Störung noch kein gesichertes Behandlungskonzept, allerdings verbessern Hypnotika in der Regel die Wahrnehmung des Schlafes. Eine Überprüfung im Schlaflabor ist auf jeden Fall indiziert, da sich ein Großteil der Patienten durch die Aufklärung über ihren objektiv gemessenen Schlaf beruhigen lässt. Nur in seltenen Fällen zeigt die Polysomnographie tatsächlich ein stark gestörtes Schlafprofil. Folgende Symptome sprechen für das Vorliegen einer Schlafwahrnehmungsstörung: Symptome einer Schlafwahrnehmungsstörung 55Hohe Anzahl an nahezu schlaflosen Nächten 55relativ milde Tagesbeeinträchtigung 55fehlendes Einnicken am Tag 55eingeschränkte Wirkung von Hypnotika 55vermehrtes Aufzählen von»beweisen«, dass nicht geschlafen wurde Wovon hängt die Schlafwahrnehmung ab? Man weiß bis heute nicht, warum einige Patienten ihren Schlaf nicht einschätzen können. Studien haben gezeigt, dass eine gezielte Aufklärung der Patienten über ihren individuellen physiologischen Schlaf die Wahrnehmung verbessert. Ein weiterer Grund für die gestörte Wahrnehmung wird in der Fragmentation des Schlafes vermutet. Insomniepatienten zeigen ver-

2.4 Differenzialdiagnostik 59 2 mehrte Mikrounterbrechungen des Schlafes, und man vermutet, dass der Schlaf deswegen nicht mehr als zusammenhängend und erholsam wahrgenommen werden kann. Schließlich dürften nächtliche längere Wachzeiten eine Rolle spielen, wahrscheinlich können die Schlafzeiten dazwischen nicht mehr wahrgenommen werden. Wie sollte der Arzt reagieren? Die Störung der Schlafwahrnehmung ist kein Zeichen einer hysterischen Überformung des insomnischen Krankheitsbildes. Sätze wie:»das bilden Sie sich nur ein«sind nicht hilfreich und zerstören nur das Vertrauensverhältnis zwischen Arzt und Patient. Wichtig ist vielmehr, den Patienten mit dieser Wahrnehmungsstörung ernst zu nehmen.»die Wahrnehmung des Schlafes bei Insomniepatienten zeichnet sich durch Besonderheiten aus.«oder:»man weiß, dass Insomniepatienten Probleme haben, den physiologischen Schlaf richtig einzuschätzen.«2.4 Differenzialdiagnostik 2.4.1 Wann besteht der Verdacht auf eine andere Schlafstörung? Untersuchungen zeigen, dass der Anteil an unerkannten organischen Schlafstörungen bei Patienten mit einer vermeintlich primären Insomnie bei ca. 20 % liegt, dennoch wird die Differenzialdiagnostik bei einer Insomnie leider häufig unterschätzt. > > Etwa 20 % der chronischen Insomniepatienten mittleren Alters haben eine unerkannte schlafbezogene Atmungsstörung. Die Insomnie ist also grundsätzlich von unbehandelten organisch bedingten Schlafstörungen und psychiatrischen Störungen abzugrenzen, da die insomniespezifische Behand-

60 Kapitel 2 Insomnie lung zu einer Verschlechterung der anderen Störung führen kann. Beispielsweise kann die Gabe eines Benzodiazepins zu einer Verschlechterung einer schlafbezogenen Atmungsstörung führen. Vor allem bei Patienten mittleren Alters sollte relativ früh im therapeutischen Prozess auch an die Möglichkeit einer unerkannten anderen Schlafstörung gedacht werden. Eine differenzialdiagnostische Abklärung ist bei folgenden Symptomen und Eigenschaften des Patienten indiziert: Indikationen zur Differenzialdiagnostik Symptome und Kriterien, die eine weiterführende Differenzialdiagnostik bei insomnischen Beschwerden nahelegen: 55Übergewicht 55mittleres Lebensalter 55starkes und unregelmäßiges Schnarchen 55Restless-legs-Symptome 55ungewolltes Einnicken in monotonen Situationen (sozial unerwünscht) 55Gefahr müdigkeitsbedingter Unfälle für die eigene Person oder die Umwelt 55Therapieresistenz bei Hypnotika Insbesondere bei Patienten ab 50 Jahren sollte an eine organische Schlafstörung gedacht werden. Auch bei Frauen kann es im Zuge der allgemeinen Schwächung des Gewebes zu einer Zunahme von schlafbezogenen Atmungsstörungen kommen. Bei dieser Patientengruppe sollte also nach Anzeichen einer schlafbezogenen Atmungsstörung, wie zum Beispiel Schnarchen, und nach Zuckungen der Beine während des Schlafes (Verdacht auf periodische Beinbewegungen im Schlaf) gefragt werden. Falls solche Symptome bestehen, sollte vor der Therapie der Insomnie dem nachgegangen werden. Hier empfiehlt sich die Überweisung zu einem

2.4 Differenzialdiagnostik 61 2 Schlafmediziner oder die Durchführung der entsprechenden diagnostischen Maßnahmen, beispielsweise eines Apnoe-Screenings (7 Kap. 10). Ein weiteres wichtiges Kriterium für eine differenzialdiagnostische Abklärung ist eine erhöhte Monotonieintoleranz, also ein vermehrtes Einnicken in monotonen Situationen, vor allem wenn der Betroffene einer Tätigkeit nachgeht, bei der er die eigene Person oder andere gefährden kann. Zu den Risikogruppen gehören zum Beispiel Kraftfahrer, Piloten und Busfahrer. Schließlich sollte im Fall eines Nichtansprechens auf Hypnotika differenzialdiagnostisch weiter vorgegangen werden. 2.4.2 Differenzialdiagnostische Möglichkeiten bei der Insomnie Für die differenzialdiagnostische Abklärung kann eine genauere Anamnese bezüglich relevanter Symptome schon richtungsweisend sein. Im Fall einer schlafbezogenen Atmungsstörung kann dann ein Apnoe-Screening für die Abklärung der Atmung oder eine hochauflösende Aktometrie am Fußknöchel für die Abklärung von periodischen Beinbewegungen im Schlaf durchgeführt werden (7 Kap. 10). Eine polysomnographische Untersuchung ist vor allem bei therapierefraktären Insomnien indiziert. Dies betrifft die Durchführung einer insomniespezifischen Verhaltenstherapie ebenso wie Hypnotika. Eine weitere Indikation für eine poly somno graphische Untersuchung ist ein grenzwertiger Apnoeindex im Apnoe-Screening, wenn insomnische Symp tome vorhanden sind. Hier wird leider häufig die Fehlervarianz der ambulanten Messgeräte unterschätzt. Auch wenn im Apnoe-Screening ein relativ niedriger Apnoe- Hypopnoe-Index besteht, kann sich in der Polysomnographie dennoch eine behandlungsbedürftige Schlafapnoe zei-

62 Kapitel 2 Insomnie gen. Bei Patienten mit einer potenziell gefährdenden Tätigkeit (Busfahrer etc.) sollte differenzialdiagnostisch großzügiger vorgegangen und eher an weiterführende diagnostische Maßnahmen gedacht werden. Fallbeispiel Herr Ü. hat eine Insomnie und wegen des Verdachts auf ein Schlafapnoesyndrom bereits ein Apnoe-Screening gemacht. Der Arzt meinte, es sei nicht gravierend. Er hatte einen Apnoe- Hypopnoe-Index von 13 pro Stunde Schlaf. Auch die Sauerstoffsättigung war relativ gut. Dennoch wurde Herr Ü. in einem Schlaflabor untersucht. Hier zeigte sich, dass das Schlafapnoesyndrom sehr viel ausgeprägter war, als es sich in der ambulanten Messung darstellte, und dass es vor allem den Schlaf fragmentierte. Deswegen wurde behandelt. Herr Ü. ist Busfahrer und arbeitet im Schichtdienst. 2.4.3 Differenzialdiagnostik der Insomnie und der Depression Eine besondere Herausforderung ist die Unterscheidung zwischen Insomnien und Depressionen, insbesondere wenn die Patienten die Verstimmung und die Antriebslosigkeit auf den gestörten Schlaf zurückführen.. Tab. 2.2 dient als Hilfestellung zur Unterscheidung. Patienten mit einer Insomnie werden häufig fehldiagnostiziert zugunsten einer Depression, vor allem chronische Insomniepatienten. Diese sind auch im Kontakt mit dem Arzt oft verzweifelt, nicht mehr leistungsfähig, beschreiben einen zunehmenden Verlust an Lebensqualität und ziehen sich unter Umständen zurück. Patienten, die früher viel Sport gemacht haben, bleiben nun lieber zu Hause. Angehörige und Freunde reagieren häufig verständnislos. Die soziale Isolation, die ein Schlafgestörter erfährt, macht ihn

2.4 Differenzialdiagnostik 63 2.. Tab. 2.2 Differenzialdiagnostik: Symptome einer Depression und einer Insomnie Depression Früherwachen, meist zwischen 3 und 4 Uhr Momente tiefer Verzweiflung und Verstimmung nachts beim Wachliegen Suizidgedanken Antriebslosigkeit, Lustlosigkeit Hoffnungslosigkeit Stimmung ändert sich auch nach einer guten Nacht nicht Insomnie Einschlafstörungen Ärger, Versagensgefühle, Ängste bezüglich der Leistungsfähigkeit Zukunftsängste Schlapp, erschöpft Starke Fokussierung auf den Schlaf Befinden ist sehr schlafabhängig, nach guten Nächten wie ausgewechselt häufig misstrauisch und leicht reizbar. Diese Symptome legen die Diagnose einer Depression nahe. Wie kann man die beiden Störungen anamnestisch unterscheiden? In der Regel ist dies sehr schwierig bei schwerer Insomnie ist die Unterscheidung oft erst nach dem Ansprechen auf eine insomniespezifische Therapie möglich.. Tab. 2.2 gibt ein paar hilfreiche diagnostische Tipps. Symptome einer Insomnie Symptome, die auf eine Insomnie und nicht auf Depressionen hinweisen: 55Der Patient fühlt sich wie ausgewechselt, wenn er eine Nacht gut geschlafen hat. 55Er kann sofort Dinge benennen, die er tun würde, wenn er wieder schlafen könnte. 55Er kann sich noch freuen, ist allerdings zu müde.

64 Kapitel 2 Insomnie Depressive Patienten sind nach gut durchschlafenen Nächten in der Regel nicht wesentlich auslenkbar in ihrer Stimmung. Sie sind dann immer noch hoffnungslos oder verstimmt. Insomniepatienten fühlen sich»wie ausgewechselt«, wenn sie gut geschlafen haben, und haben auch trotz des schlechten Schlafes die Energie, therapeutische Hilfe zu suchen. 2.5 Erklärungsmodelle Für die Betroffenen ist die»plötzliche Schlafstörung«nicht erklärlich. Häufig wird ein körperlicher Defekt dafür verantwortlich gemacht. Die meisten Patienten haben vor dem Beginn der Insomnie gut geschlafen und reagieren oft ängstlicher und fokussieren mehr als Patienten, die schon seit der Kindheit nicht gut schlafen. Fallbeispiel Herr L. hat früher immer und überall schlafen können. Er ist Arzt und hat während der Bereitschaftsdienste sogar gut geschlafen. Seit Beginn der Insomnie ist Schlaf selbst unter optimalen Bedingungen nicht möglich. Auch nach ausgiebigem Sport geht er müde ins Bett und ist wach, sobald er sich hinlegt. Während früher die Insomnie als Symptom gesehen wurde, wird sie mittlerweile als eigenständiges Krankheitsbild mit eigener Ätiologie anerkannt. Der englische Begriff»insomnia disorder«versucht, dem Rechnung zu tragen, zumal es in den letzten Jahrzehnten gut evaluierte Erklärungsmodelle für diese Störung gibt. Diese sind in der Regel dem Patienten gut erklärbar. Die wichtigsten Modelle werden im Folgenden kurz dargestellt.

2.5 Erklärungsmodelle 65 2 2.5.1 3P-Modell Die heutige Forschung sieht die Insomnie als ein multifaktorielles Geschehen mit 3 Entstehungsdimensionen. Dieses Modell wird auch 3P-Modell genannt und geht auf Spielman (1980) zurück. Die 3 Entstehungsdimensionen können auch als Basis für die Grundlagenforschung gesehen werden. 3P-Modell zur Erklärung einer Insomnie 55»Predisposing factors«: überdauernde Faktoren, die für die Entstehung einer Insomnie prädestinieren. Hierzu gehören genetische und physische Faktoren oder auch Persönlichkeitseigenschaften, zum Beispiel ein gewisser Hang zum Perfektionismus. 55»Precipitating factors«: Hiermit sind auslösende Faktoren gemeint, welche bei dem größten Teil der Patienten anamnestisch zu eruieren sind. Dies können Krisen oder auch positive Ereignisse aller Art sein (Heirat, Geburt eines Kindes oder Berentung). Operationen und das Aufwachen aus der Narkose werden besonders häufig als Beginn der Insomnie erinnert. 55»Perpetuating factors«: Schließlich spielen aufrechterhaltende Faktoren bei der Insomnie eine Rolle, sie sind insbesondere für die verhaltenstherapeutischen Interventionen von Bedeutung. Hier sind als erstes Beispiel die Ausweitung der Bettzeiten zu nennen: Viele Insomniepatienten bleiben vor allem morgens oft länger liegen, weil sie dann»auf einmal schlafen können«. Wenn der Schlaf ständig unmöglich oder gestört ist, wollen viele dem Schlafbedürfnis nachgeben. Ein weiteres typisches Beispiel für dysfunktionales Verhalten ist das ständige Sehen nach der Uhrzeit bei nächtlichem Aufwachen.

66 Kapitel 2 Insomnie Das 3P-Modell erklärt gut, warum nur einige Personen von einer Insomnie betroffen sind und andere scheinbar bei jedem Stress bezüglich des Schlafes unbelastet bleiben. Es deckt sich auch mit Berichten von Patienten, denen zu Folge beispielsweise schon Elternteile betroffen waren oder sie schon als kleines Kind schlecht geschlafen haben. Meist beginnt die Insomnie dann nach einer beschwerdefreien Latenzphase nach einem Auslöser. 2.5.2 Insomnie als Reaktion Die psychoreaktive Insomnie bezeichnet solche Krankheitsbilder, bei denen die Insomnie letztendlich als Stressreaktion bewertet werden kann. Die Schlafstörung sollte hier im zeitlichen Zusammenhang mit der Krise stehen. Ein gutes Beispiel sind Schlafstörungen bei Prüfungsstress oder auch solche, die im Rahmen eines zwischenmenschlichen Konflikts auftreten. Interessanterweise ist den Betroffenen der Zusammenhang zwischen dem Stressor und dem gestörten Schlaf nicht immer bewusst. Viele Patienten sind verunsichert und meinen, dass zu allem Unglück nun auch noch der Körper»versagt«. Hier hilft vor allem die Beruhigung, dass der Schlaf sich mit Abklingen der Probleme bessern wird und dass schlaffördernde Maßnahmen angewandt werden müssen, damit die Insomnie nicht chronifiziert. 2.5.3 Hyperarousal Die ersten Untersuchungen zum Hyperarousal stammen aus den 1980er-Jahren. Damals konnte gezeigt werden, dass gesunde Kontrollpersonen, welche man partiellem Schlafentzug aussetzte, anders in psychomotorischen Testungen reagierten als Insomniepatienten. Während die Gesunden eine

2.5 Erklärungsmodelle 67 2 erhöhte Müdigkeit und rasches Einschlafen zeigten, schnitten die Insomniepatienten relativ gut ab. Vor allem zeigten sie auch tagsüber messbare verlängerte Schlaflatenzen trotz des wenigen Schlafes in der Nacht. Als Ursache für die mangelnde Fähigkeit, den fehlenden Schlaf zu kompensieren, wurde das Hyperarousal postuliert. > > Ein Hyperarousal bezeichnet eine chronische Anspannung, die sich sowohl vegetativ als auch kognitiv bemerkbar macht. Diese erhöhte körperliche und psychische Anspannung wurde in verschiedenen Parametern gemessen. Beispielsweise zeigten Insomniepatienten andere Tagesverläufe im Kortisol. Das Hyperarousal konnte auch mit bildgebenden Verfahren belegt werden. Hier zeigten Insomniepatienten einen erhöhten Glukosemetabolismus im Frontalhirn beim Einschlafen, sie konnten sozusagen schlechter herunterfahren. Das Hyperarousal hat mittlerweile in der Insomnieforschung eine so herausragende Stellung erhalten, dass auch das gestörte Einschlafen als Ausdruck desselben gesehen wird. Die Insomnie wird insofern als Hyperarousalstörung diskutiert. Symptome des Hyperarousals 55Erhöhte körperliche innere Anspannung 55Gefühl, nicht»abschalten«zu können 55mangelnde Fähigkeit zur Entspannung 55mangelnde Fähigkeit, den fehlenden Schlaf tagsüber nachholen zu können

68 Kapitel 2 Insomnie Fallbeispiel Frau I. kann nicht schlafen und weiß nicht warum. Sie hat das Gefühl, immer grübeln zu müssen, dabei sind es oft ganz belanglose Dinge. Sie kann nicht abschalten, fühlt sich innerlich unruhig und kann sich auch nicht mehr entspannen. In einer psychosomatischen Klinik waren in den Gruppen alle Patienten entspannt, außer ihr. Sie kann nicht verstehen, warum. 2.5.4 Kognitive Theorie Ein weiteres Erklärungsmodell fokussiert auf die kognitiven Faktoren der Insomnie, welche eine Insomnie aufrechterhalten. Hierbei kommt schlafbezogenen Gedanken und Einstellungen ein besonderer Stellenwert in der Behandlung zu. Dieses Modell der Insomnie betrachtet die Gedanken und Einstellungen als modulierende Faktoren des Schlafes. Beispielsweise ist der Gedanke, am nächsten Tag ausschlafen zu können und keine wichtigen Verpflichtungen zu haben, schlaffördernd im Gegensatz zum Gedanken, am nächsten Tag früh aufstehen und fit sein zu müssen. Die Verhaltenstherapie bei Insomnie hat eine Reihe von Kognitionen bei Insomniepatienten erforscht, welche die Schlafstörung mit aufrechterhalten. Dazu gehören Einstellungen wie»schlafmangel macht krank«oder»der Körper benötigt mindestens 7 8 h Schlaf«(7 Abschn. 2.6.3, 7 Abschn. 8.2.1). Diese Einstellungen und Gedanken werden wegen ihrer negativen Wirkung auf die Schläfrigkeit auch dysfunktional genannt.

2.5 Erklärungsmodelle 69 2 Dysfunktionale Kognitionen bei Insomnie 55Schlafmangel macht krank. 55Schlafmangel macht dick. 55Ich brauche mindestens 7 h Schlaf, um fit zu sein. 55Der Schlafmangel ist ein Zeichen dafür, dass mit meinem Körper etwas nicht stimmt. 55Ich kann nur mit Medikamenten wieder schlafen. 55Irgendwann werde ich zusammenbrechen oder wahnsinnig werden, wenn ich weiter so schlecht schlafe. 55Mir kann keiner helfen. Diese dysfunktionalen Kognitionen sind unabhängig vom Bildungsstand der Patienten. Sie entstehen, wenn der Körper bei einer so grundlegenden Fähigkeit wie derjenigen, schlafen zu können, versagt. Insbesondere ambitionierte und eher leistungsorientierte Patienten neigen dazu, dysfunktionale Kognitionen zu entwickeln, weil sie die Folgen der Schlafstörungen als bedrohlich empfinden. Die Kognitionen erzeugen nicht nur Anspannung und Stress beim Versuch einzuschlafen, sie verändern auch das Verhalten um den Schlaf herum. Zum Beispiel versuchen viele, den bedrohlichen Aspekt des wenigen Schlafes durch längere Liegezeiten auszugleichen. Im schlechten Fall führen dysfunktionale Kognitionen dazu, dass gar keine ärztliche Hilfe mehr aufgesucht wird, wenn zum Beispiel die Überzeugung besteht, dort»doch nur Medikamente zu erhalten«. Studien haben gezeigt, dass auch Patienten mit organischen Schlafstörungen insomnische Beschwerden entwickeln, die sich wiederum aggravierend auf die Schlafstörung auswirken können. Dies ist beispielweise der Fall, wenn Patienten aufgrund einer unbehandelten Insomnie das CPAP- Gerät nicht vertragen.

70 Kapitel 2 Insomnie Fallbeispiel Herr A. hat eine Insomnie und kann seit Jahren nur noch mit Medikamenten einschlafen. Bei einer Schlaflaboruntersuchung kam zufällig heraus, dass er ein Schlafapnoesyndrom hat. Er soll nun mit einer CPAP-Maske schlafen und lehnt die Therapie ab. Er ist davon überzeugt, nicht schlafen zu können, wenn er so etwas im Gesicht hat. Er hat ja eh schon Schlaf störungen. Die insomniespezifische kognitive Verhaltenstherapie (KVT-I) korrigiert diese dysfunktionalen Einstellungen. Teilweise kann schon eine einzige Stunde Psychoedukation zu einer deutlichen Verbesserung führen, da sie den Patienten aus dem Teufelskreis von falscher Einstellung, Angst und Einschlafstörungen befreit (7 Kap. 8). > > Die Insomniespezifische kognitive Verhaltenstherapie korrigiert dysfunktionale Einstellungen und Erwartungen bezüglich des Schlafes. 2.6 Therapie der Insomnie Die meisten Patienten suchen kurz nach Auftreten der Schlafstörung keinen Arzt auf, da sie in der Regel hoffen, dass»es sich schon wieder gibt«. Viele Patienten gehen zuerst zur Apotheke und probieren pflanzliche Mittel oder besorgen sich gute Tipps für den gesunden Schlaf. Mittlerweile ist das Internet gerade im Gesundheitsbereich zu einer wichtigen Informationsplattform geworden. Den Weg zum Arzt finden die Insomniebetroffenen oft erst dann, wenn diese Mittel oder Tipps erfolglos sind oder die Angst wegen Folgen der Insomnie zu groß geworden ist. Patienten mit einer Insomnie haben also beim ärztlichen Erstkontakt schon eine gewisse Chronifizierung der Schlafstörung erlebt. Sie begegnen dem Therapeuten daher mit einer Mischung aus Hoffnung und der Sorge, dass der Arzt»auch nicht helfen«kann.

2.6 Therapie der Insomnie 71 2 > > Viele Insomniepatienten versuchen zunächst komplementäre Methoden oder nehmen nicht rezeptpflichtige Mittel, bevor sie einen Arzt aufsuchen. Das bedeutet, dass viele Patienten bereits eine leichte Form der Chronifizierung erlebt haben. Die Erwartungen sind deswegen entsprechend höher. Daher empfiehlt es sich, den Patienten bereits erfolgte Behandlungsversuche erzählen zu lassen und sich seine Vorstellung von einer Therapie anzuhören. Möchte der Patient eine Abklärung der Insomnie, ein gutes Schlafmittel oder eine weiterführende psychotherapeutische Behandlung? Des Weiteren sollten Insomniepatienten nach 4 Wochen wieder einbestellt werden. Insbesondere die Wiedervorstellung des Patienten nach therapeutischer Intervention, zum Beispiel nach Gabe eines Benzodiazepinrezeptoragonisten, ist wichtig, um den therapeutischen Erfolg abzuschätzen. > > Grundsätzlich gilt: Die Insomnie ist gut behandelbar. Man sollte eine Insomnie nicht unbehandelt lassen. 2.6.1 Komplikationen einer unbehandelten Insomnie Unbehandelte Insomnie bergen besondere Risiken. Komplikationen unbehandelter Insomnien 55Erhebliche Beeinträchtigung der Befindlichkeit 55müdigkeitsbedingte Unfälle 55Krankschreibungen 55Verschlechterung komorbider Störungen 55Hypnotikamissbrauch 55depressive Symptome

72 Kapitel 2 Insomnie Eine besondere Komplikation ist die Verschlechterung vor allem psychiatrischer Krankheitsbilder. Depressionen, aber auch psychosomatische Krankheitsbilder können ausgeprägter verlaufen, wenn nicht erholsam geschlafen wird, was zu den bekannten Komplikationen führen kann. Dies wäre bei der Depression der Suizid, von dem man weiß, dass er häufig raptusartig nachts auftritt. Inwieweit eine unbehandelte Insomnie zur Entstehung einer Depression beiträgt, wird wissenschaftlich diskutiert. > > Eine chronische Insomnie sollte ernst genommen werden, da sie den Alltag erheblich beeinträchtigen und komorbide Erkrankungen verschlechtern kann. 2.6.2 Therapieoptionen Grundsätzlich kann bei der Therapie der Insomnie zwischen psychopharmakologischen und psychotherapeutischen Methoden unterschieden werden, für beides gibt es gute Evidenzen. Metaanalysen zeigen, dass sowohl die Verhaltenstherapie als auch Psychopharmaka die Schlafqualität wiederherstellen kann. Zudem verbessern sich auch die Tagesbefindlichkeit und die Müdigkeit.. Tab. 2.3 gibt Auskunft, wann eher eine medikamentöse Therapie und wann eine psychopharmakologische Therapie oder auch eine Mischung aus beiden Behandlungsformen zu empfehlen ist. Die Therapie der Insomnie sollte sich in erster Linie an den Bedürfnissen des Patienten orientieren. Auch wenn sich die Patienten in den Kernsymptomen sehr ähneln, unterscheiden sie sich doch in dem Schweregrade, der Behandlungsgeschichte und vor allem in der Komorbidität. Dementsprechend sollte die Therapie individuell angepasst werden. Das bedeutet, einem Patienten keine Psychopharmaka zu empfehlen, wenn dieser eine Psychotherapie bevor-

2.6 Therapie der Insomnie 73 2.. Tab. 2.3 Medikamentöse versus nicht medikamentöse Therapie optionale Entscheidungskriterien Medikamentös Patient wünscht eine medikamentöse Therapie Patient braucht sofortige Hilfe Vorliegen einer psychiatrischen Komorbidität Keine Gefahr einer negativen Wechselwirkung mit einer anderen Schlafstörung Patient kann verhaltenstherapeutische oder andere Methoden nicht umsetzen Mangelnde Psychotherapiefähigkeit Verhaltenstherapeutisch oder komplementäre Methoden Patient lehnt Medikamente ab Verzögertes Einsetzen des Therapieerfolgs (Verbesserung der Schlafqualität) ist für den Patienten tolerabel Keine schwere psychiatrische Komorbidität Vorliegen einer anderen Schlafstörung, die durch ein Hypnotikum verschlechtert werden kann, z. B. Schlafapnoe oder periodische Beinbewegungen im Schlaf Patient hat die Möglichkeit, selbstständig seine schlafbezogenen Verhaltensweisen zu ändern Patient wünscht eine ursachenorientierte Therapie zugt, andererseits ihm aber auch keine Schlafmittel zu verweigern, wenn er danach fragt. Dies erhöht in jedem Fall die Compliance, und Schlafmittel landen nicht ungeöffnet im Apothekenschränkchen. > > Die Therapie der Insomnie sollte sich in erster Linie an den Bedürfnissen des Patienten richten. Als Faustregel kann gelten, dass bei akuten Schlafstörungen, bei denen sich die typischen Symptome einer Insomnie wie

74 Kapitel 2 Insomnie dysfunktionales Denken oder falsche Verhaltensweisen noch nicht ausgebildet haben, ein Medikament gegeben werden kann, am besten mit dem Hinweis, es nicht jeden Tag zu nehmen und schlafhygienische Maßnahmen einzuhalten. Bei chronischen Verläufen, bei denen sich bereits Verhaltensweisen entwickelt haben, die für sich genommen den Schlaf stören (z. B. zu lange Bettzeiten), sollte eher eine insomniespezifische Verhaltenstherapie empfohlen werden. Die therapeutischen Methoden bei der Insomnie umfassen eine Reihe von Behandlungsmöglichkeiten, angefangen bei einer schlafhygienischen Beratung über Selbsthilfeprogramme bis hin zur stationären Psychotherapie. Die pharmakologische Behandlung ist seit jeher die klassische Therapie, sie wurde in den letzten Jahrzehnten durch spezifisch wirksame Substanzen erweitert (. Tab. 2.4). Die Fülle der therapeutischen Möglichkeit macht es notwendig, die Maßnahmen systematisch zu koordinieren. Diese systematische Anpassung der therapeutischen Möglichkeiten an den Schweregrad und die Komplexität der Insomnie ist im»stepped care model«von Espie beschrieben. Das Modell wird vor allem den therapeutischen Ressourcen gerecht, denn Schlaflabore und insomniespezialisierte Psychotherapeuten sind noch nicht überall verfügbar. Das Modell sieht eine Anpassung des therapeutischen und vor allem des personellen Aufwands an den Schweregrad vor. Patienten mit leichter Insomnie sollten von psychoedukativen und auch unspezifischen Methoden profitieren, jene mit schwerer Insomnie sollten eher von professionellen Verhaltenstherapeuten und Schlafmedizinern bzw. ärztlichen Psychotherapeuten betreut werden. Die Indikation für Hypnotika sollte auf jeden Fall individuell abgestimmt sein.

2.6 Therapie der Insomnie 75 2.. Tab. 2.4 Behandlungsoptionen bei der Insomnie Form der Insomnie Leichte Insomnie Schlafstörungen bei Schichtarbeit Schlafstörungen bei Gravidität oder in den Wechseljahren Chronische Insomnie Schwere Ausprägung der Insomnie nach Ausschöpfung der ambulanten Maßnahmen Insomnie mit Verdacht auf Depression Alle Formen der Insomnie Akute Insomnie Alle Formen der Insomnie Behandlungsoption Psychoedukation: Ratgeber Schlafschule Schlafhygiene Insomniespezifische Verhaltenstherapie: Selbsthilfeprogramme Einzeltherapie gruppentherapeutische Programme Stationäres interdisziplinäres Programm Psychopharmaka: Benzodiazepinrezeptoragonisten Benzodiazepine Antidepressiva Neuroleptika Nicht rezeptpflichtige Hypnotika Unspezifische Methoden: Benzodiazepinrezeptoragonisten Entspannungsverfahren Lichttherapie Achtsamkeit

76 Kapitel 2 Insomnie 2.6.3 Psychoedukation und Schlafschule Die Psychoedukation nimmt in der Insomniebehandlung einen großen Stellenwert ein (7 Kap. 10). Sie ist Teil der kognitiven insomniespezifischen Verhaltenstherapie und zielt auf die Vermittlung schlaffördernder und schlafhygienischer Maßnahmen ab. Für die Psychoedukation stehen diverse Ratgeber zur Verfügung, unter anderem einer, der von der Deutschen Gesellschaft für Schlafforschung und Schlafmedizin herausgegeben wurde. Die Psychoedukation kann die Entwicklung einer Insomnie und vor allem die Chronifizierung verhindern. In Deutschland wurde in diesem Rahmen eine Schlafschule entwickelt. Dies sind Seminare, bei denen Schlafgestörte auf Selbstkostenbasis eine Psychoedukation erhalten. Schlafschule Eine Schlafschule ist eine psychoedukative Maßnahme, in der folgende Inhalte vermittelt werden: 55Aufklärung über die Gründe einer Schlafstörung 55aufrechterhaltende Faktoren einer Insomnie 55Vermittlung schlaffördernder Maßnahmen 55Entspannungsmethoden Schlafschulen sind vor allem bei leichten Insomnien oder Schlafstörungen indiziert und eignen sich vor allem als präventive Maßnahme. Eine Schlafschule ersetzt keine insomniespezifische Verhaltenstherapie. Ein besonderes Problem bei der Insomnietherapie ist die Abgrenzung seriöser therapeutischer Angebote von semiprofessionellen Behandlungen. Gerade wegen der hohen Prävalenz von Schlafstörungen gibt es insbesondere im Internet ein Überangebot an Heilverfahren. Für Patienten und Ärzte ist es oft schwierig, die»spreu vom Weizen zu trennen«.

2.6 Therapie der Insomnie 77 2 In der Regel können Schlaflabore mit Schwerpunkt Insomniebehandlung Auskunft geben. 2.6.4 Insomniespezifische Verhaltenstherapie Die insomniespezifische Verhaltenstherapie wurde in den 1980er-Jahren entwickelt. Die aus der Lerntheorie und aus der Chronobiologie entlehnten Methoden sind allesamt wissenschaftlich auf ihre Effektivität untersucht worden. Eine genauere Beschreibung findet sich in 7 Kap. 8. 2.6.5 Entspannungsmethoden Entspannungsverfahren sind bei einer Insomnie immer zu empfehlen. Sie sollten jedoch so einfach wie möglich sein. In der Regel reicht es aus, entsprechende Atemtechniken zu lernen. Autogenes Training und auch die progressive Muskelrelaxation haben nur begrenzt Erfolg bei Insomniepatienten, zumal sie, werden sie in schlaflosen Nächten angewandt, eher noch wacher machen. Achtsamkeitsverfahren haben in den letzten Jahren in der Psychotherapie viel auch wissenschaftliche Aufmerksamkeit erfahren. Sie sind grundsätzlich bei nahezu allen Störungen mit psychischer Beteiligung indiziert, allerdings bedürfen sie auch einer spezifischen mentalen Einstellung. Achtsamkeit reduziert sich also nicht nur darauf,»mehr auf sich zu achten«. > > Unspezifische Methoden wie Entspannung, Achtsamkeit oder andere stressreduzierende Maßnahmen sind grundsätzlich immer bei Schlafstörungen indiziert.

78 Kapitel 2 Insomnie 2.6.6 Psychopharmaka Die psychopharmakologische Behandlung der Insomnie ist die klassische Behandlungsform. Für kaum eine Störung in der Medizin stehen so viele unterschiedliche Präparate zur Verfügung. Umso schwieriger ist es, die richtige und passende Substanz zu finden. Bei der Verschreibung eines Hypnotikums sollten jedoch einige Dinge beachtet werden. Einige Ei genschaften sollte ein Hypnotikum nicht haben. Es sollte nicht: 44den Patienten am nächsten Tag benommen oder müde machen, 44zu einer erhöhten Unfallgefahr nachts führen, 44eine zugrunde liegende Atmungsstörung verschlechtern, 44zum Auftreten von periodischen Beinbewegungen im Schlaf führen, 44rasch in der Wirkung nachlassen, 44zu einer unerwünschten Gewichtszunahme führen, 44als Dauerlösung für gestörten Schlaf fungieren. 7 Kap. 9 gibt eine genaue Übersicht über die Indikation und den Einsatz von Hypnotika. Wenn der Patient nach Gabe des Hypnotikums zur Kontrolle wieder einbestellt wird, kann ein Teil der genannten unerwünschten Wirkungen kontrolliert werden. Wann ein Hypnotikum eingesetzte werden sollte, richtet sich vor allem nach der Klinik, der Vorerfahrung und der Prognose des Patienten. Fallbeispiel Frau U. nimmt seit Jahren Zopiclon. Dann übernimmt ein neuer Arzt die Praxis, der es ihr nicht mehr als Dauermedikation verschreiben will. Sie wendet sich an ein schlafmedizinisches Zentrum und hat nun einen Platz in einer insomnie-

2.6 Therapie der Insomnie 79 2 spezifischen verhaltenstherapeutischen Gruppe bekommen. Zur Überbrückung möchte sie wieder dieses Medikament verschrieben bekommen. Das Angebot nicht rezeptpflichtiger Hypnotika ist relativ unüberschaubar, und es gibt weniger wissenschaftliche Evidenzen für die Wirksamkeit als für die rezeptpflichtigen Substanzen. Insomniepatienten versuchen in der Regel zunächst mit rezeptfreien Medikamenten aus der Apotheke. Grundsätzlich haben insbesondere Hypnotika auf pflanzlicher Basis ihre Berechtigung in der initialen Insomnietherapie, auch wenn der wissenschaftliche Nachweis bei vielen Präparaten noch aussteht. Bei chronischen Insomnien sind sie nicht indiziert. Problematisch ist hier mit Sicherheit der Internethandel zu sehen, bei dem noch nicht einmal eine individuelle Beratung durch einen Apotheker stattfindet.

http://www.springer.com/978-3-662-49788-3