Durch Vielfalt lernen auf dem Weg zur inklusiven Schule Ein Bericht über die Fachtagung zur inklusiven Bildung am 9. Februar in Celle Eingeladen zu der Tagung hatte die Stadt Celle gemeinsam mit dem Sozialverband Deutschland (SoVD), Landesverband Niedersachsen. Bezeichnend für das verbreitete Interesse an der aktuellen Thematik war der Andrang auf die Veranstaltung: Bei der Anmeldung bildete sich eine Schlange quer über den voll besetzten Parkplatz und auch die Sitzplätze in der Alten Exerzierhalle waren schließlich voll belegt. Die Teilnehmer kamen nicht nur aus Celle und dem Umland, viele waren aus anderen Teilen Niedersachsens angereist. Dazu gehörten Politiker, Lehrer und Vertreter anderer pädagogischer Berufe sowie viele interessierte Eltern. Den ersten Vortrag des Tages hielt Prof. Dr. Hans Wocken von der Universität Hamburg. Im ersten Teil führte er die Gründe aus, die aus seiner Sicht die schulische Inklusion unabdingbar machen: 1. Nur die inklusive Schule gewährleistet die Chancengerechtigkeit für Kinder verschiedener sozialer Milieus. 2. Nur die inklusive Schule gewährleistet eine wohnortnahe Beschulung für alle Kinder. 3. Die inklusive Schule stellt ein förderliches Entwicklungsmilieu dar. Davon profitieren alle Kinder, denn a. Kinder und Jugendliche mit Förderbedarf lernen im kognitiven Bereich mehr und besser als in Förderschulen. b. Kinder und Jugendliche ohne Förderbedarf lernen im kognitiven Bereich nicht weniger als in allgemeinen Schulen. c. Kinder und Jugendliche mit und ohne Förderbedarf lernen im Bereich des sozialen Lernens mehr als in allgemeinen Schulen und Förderschulen. 4. Schulische Inklusion von Kindern und Jugendlichen mit Förderbedarf ist eine völkerrechtlich verbindliche Aufgabe.
2 Darauf aufbauend ging Wocken auf die Definition des Begriffs Inklusion ein und stellte dar, welche Bedingungen eine Schule zu erfüllen hat, um sich inklusiv nennen zu können. Aus seiner Sicht sind drei Aspekte ausschlaggebend: 1. Vielfalt der Kinder: Es werden ohne Ausnahme alle Kinder unterrichtet. 2. Gemeinsamer Unterricht: Alle Kinder werden (auch) gemeinsam unterrichtet. 3. Anpassung des Unterrichts: Alle Kinder werden (auch) differentiell unterrichtet. Abschließend stellte Wocken seine bildungspolitische Vorstellung eines inklusiven Schulsystems vor. Dabei unterscheidet er zwischen einem Regelsystem und einem Unterstützungssystem. Das Klientel des Regelsystems besteht aus Schülern mit den Förderbedarfen Lernen, Sprache und sozial-emotionale Entwicklung und macht ca. 10 % der gesamten Schülerschaft aus. Das heißt, in einer einzügigen Grundschule mit ca. 100 Kindern gibt es ca. 10 Kinder mit diesen Förderbedarfen, was in etwa der Klassenstärke einer Förderschulklasse entspricht. Somit müsste eine einzügige inklusive Grundschule eine Sonderpädagogenstelle in Vollzeit erhalten. Bei größeren Schulen ergibt das entsprechend eine Sonderpädagogenstunde pro Klasse und Tag. Das Klientel des Unterstützungssystems in Wockens Modell besteht aus Schülern mit Sinnesbeeinträchtigungen, Körperbehinderungen oder geistiger Behinderung. Für diese Kinder sollte die Schule zusätzlich je 2-3 Sonderpädagogenstunden pro Woche erhalten, so dass sich rechnerisch wiederum eine Sonderpädagogenstelle in Vollzeit für 10 Kinder ergibt. Zusätzlich bräuchten beide Systeme geringere Klassenstärken. Wocken fordert eine Inklusionspflicht für alle Kinder mit den Förderbedarfen Lernen, Sprache und sozial-emotionale Entwicklung. Für die Kinder mit schwerwiegenderen Förderbedarfen empfiehlt er zumindest für eine Übergangszeit das Elternwahlrecht. Das Ziel einer Inklusionsquote von zunächst 80 % wäre damit ohne weiteres zu erreichen. Wocken wies auf sein kürzlich erschienenes Buch Das Haus der inklusiven Schule hin (Hamburg: Hamburger Buchverlag 2011, 24,80 ), das in seiner ersten Auflage allerdings bereits vergriffen ist. Eine ausführliche Liste seiner Publikationen sowie die Möglichkeit der Kontaktaufnahme gibt es auf seiner Homepage www.hans-wocken.de. Dem Fachvortrag folgten zwei Dialoggespräche. Brigitte Fischer, Gleichstellungsbeauftragte der Stadt Celle, befragte zunächst Jörg Zuromski, den ehemaligen Schulleiter der Grund- und Hauptschule Wietzenbruch in Celle, die seit einigen Jahren integrativ arbeitet, nach seinen Erfahrungen. Anschließend antwortete Ute Wrede, die Vorsitzende des Vereins Eine Schule für Alle! in Hannover auf Fragen zu ihren persönlichen Erfahrungen. Wrede berichtete auch, dass ihr Verein mit seiner ursprünglichen Absicht, eine neue Schule zu gründen, gescheitert ist. Stattdessen werden nun auch von Pädagogen und Architekten aus dem Verein Schulen beraten, die sich in Richtung Inklusion auf den Weg machen wollen.
3 Ebenfalls als betroffene Mutter und Vereinsvorsitzende kam dann Elke Lengert von Mittendrin Hannover zu Wort. Mittendrin berät Eltern, die für ihre Kinder eine integrative oder inklusive Beschulung wünschen. Dafür befindet sich jetzt eine Beratungsstelle in Gründung, die im Haushalt der Stadt Hannover bereits vorgesehen ist und deren Träger Mittendrin sein wird. Gleichzeitig mischt sich Mittendrin auch in die bildungspolitische Debatte ein. So gab Lengert in ihrem Vortrag zunächst einen Überblick über die derzeitigen Möglichkeiten integrativer Beschulung sowie einige Hinweise zu Vorgehensweisen für Eltern. Beispielsweise betonte sie, dass Eltern Integrationsanträge grundsätzlich nicht nur bei der zuständigen Schule, sondern gleichzeitig bei der Schulbehörde stellen sollten. Auf diese Weise könne verhindert werden, dass der Antrag nicht bearbeitet würde. Dann legte sie den Stand der Debatten in einigen Stichpunkten dar: - Die UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen trat am 3. Mai 2008 in Kraft. - Seit dem 26. März 2009 ist sie für Deutschland verbindlich. - Im Mai 2009 wurden auf einer Anhörung im niedersächsischen Landtag die wesentlichen Sachverhalte zusammengetragen. Gehört wurden dabei u.a. Lengert und der SoVD Niedersachsen. - Die Fraktion der Grünen im Landtag legte bereits im Januar 2009 eine Gesetzesvorlage vor, die SPD-Fraktion zog im August 2010 nach. - Eine Schulleitertagung in Loccum im Oktober 2010 stellte die fortdauernde Planungsunsicherheit fest. - Immer noch fehlen offizielle Informationen über die von der Landesregierung geplante Schulgesetzänderung. Inoffiziellen Angaben zufolge, so Lengert, sei beginnend mit dem Schuljahr 2012/2013 eine aufsteigende Einführung der sonderpädagogischen Grundversorgung an allen Grundschulen geplant. Allerdings sei nicht klar, ob diese Grundversorgung dann auch die Schüler mit Förderbedarf im Bereich sozial-emotionale Entwicklung einbeziehen soll. Ab dem Schuljahr 2013/2014 sollen dann auch die Schulen der Sekundarstufe geöffnet werden, und zwar alle Schulformen. Geplant sei ein Elternwahlrecht. Lengert gab ihrer Hoffnung Ausdruck, bei der anschließenden Podiumsdiskussion von Kultusminister Dr. Bernd Althusmann näheres zu erfahren. Diese Hoffnung erfüllte sich leider nicht. Althusmann teilte mit, der Gesetzentwurf sei im Kern vorbereitet. 2012 wolle man die Inklusion an allen Grundschulen starten, 2013 in der Sekundarstufe. Für die Sekundarstufe sprach er von Schwerpunktschulen. Trotz Nachfrage war nicht zu erfahren, was die Landesregierung hier unter Inklusion versteht, welche Kinder
4 einbezogen werden sollen und wie die Versorgung mit Förderlehrern sichergestellt werden soll. Althusmann stellte in Aussicht, dass die Förderschulen mit den Förderschwerpunkten Lernen und Sprache aufgelöst werden. Ansonsten betonte er das Elternwahlrecht, was er aber bei jeder Erwähnung damit einschränkte, dass das Wohl des Kindes zu beachten sei. In den vier Landesschulbehörden solle es je einen festen Ansprechpartner für Fragen der Inklusion geben. Pro Jahr sollen ab Frühjahr 2011 2.500 Grundschullehrkräfte für die Inklusion fortgebildet werden. Dafür seien 925.000 Euro im niedersächsischen Haushalt bereitgestellt. Frauke Heiligenstadt, schulpolitische Sprecherin der SPD in Niedersachsen, wandte hier ein, dass dies natürlich viel zu wenig sei, während gleichzeitig für die Einführung der Oberschule 10 Millionen Euro im Haushalt eingesetzt worden seien. Heiligenstadt verstand sich ebenso wie Ina Korter, schulpolitische Sprecherin von Bündnis 90 / Die Grünen in Niedersachsen, und Ernst-Bernhard Jaensch, schulpolitischer Sprecher des SoVD in Niedersachsen, als vehemente Befürworterin einer schnelleren Umsetzung der UN-Konvention. Die Diskussion drehte sich hier weitgehend im Kreis, weil Althusmann immer wieder die Notwendigkeit einer gründlichen Vorbereitung betonte, während der Rest des Podiums ihn dafür kritisierte, dass nicht schon längst viel mehr in Bewegung gekommen sei. Um genaue Inhalte ging es leider nicht. Der SoVD-Landesverband Niedersachsen präsentierte sich auf der Tagung in Celle als starker Partner bei den Bestrebungen zur Umsetzung schulischer Inklusion. Bereits in einer Pressemitteilung vom 21.Dezember 2010 stellte der Verband in Aussicht, dass er Eltern unterstützen wolle, die den individuellen Rechtsanspruch auf inklusive Beschulung ihrer Kinder gerichtlich einfordern wollen (www.sovd-nds.de/14386.0.html). Auch die Stadt Celle zeigte sich aufgeschlossen gegenüber den Anforderungen der Inklusion. Oberbürgermeister Dirk-Ulrich Mendes beklagte jedoch ebenso wie Klaus Wiswe, Landrat des Landkreises Celle, die Planungsunsicherheit in Hinsicht auf notwendige bauliche Investitionen, da immer noch nicht absehbar sei, in welcher Form und zu welchem Zeitpunkt das Land Niedersachsen der Aufgabe der schulischen Inklusion gerecht werden will. Dem entgegnete Kultusminister Althusmann nicht zu Unrecht, dass die Kommunen bereits jetzt rechtlich in der Pflicht stehen, die notwendigen Voraussetzungen, soweit sie in ihrer Zuständigkeit liegen, zu schaffen. Bericht von Birgit Bräuer Kontakt: birgit-braeuer@web.de oder 0 55 94 / 930 980
5 Mittendrin - Initiative für die Teilhabe besonderer Kinder und Jugendlicher in Schule, Freizeit und Ausbildung im Flecken Bovenden EIFER e.v. Elterninitiative für Integration und zur Förderung entwicklungsverzögerter Kinder, Göttingen (www.eifer-ev.de)