7 Kristallmorphologie Das Skalarprodukt eines Translationsvektors t mit einem reziproken Gittervektor h h t = u j b j h k b k = h k b j b ku j = h k δ jk u j = h j u j (25) j k k j k j j ist immer ganzzahlig: h t = j h j u j = mǫz (26) Speziell für m = hat diese Gleichung eine einfache geometrische Interpretation: die beiden Vektoren h und t stehen aufeinander senkrecht (s. Definition des Skalarprodukts (7)). Andernfalls bedeutet h t = m, daß die Projektion von t auf h konstant sein muß, d.h. daß t in einer Ebene senkrecht zu h enden muß. Wenn m + alle ganzen Zahlen durchläuft, dann beschreibt Gl. (26) eine äquidistante Netzebenenschar senkrecht zu h. Der Abstand der ursprungsnächsten Ebene (m = 1) vom Ursprung ist gleich dem kürzesten Abstand d ( d-wert ) der Netzebenen untereinander. Für m = 1 gilt h t = h t cos ϕ = h d = 1, (27) weil die Projektion von t auf h gleich dem Abstand d ist. Daraus folgt h = 1 d (28) Der reziproke Gittervektor h mit Komponenten h, k, l ǫ Z steht senkrecht auf einer äquidistanten Netzebenschar mit dem Abstand d = 1/ h. Die Netzebenen senkrecht zum reziproken Gittervektor h mit (kovarianten) Komponenten h, k, l ǫ Z erfüllen für einen Translationsvektor t mit (kontravarianten) Komponenten u, v, w ǫ Z die Gleichung (26), die für m = auch Zonengleichung heißt. hu + kv + lw = m; m + (29) Zur eindeutigen Spezifikation der Netzebenenschar senkrecht zum Normalenvektor h verwenden wir ganz einfach dessen ganzzahlige (kovarianten) Komponenten in der Form (hkl) (s.u. Millersche Indizes). Andererseits beschreibt dieselbe Gleichung für einen fest vorgegebenen Translationsvektor t auch eine Ebenenschar senkrecht zu t, in der die reziproken Gittervektoren h enden. Daher: Senkrecht zur Zonenachse [ uv w ] liegen reziproke Gitterebenen, deren reziproke Gittervektoren h die Gleichung (29) erfüllen. Ein Sonderfall ergibt sich, wenn der Translationsvektor t eine der drei Achsen ist: h b j = k (h k b k)b j = h j ; j = 1, 2, 3 (3) Folglich gibt die Projektion eines reziproken Gittervektors h auf die Basisvektoren b j seine kovarianten Komponenten h, k, l. Anmerkung: Die drei Gleichungen (3) sind in der Festkörperphysik auch als Laue- Gleichungen bekannt. 16
7.1 Rationalitätsgesetz und Millersche Indizes Nach dem oben Gesagten beschreibt hx + ky + lz = 1 ; x, y, z ǫ R (31) Punkte (x, y, z) in der ursprungsnächsten Ebene einer Netzebenenschar senkrecht zum reziproken Gittervektor mit Komponenten (h, k, l). Diese Ebene schneidet die Achsen in den Achsenabschnitten p, q, Diese drei Achsenabschnitte erfüllen die Ebenengleichung (31), also: hp = 1 = h = 1/p kq = 1 = k = 1/q lr = 1 = l = 1/r Weil h, k, l ǫ Z, ist folglich das Verhältnis der reziproken Achsenabschnitte immer rational. r h : k : l = 1 p : 1 q : 1 r (32) Dasselbe gilt auch für die Achsenabschnitte p, q, r selbst, wie man durch Multiplikation mit pqr sehen kann. Abbildung 7: Achsenabschnitte p, q, r der ursprungsnächsten Netzebene aus der Netzebenenschar (hkl). Rationalitätsgesetz (CH. S. WEISS, 1816): Die Koordinaten der Achsenabschnitte der an einem Kristall auftretenden Flächen verhalten sich wie kleine, teilerfremde ganze Zahlen, wenn man ein für die Kristallart spezifisches, affines Koordinatensystem verwendet. Dieses Gesetz impliziert, daß Kristallflächen parallel zu Netzebenscharen liegen (Korrespondenzprinzip). 17
Die ganzen Zahlen h, k, l werden als MILLERsche Indizes bezeichnet. Die MILLERschen Indizes definieren die relativen reziproken Achsenabschnitte (in Einheiten der Basisivektoren) der ursprungsnächsten Ebene aus der Netzebenenschar, die mit dem Symbol (h k l) beschrieben wird. Diese Symbole (hk l) wurden 1839 von W. H. MILLER ( A Treatise on Crystallography ) eingeführt und anstelle der WEISSschen Indizes p, q, r verwendet. Millersche Indizes (W. H. MILLER, 1839): Das Verhältnis der reziproken Achsenabschnitte von Flächen, die an einem Kristall auftreten, ist ganzzahlig und wird durch die (relativen) reziproken Achsenabschnitte h : k : l mit dem Symbol (h k l) beschrieben. Anmerkung: Die im Ebenensymbol (hk l) auftretenden ganzen Zahlen h, k, l werden immer teilerfremd gemacht. Weiterhin gilt (s.o): Der reziproke Gittervektor h mit kovarianten Komponenten h, k, l steht senkrecht auf der Netzebenenschar mit den Millerschen Indizes (hk l). 7.2 Netzebenen und reziprokes Gitter Von allen denkbaren Vektoren sind nur solche als Normalenvektoren von Netzebenenscharen möglich, deren kovariante Komponenten (d.h. Komponenten bezogen auf die reziproke Basis) ganzzahlig sind. Die Menge dieser Normalenvektoren sind reziproke Gittervektoren; ihre Endpunkte bilden das reziproke Gitter der Kristallstruktur. Das reziproke Gitter beschreibt die Orientierung und Länge aller Netzebenennormalen. 7.3 Achsenabschnittsgleichung Gleichung (31) ist das in Komponenten geschriebene Skalarprodukt eines reziproken Gittervektors h mit einem Ortsvektor x. h x = 1 = dh x = d (33) Das führt auf die bekannte HESSEsche Normalform (dh = h/(1/d) = h/ h ), d.h. n x = d mit n = 1, (34) die im euklidischen Vektorraum eine Fläche im Abstand d vom Ursprung senkrecht zu n darstellt. Die Richtung der Flächennormalen wird durch den Einheitsvektor n beschrieben, der parallel zum Vektor h ist: n = h/ h. Einsetzen von (3) in (34) unter Verwendung des Skalarprodukts (7) ergibt 3 n b j x j = j=1 3 x j nb j = j=1 3 b j x j cos α j = d, (35) j=1 wobei α j der Winkel zwischen n und b j ist. Die cos α j sind die Richtungskosinus der Flächennormalen bezüglich der Achsen ((cos α 1 ) 2 + (cos α 2 ) 2 + (cos α 3 ) 2 = 1). 18
Die Achsenabschnitte der Fläche auf den durch die Basisvektoren b j definierten Koordinatenachsen sind gegeben durch die Punkte P j mit den Koordinaten P 1 : p ; P 2 : q ; P 3 : r (36) Setzt man die Koordinaten dieser Punkte nacheinander in (35) ein und bildet Verhältnisse, so erhält man die Achsenabschnittsgleichung: p : q : r = 1 b 1 cos α 1 : 1 b 2 cos α 2 : b 3 cos α 3 oder cos α 1 : cos α 2 : cos α 3 = 1 p b 1 : 1 q b 2 : 1 r b 3, (37) d.h. die Richtungskosinus der Flächennormalen verhalten sich umgekehrt wie die Achsenabschnitte. Mit den MILLERschen Indizes (hk l) lautet die Achsenabschnittsgleichung (37): h : k : l = b 1 cos α 1 : b 2 cos α 2 : b 3 cos α 3 (38) Kennt man die Richtungskosinus der Flächen und ordnet man ihnen die richtigen Millerschen Indizes zu, so kann man mit (38) die Verhältnisse der Längen der Basisvektoren bestimmen. 1 7.4 Zonenverbandsgesetz Zwei Flächen mit den Millerschen Indizes (h 1 k 1 l 1 ) und (h 2 k 2 l 2 ) gehören immer zu einer gemeinsamen Zone. Die Zonenrichtung [u v w] berechnet sich mit Hilfe der Zonengleichung (vergl. (29)) für die durch den Ursprung verlaufenden Ebenen (d.h. mit m = ). Abbildung 8: Schnittgerade [uvw] der Ebenen (h 1 k 1 l 1 ) und (h 2 k 2 l 2 ). h 1 u + k 1 v + l 1 w = (39) h 2 u + k 2 v + l 2 w = (4) Die Zonenachse [uv w] muß beide Ebenengleichungen erfüllen. Man erhält nach einigen Umformungen: k u : v : w = 1 l 1 k 2 l 2 : l 1 h 1 l 2 h 2 : h 1 k 1 (41) h 2 k 2 Das Verhältnis u : v : w bestimmt die Zonenrichtung im vorgegebenen Basissystem. Umgekehrt kann man aus zwei gegebenen Zonenachsen mit den Richtungen [u 1 v 1 w 1 ] und [u 2 v 2 w 2 ] mit hu 1 + kv 1 + lw 1 = (42) hu 2 + kv 2 + lw 2 = (43) 19
Abbildung 9: Gemeinsame Ebene (hkl) der beiden Zonen [u 1 v 1 w 1 ] und [u 2 v 2 w 2 ]. die Komponenten (h k l) der Flächennormalen ausrechnen, die zu der den beiden Zonen gemeinsamen Fläche gehört: v h : k : l = 1 w 1 v 2 w 2 : : (44) w 1 u 1 w 2 u 2 u 1 v 1 u 2 v 2 Zusammenfassend gilt: Sind an einem Kristall vier Flächen gegeben, von denen keine drei derselben Zone angehören, so kann man (mit Hilfe von (41) und (44)) die (hk l) aller Flächen ableiten, die an diesem Kristall vorkommen können. Man sagt, die Flächen stehen miteinander im Zonenverband. 2
8 Kristallprojektionen Habitus und Kristallstruktur stehen in einem engen Zusammenhang. Nach dem Korrespondenzprinzip liegen Kristallflächen parallel zu Netzebenenscharen (hkl); Kristallkanten sind parallel zu Gittergeraden [uvw]. Flächen treten umso wahrscheinlicher auf, je dichter sie mit Atomen, Ionen oder Molekülen besetzt sind. Daher haben in der Regel die an Kristallen ausgebildeten Flächen relativ kleine Indizes h, k, l, zu denen dann Netzebenenscharen mit relativ großen d-werten gehören. 8.1 Begriffsdefinitionen Zone: Diejenigen Flächen, deren Flächennormalen in einer gemeinsamen Ebene liegen, bilden eine Zone oder gehören zu einer Zone. Diese Flächen haben parallele Schnittkanten. Zonenebene: Ebene, in der die Normalen der Flächen einer Zone liegen. Zonenachse: Normale zur Zonenebene; Richtung der Schnittkanten. Zonenrichtung: Die Richtung der Zonenachse wird durch die Koordinaten eines Punktes auf der dazu parallelen Gittergeraden durch den Ursprung mit [uv w] bezeichnet. Zonenpol: Durchstoßpunkt der Zonenachse durch eine um den Kristall geschlagene Kugel (sog. Polkugel) von willkürlichem Radius. 8.2 Kristallprojektionen Normalerweise kommt es nur auf die relative Orientierung von Kristallflächen und Kristallkanten an, nicht jedoch auf deren absolute Lage. Da man folglich von Parallelverschiebungen der Kristallflächen absehen kann, sind nur die Richtungen der Flächennormalen und der Kristallkanten von Interesse; wichtig sind nur die gegenseitigen Winkelbeziehungen der Flächennormalen. Abbildung 1: Kugelprojektion (links) und stereographische Projektion (rechts) der Flächenpole eines Kristallpolyeders. 21
Zur graphischen Darstellung der an einem Kristall auftretenden Flächen geht man deshalb wie folgt vor: 1. Man legt eine Kugel (Projektionskugel oder auch Polkugel genannt) von willkürlichem Radius um den Mittelpunkt des Kristallpolyeders als Ursprung. 2. Man ersetzt die Kristallflächen durch ihre von diesem Ursprung ausgehenden Normalen. Die Schnittpunkte der Normalen mit der Projektionskugel (sog. Flächenpole) repräsentieren die relative Orientierung der am Kristall ausgebildeten Flächen. 3. Die Lage der Flächenpole wird durch Kugelkoordinaten, nämlich durch die Poldistanz ρ (Winkel zu einem gewählten Pol auf der Kugeloberfläche) und den Azimutwinkel ϕ (auf der zugehörigen Äquatorebene) festgelegt. 4. Zur graphischen Darstellung der Lage der Flächenpole überträgt man die Kugelkoordinaten ρ, ϕ in eine zweidimensionale Projektion der Polkugel. Hierzu sind Zentralprojektionen besonders geeignet, darunter die gnomonische und die stereographische Projektion. (a) Stereographische Projektion Man projiziert die Flächenpole auf die Äquatorebene (Großkreisebene) mit dem gegenüberliegenden Pol zur Äquatorebene als Zentralpunkt der Projektion. Diese Projektion ist winkeltreu und kreisverwandt. Die Stereographische Projektion eines Längen und Breitenkreissystems, dessen Pole in der Projektionsebene liegen, heißt Wulffsches Netz. Es ist ein wichtiges Hilfsmittel zur graphischen Auswertung stereographischer Projektionen. Flächenpole einer Zone fallen immer auf Großkreise. Winkel zwischen Flächenpolen werden deshalb grundsätzlich auf Großkreisen abgelesen. Abbildung 11: Stereographische Projektion eines Netzes aus Längen- und Breitenkreisen. Die Pole dieses Wulffsches Netz liegen in der Äquatorebene; ϕ und ρ sind Azimut und Polwinkel. 22
(b) Gnomonische Projektion Hier wird als Projektionszentrum der Kugelmittelpunkt und als Projektionsebene eine Tangentialebene im Pol der Kugel gewählt. Ein Flächenpol mit Poldistanz ρ hat auf der Projektionsebene vom Pol einen Abstand d = r tan ρ (Kugelradius r). Flächenpole einer Zone (tautozonale Flächen) werden auf Geraden abgebildet. Nachteilig ist, daß Flächenpole mit ρ = 9 ins Unendliche projizieren. 8.3 Optische Zweikreisgoniometrie Zur optischen Vermessung des Kristalls wird ein Zweikreisgoniometer verwendet, dessen Optik sich wahlweise als Mikroskop oder als Fernrohr benutzen läßt. Zur Betrachtung, Zentrierung und Orientierung eines Kristalls wird das Mikroskop/Fernrohr System als Mikroskop verwendet. Zur Vermessung der Flächennormalenwinkel wird das Goniometer mit Fernrohr als Reflexionsgoniometer betrieben. Das Umschalten zwischen beiden Moden erfolgt durch Ein/Ausklappen einer zusätzlichen Linse zwischen Objektiv und Okular. Zur Vermessung wird der Kristall in den Schnittpunkt von Horizontal- und Vertikalkreisachse zentriert. Zur Einmessung einer Kristallfläche muß ihre Normale so orientiert werden, daß sie den Winkel zwischen Lichtquelle und Fernrohr halbiert. Das geschieht durch 1. Drehung der Flächenormalen um den Vertikalkreis in die horizontale Ebene, Drehwinkel ϕ ( ϕ 36 ) Azimut; 2. und anschließende Drehung des Horizontalkreises in die Reflexionsposition, Drehwinkel ρ ( ρ 18 ) Polwinkel. Abbildung 12: Schema eines optischen Zweikreisgoniometers (links); Goniometerkopf (rechts). 23
Die Winkelpaare ϕ, ρ werden anschließend mit Hilfe eines Wulffschen Netzes in eine stereographische Projektion (auf Transparentpapier) eingetragen: 1. Man legt ein Blatt Transparentpapier auf ein Wulffsches Netz und durchsticht es mit einem Reißbrettstift so, daß das Transparentpapier um den Mittelpunkt des Wulffschen Netzes drehbar ist. 2. Man markiert den Nullpunkt für den Winkel ϕ, beispielsweise die Position des Südpols des Wulffschen Netzes. 3. Das Bild eines Flächenpols erhält man dann, indem man das Transparentpapier relativ zur Nullmarke um den Winkel ϕ dreht (im gleichen Sinn wie auf dem Goniometer); der Polwinkel ρ wird von der Mitte des Netzes aus auf dem 9 -Meridian zu ϕ hin abgetragen. 8.4 Indizierung von Kristallflächen In günstigen Fällen kann man die Punktgruppe des Kristalls aus der Symmetrie der stereographischen Projektion bestimmen, das Kristallsystem ermitteln und die Orientierung der kristallographischen Basisvektoren a, b und c festlegen. Unter der Annahme, daß nur relativ niedrig indizierte Flächen auftreten, kann man mit Hilfe der stereographischen Projektion die gefundenen Flächen indizieren und sogar das Achsenverhältnis h : k : l = acos ϕ a : b cos ϕ b : c cos ϕ c a : b : c = h cos ϕ a : k cos ϕ b : l cos ϕ c bestimmen, wobei cos ϕ a der Richtungskosinus der Flächennormalen bezüglich der a-achse ist; analog für cosϕ b und cosϕ c. In der Regel unterscheiden sich die Achsenlängen nur selten um mehr als einen Faktor drei. Die gefundene Indizierung ist in der Regel noch nicht eindeutig; sie kann erst mit röntgenographischen Methoden endgültig erfolgen. 24