Kapitel II Differentialgeometrie

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Transkript:

Kapitel II Differentialgeometrie Ê 7 Kurven und Flächen im 3 In diesem Paragraphen stellen wir die differentialgeometrischen Grundbegriffe Krümmung, Geodätische und Parallelverschiebung für Flächen im Ê 3 vor. Das Studium dieses Kapitels ist für das Verständnis der Riemann und Lorentz Geometrie nicht unbedingt erforderlich, erleichtert aber den Zugang. Wir betrachten im Folgenden durchweg C differenzierbare Objekte (Kurven, Flächen, Funktionen). Das vereinfacht den Kalkül und bedeutet keinen Verlust an geometrischer Substanz. 1 Krümmung von Kurven 1.1 Kurven im Ê 3 (a) UntereinerKurve(genauerKurvenparametrisierung)im Ê 3 verstehen wir im Folgenden eine C Abbildung α : I Ê n, t α(t) = (α 1(t),α 2(t),α 3(t)) aufeinemoffenenintervalli.die Bildmenge α(i)heißt Spurvonα. EineKurve heißt regulär, wenn α(t) = ( α 1(t), α 2(t), α 3(t)) 0 für alle t I und Bogenlängen Parametrisierung (Parametrisierung durch die Bogenlänge), wenn α(t) = 1 für alle t I. Wie schon in Band 1, 24 praktiziert, stellen wir uns die Tangentenvektoren α(t) mit ihren Fußpunkten an die Kurvenpunkte α(t) angeheftet vor. Für Bogenlängen Parametrisierungen gilt α, α = 1 2 d α, α = 0. dt Zwei reguläre Kurven α : I Ê 3, β : J Ê 3 heißen äquivalent (gehen durch Umparametrisierung auseinander hervor), wenn es einen C Diffeomorphismus h : I J gibt mit α = β h. Die Kurven heißen gleich orientiert, wenn ḣ > 0 gilt, andernfalls heißen sie entgegengesetzt orientiert Äquivalente Kurven haben dieselbe Spur; sind zwei reguläre Kurven α, β injektiv und stetig invertierbar, so ist die Gleichheit ihrer Spuren auch hinreichend für ihre Äquivalenz (Bd.1, 24:1.3). Springer-Verlag GmbH 2017 H. Fischer und H. Kaul, Mathematik für Physiker Band 3, DOI 10.1007/978-3-662-53969-9_2

190 7 Kurven und Flächen im Ê 3 (b) Satz. Zu jeder regulären Kurve α : I Ê 3 gibt es eine äquivalente, gleich orientierte Bogenlängen Parametrisierung β : J Ê 3. Diese ist nach Vorgabe eines Kurvenpunkts a durch die Bedingung β(0) = a eindeutig bestimmt. Beweis siehe 5:2.3(c) oder Bd.1, 24:2.5. (c) Unter einem Kurvenstück verstehen wir (abweichend von Bd.1, 24:1) die Einschränkung einer Kurve auf ein kompaktes Intervall. 1.2 Krümmungsradius und Schmiegkreis (a) Satz. Gegeben sei eine Bogenlängen Parametrisierung β : J Ê 3 und ein Kurvenpunkt a = β(s 0) mit β(s 0) 0, o.b.d.a. s 0 = 0. Dann gibt es genau einen Kreis γ : [0,2π] Ê 3 mit Radius r > 0, der für s = 0 die Kurve β im Punkt a von zweiter Ordnung berührt. Dieser ist gegeben durch mit γ(s) = m+rcos(ωs)v 1 +rsin(ωs)v 2 β(0) = γ(0), β(0) = γ(0), β(0) = γ(0). Für den Mittelpunkt m, den Radius r und das Orthonormalsystem v 1,v 2 gilt r = ω 1 = β(0) 1, m = a+r 2 β(0), v1 = r β(0), v 2 = β(0). Wir nennen die Spur von γ den Schmiegkreis, r den Krümmungsradius, κ := r 1 = β(0) die Krümmung und m den Krümmungsmittelpunkt der Kurve β im Punkt a = β(0). Bemerkungen. (i) In Kurvenpunkten β(s 0) mit β(s 0) = 0 setzen wir κ = 0. (ii) Das Berühren zweiter Ordnung im Punkt a kann auch mittels Taylor Entwicklung gekennzeichnet werden durch die Bedingungen ÜA lim s 0 Beweis. β(s) γ(s) s k = 0 für k = 0,1,2. Die Berührbedingungen liefern a = β(0) = γ(0) = m+rv 1, β(0) = γ(0) = rωv 2, β(0) = γ(0) = rω 2 v 1. Aus der zweiten Bedingung ergibt sich rω = β(0) = 1, also v 2 = β(0). Die dritte Bedingung liefert ωv 1 = rω 2 v 1 = β(0), somit r β(0) = rω = 1.

1 Krümmung von Kurven 191 (b) Die Krümmungsgrößen einer beliebigen regulären Kurve α : I Ê 3 an der Stelle a = α(t 0) definieren wir durch die entsprechenden Größen der zugehörigen, gleich orientierten Bogenlängen Parametrisierung β : J Ê 3 mit β(0) = a; hierzu muss die lineare Unabhängigkeit von α(t 0), α(t 0) vorausgesetzt werden. Das Gram Schmidtsche Orthonormalisierungsverfahren, angewandt auf α(t 0), α(t 0), liefert dann ein Orthonormalsystem T,N mit T = Es ergibt sich κ = α(t0) α(t0) T, α(t0) T, N = α(t 0) α(t 0) T, α(t. 0) T α(t0) α(t0) α(t 0) 3, m = a+κ 1 N. Im Fall der linearen Abhängigkeit von α(t 0), α(t 0) setzen wir κ = 0. Nachweis als ÜA : Sei o.b.d.a. t 0 = 0. Folgern Sie aus α = β h mit ḣ > 0, h(0) = 0 und aus β = 1, dass ḣ(0) = α(0), α r=κ 1 m N T a ḣ(0)ḧ(0) = α(0), α(0), ḧ(0) = T, α(0), β(0) = T, β(0) = = α(0) T, α(0) T α(0) 2 α(0) α(0) α(0) 3 N; die letzte Gleichheit folgt aus = α(0) T, α(0) T α(0) 2 T α(0) 2 = α(0) 2 T, α(0) 2 = α(0) T, α(0) T 2. Die Kurve t m(t) der Krümmungsmittelpunkte wird die Evolute von α genannt. (c) Für ebene reguläre Kurven t (x(t), y(t)) ergeben sich Krümmung und Evolute aus (b) durch die Interpretation als Kurve t α(t) = (x(t),y(t),0) in Ê 3 ÜA κ(t) = ẋ(t)ÿ(t) ẍ(t)ẏ(t), (ẋ(t) 2 +ẏ(t) 2 ) 3/2 ( ) x(t) m(t) = + y(t) ẋ(t) 2 +ẏ(t) 2 ẋ(t)ÿ(t) ẍ(t)ẏ(t) ( ) ẏ(t). ẋ(t) N

192 7 Kurven und Flächen im Ê 3 Für ebene Kurven in Graphengestalt t (t,y(t)) ergibt sich die in 2:4.4(c) und 5:3.1(b) verwendete Formel κ(t) = ÿ(t)(1+ẏ(t) 2 ) 3/2. 1.3 Aufgaben (a) Die von Newton in den Principia verwendete Konstruktion des Krümmungsmittelpunkts einer ebenen Kurve besteht darin, die Normalen benachbarter Kurvenpunkte α(t) und α(t+h) zum Schnitt zu bringen und den sich für h 0 ergebenden Grenzwert zu bestimmen. Zeigen Sie die Übereinstimmung mit der hier gegebenen Definition. (b) Berechnen Sie für die Ellipse t (a cost,b sint) (a b) die Krümmung und die Evolute. Zeigen Sie, dass Letztere der Gleichung (Ax) 2/3 +(By) 2/3 = 1 mit Konstanten A,B > 0 genügt, und machen Sie eine Skizze. (c) Zeigen Sie, dass die Evolute des Zykloidenbogens t (t sint,1 cost) (0 < t < 2π) ein Zykloidenbogen in verschobener Lage ist. Stellen Sie die Verbindung zwischen diesem Ergebnis und der Huygensschen Konstruktionsidee einer Pendeluhr mit Zykloidenhemmung her, vgl. 2: 2.3(e). (d) Zeigen Sie: Die Krümmung einer Kurve ist bewegungsinvariant. 2 Flächen im Ê 3 2.1 Darstellung von Flächen, Beispiele (a) Eine nichtleere Menge M Ê 3 heißt Fläche, wenn es zu jedem Punkt a M eine Umgebung U Ê 3 und eine C Abbildung Φ : U 0 U Ê 3 auf einem Gebiet U 0 Ê 2 gibt mit folgenden Eigenschaften: (i) Φ ist injektiv und es gilt Φ(U 0) = M U, (ii) die Jacobi Matrix dφ(u) hat an jeder Stelle u U 0 den Maximalrang 2, (iii) die Umkehrabbildung Φ 1 : M U U 0 ist stetig. Jede solche Abbildung Φ wird eine Parametrisierung von M genannt, und M U = Φ(U 0) heißt eine Koordinatenumgebung von a in M. Flächen, die Bild einer einzigen Parametrisierung sind, heißen Flächenstücke. Zu Beispielen von Flächenstücken und zur Bedeutung der Voraussetzungen (i) (iii) verweisen wir auf Bd.1, 25:1. Die Einschränkung einer Parametrisierung Φ : U 0 M auf ein Teilgebiet von U 0 ist wieder eine Parametrisierung von M. Wir verzichten auf den rein technischen Beweis. Für zwei Parametrisierungen Φ : U 0 Ê 3, Ψ : V 0 Ê 3 von M mit D := M Φ(U 0) Ψ(V 0) vermittelt die Parametertransformation (Koordinatentransformation) h = Ψ 1 Φ

2 Flächen im Ê 3 193 einen C Diffeomorphismus zwischen offenen Mengen Φ 1 (D),Ψ 1 (D) Ê 2. Der Beweis wird in Bd.2, 11:1.3 gegeben. Die Betrachtung von Flächen mit schwächeren Differenzierbarkeitsvoraussetzungen ist durchaus sinnvoll, liefert aber keine neuen Einsichten in die Geometrie. Die Forderung der C Differenzierbarkeit vereinfacht den Kalkül und bedeutet keinen Verlust an geometrischer Substanz. Im Hinblick auf die ab 8 verwendete Indexkonvention der Tensoranalysis schreiben wir bereits hier die Parameter und die Koordinaten der Flächenpunkte mit hochgestellten Indizes: u = (u 1,u 2 ), x = (x 1,x 2,x 3 ); eine Verwechslung mit Potenzen ist nicht zu befürchten. (b) Wir erinnern an die Definition des Tangentialraums T am einer Fläche M im Punkt a M (Bd.1, 25:3.3, Bd.2, 11:1.6). Dieser besteht aus den Tangentenvektoren v = α(0) aller Kurven α : ] ε,ε[ M mit α(0) = a, und ist mit dem Ursprung an den Flächenpunkt a angeheftet (für die Formalisierung der Fußpunktanheftung siehe 8: 2.4*). Für jede Parametrisierung Φ von M mit a = Φ(u) wird T am von den nach (ii) linear unabhängigen partiellen Ableitungen 1Φ(u), 2Φ(u) aufgespannt, ist also zweidimensional. (c) Satz. Für jede C Funktion f : Ê 3 Ω Ê ist die Nullstellenmenge M = { x Ω f(x) = 0 } eine Fläche im Ê 3, falls M nicht leer ist und falls f(x) 0 für alle x M. Es gilt f(a) T am, d.h. die Normale von M im Punkt a M wird vom Vektor f(a) aufgespannt (Bd.2, 11:1.6). Der Beweis ergibt sich mit Hilfe des Satzes über implizite Funktionen, vgl. Bd.1, 22:5.5, 5.7. Ist a = (a 1,a 2,a 3 ) M und etwa 3f(a) 0, so gibt es Umgebungen U 0 von (a 1,a 2 ) und V 0 von a 3 sowie eine eindeutig bestimmte C Funktion ϕ : U 0 V 0 mit also f(x 1,x 2,x 3 ) = 0 x 3 = ϕ(x 1,x 2 ) für (x 1,x 2,x 3 ) U := U 0 V 0, M U = { Φ(x 1,x 2 ) = ( x 1,x 2,ϕ(x 1,x 2 ) ) (x 1,x 2 ) U 0 }. ÜA : Prüfen Sie die Eigenschaften (i) (iii) für Φ : U 0 M U nach.

194 7 Kurven und Flächen im Ê 3 Mit diesem Satz lassen sich zahlreiche Gebilde im Ê 3 als Flächen erkennen, z.b. { } (x,y,z) x2 a + y2 2 b + z2 2 c = 1 (a,b,c > 0) Ellipsoid, 2 { (x,y,z) } x 2 +y 2 = coshz Katenoid, { ( } 2 (x,y,z) x2 +y r) 2 +z 2 = h 2 (0 < h < r) Torus, { (x,y,z) x 2 +y 2 z 2 = 1 } einschaliges Hyperboloid, { (x,y,z) x 2 +y 2 z 2 = 1 } zweischaliges Hyperboloid. ÜA Skizzieren Sie diejenigen dieser Flächen, von denen Sie keine anschauliche Vorstellung haben. (d) Eine Fläche M Ê 3 kann in einer Umgebung jedes Flächenpunktes als Graph dargestellt werden: Satz. Zu jedem Flächenpunkt a = (a 1,a 2,a 3 ) M gibt es nach eventueller Umnummerierung der räumlichen Koordinaten eine Umgebung V 0 Ê 2 von (a 1,a 2 ), eine Umgebung U Ê 3 von a und eine C Funktion ϕ : V 0 Ê, deren Graph M U ist. Nach Ausführung einer Bewegung des Ê 3 lässt sich noch a = 0, e 3 T am und ϕ(0,0) = 1ϕ(0,0) = 2ϕ(0,0) = 0 erreichen. Beweis. Umnummerierungen der Raumkoordinaten und Bewegungen im Ê 3 sind C Diffeomorphismen, die Flächen wieder in Flächen und Tangentialebenen wieder in Tangentialebenen überführen. Wir wählen eine Parametrisierung Φ : U 0 Ê 3 für M und eine Koordinatenumgebung U von a mit Φ(U 0) = M U. Für u 0 = Φ 1 (a) hat dφ(u 0) den Rang 2; bei entsprechender Nummerierung der Raumkoordinaten dürfen wir deshalb annehmen, dass 1Φ 1 (u 0) 2Φ 1 (u 0) 1Φ 2 (u 0) 2Φ 2 (u 0) 0. Wir wenden den Umkehrsatz Bd.1, 22:5.2 auf Ψ := (Φ 1,Φ 2 ) an. Nach der Bemerkung (a) über die Einschränkung von Parametrisierungen können wir U 0 gleich so wählen, dass Ψ ein C Diffeomorphismus zwischen U 0 und einer Umgebung V 0 von (a 1,a 2 ) ist. Die Abbildung Φ Ψ 1 : V 0 Ê 3 hat die Gestalt (u 1,u 2 ) (u 1,u 2,ϕ(u 1,u 2 )) mit der C Funktion ϕ = Φ 3 Ψ 1 und besitzt die Bildmenge Φ Ψ 1 (V 0) = Φ(U 0) = M U.

2 Flächen im Ê 3 195 2.2 Differentialrechnung auf Flächen (a) Eine Funktion f : M Ê auf einer Fläche M Ê 3 heißt differenzierbar, wenn es zu jedem Punkt a M eine Parametrisierung Φ : U 0 M U einer Koordinatenumgebung von a gibt, so dass f Φ auf U 0 differenzierbar ist. Für jede andere Parametrisierung Ψ : V 0 M V einer Koordinatenumgebung M V von a ist f Ψ = (f Φ) (Φ 1 Ψ) dann nach 2.1(a) ebenfalls in einer Umgebung von Φ 1 (a) differenzierbar, so dass der Begriff der Differenzierbarkeit von Funktionen nicht von der Wahl der Parametrisierung abhängt. Differenzierbare Funktionen f : M Ê sind stetig wegen f = (f Φ) Φ 1. Es ist klar, wie C r Differenzierbarkeit zu definieren ist. Auf den Begriff der Ableitung einer differenzierbaren Funktion f : M Ê gehen wir in (c) ein. Die C r Differenzierbarkeit von Vektorfeldern X = (X 1,X 2,X 3 ) : M Ê 3 wird auf die C r Differenzierbarkeit der Koordinatenfunktionen X 1,X 2,X 3 zurückgeführt. Damit ist auch klar, was C r -Differenzierbarkeit einer Abbildung ϕ : M N zwischen zwei Flächen M und N bedeutet. Wennnichts Anderes gesagt wird, setzen wir die C Differenzierbarkeit voraus. Den Vektorraum der C Funktionen f : M Ê bezeichnen wir mit FM. Unter einer Kurve auf einer Fläche M verstehen wir eine Kurve α : I M mit der Eigenschaft, dass für jede Parametrisierung Φ : U 0 M U die Koordinatenkurve t Φ 1 (α(t)) für alle t I mit α(t) M U eine C Kurve im Ê 2 ist. Meist lassen wir das Attribut C differenzierbar weg und sprechen einfach von Funktionen, Vektorfeldern und Kurven auf einer Fläche M. (b) Unter einem tangentialen Vektorfeld X auf M verstehen wir ein C Vektorfeld auf M mit X(a) T am für jedes a M. Die Gesamtheit der tangentialen Vektorfelder auf M bezeichnen wir mit VM. Die Menge VM enthält mit X,Y VM, f,g FM auch die Linearkombination fx +gy. Für jede Parametrisierung Φ : U 0 Ê 3 von M mit Koordinatenumgebung M U = Φ(U 0) definieren wir die lokalen Basisfelder auf M U durch X i(a) := iφ(u) für a = Φ(u) M U (i = 1,2). Wegen X i Φ = iφ und der C Differenzierbarkeit von Φ : U 0 Ê 3 sind diese C differenzierbar. Jedes tangentiale Vektorfeld X VM hat auf M U die lokale Basisdarstellung X = ξ i X i mit C differenzierbaren Koeffizientenfunktionen ξ 1,ξ 2.

196 7 Kurven und Flächen im Ê 3 Denn mit a ik = iφ, k Φ, b k = X Φ, k Φ ergibt sich aus X Φ = (ξ i Φ) iφ durch Skalarproduktbildung mit k Φ das 2 2 Gleichungssystem a ik (ξ i Φ) = b k (k = 1,2) k=1 mit der Determinante 1Φ 2 2Φ 2 1Φ, 2Φ 2 = 1Φ 2Φ 2 > 0. Dessen Lösungen ξ i Φ ergeben sich mit der Cramerschen Regel als rationale Ausdrücke in den differenzierbaren Funktionen a ik,b k, woraus sich definitionsgemäß die C Differenzierbarkeit der ξ i ergibt. (c) Für eine Funktion f FM und einen Punkt a M definieren wir die Ableitung in Richtung eines Tangentialvektors v T am durch vf(a) := (f α) (0) = d dt f(α(t)) t=0, wobei α : ] ε,ε[ M eine Flächenkurve ist mit α(0) = a, α(0) = v. Die Wahl der Kurve α spielt hierbei keine Rolle; das ergibt sich aus der Koordinatenstellung der Richtungsableitungt: Für jede Parametrisierung Φ einer Koordinatenumgebung M U von a mit Φ(u 0) = a und die zugehörigen lokalen Basisfelder X 1,X 2 gilt (1) vf(a) = v i if(a), falls v = v i X i(a); hierbei ist (2) if(a) := i(f Φ)(u 0) = vi f(a) mit v i := X i(a) (i = 1,2). Denn für u(t) = (u 1 (t),u 2 (t)) := Φ 1 (α(t)) gilt u(0) = u 0 und v = α(0) = (Φ u) (0) = iφ(u 0) u i (0) = u i (0)X i(a). Es folgt v i = u i (0) für i = 1,2 und damit (f α) (0) = ((f Φ) u) (0) = i(f Φ)(u 0) u i (0) = v i if(a). Aus (1) folgt insbesondere if(a) = vi f(a) mit v i := X i(a) (i = 1,2).

2 Flächen im Ê 3 197 Rechenregeln für die Richtungsableitung (3) (4) v vf(a) ist linear auf T am, f vf(a) ist linear und genügt der Produktregel. Beweis als ÜA. (d) Für Vektorfelder X = (X 1,X 2,X 3 ) : M Ê 3 erklären wir die Ableitung in Richtung v T am durch vx(a) := ( vx 1 (a), vx 2 (a), vx 3 (a) ). Wie in (c) ergibt sich die Linearität dieser Richtungsableitung bezüglich v und bezüglich X; ferner gilt die Skalarproduktregel ÜA v X,Y (a) = vx(a),y(a) + X(a), vy(a). Für ein tangentiales Vektorfeld X und ein beliebiges Vektorfeld Y definieren wir das Feld XY durch die punktweise ausgeführte Richtungsableitung XY(a) := X(a) Y(a) für a M. Bei gegebener Parametrisierung mit zugehörigen lokalen Basisfeldern X 1,X 2 setzen wir wie oben iy := Xi Y. Für die lokalen Basisfelder X 1,X 2 gelten die Vertauschungsrelationen ix k = k X i, i jx k = j ix k, denn diese bedeuten nichts anderes als i k Φ = k iφ, i j k Φ = j i k Φ. 2.3 Die innere Geometrie von Flächen (a) Zur inneren Geometrie einer Fläche M Ê 3 zählen wir seit Gauss alle Begriffe, die sich auf Längenmessung innerhalb von M zurückführen lassen. Für die Länge L(α) = 1 0 α(t) dt eines Kurvenstücks α : [0,1] M auf der Fläche benötigen wir nur die Kenntnis der Norm von Tangentenvektoren v T am, a M. Die innere Geometrie

198 7 Kurven und Flächen im Ê 3 der Fläche M ist dadurch festgelegt, wenn wir für alle Tangentenvektoren von M die Ê 3 Norm übernehmen, oder, was auf dasselbe hinausläuft, das Ê 3 Skalarprodukt u,v von Tangentenvektoren u,v T am, a M. Wir bezeichnen das auf T am eingeschränkte Skalarprodukt mit, a : T am T am Ê und nennen dieses die erste Fundamentalform von M an der Stelle a M. Entsprechend bezeichnen wir die auf T am eingeschränkte Ê 3 Norm mit a. Zur inneren Geometrie der Fläche M zählt somit alles, was sich mit Hilfe der ersten Fundamentalform ausdrücken lässt. Hierzu gehören Winkel, Flächeninhalt, und, wie wir im Folgenden zeigen, die Gaußsche Krümmung, Geodätische und Parallelverschiebung von Vektoren. Gauss entwickelte dieses Programm in seiner Flächentheorie (Disquisitiones generales circa superficies curvas 1827 [69], veröffentlicht 1828). (b) Sei Φ : U 0 Ê 3 Parametrisierung einer Koordinatenumgebung M U = Φ(U 0), und X 1,X 2 seien die zugehörigen lokalen Basisfelder, d.h. für i = 1,2 gilt X i(a) = iφ(u 0) mit a = Φ(u 0). Dann sind die Koeffizienten der ersten Fundamentalform g ij = X i,x j C differenzierbar auf M U wegen g ij Φ = iφ, jφ C (U 0). Demnach sind die g ij (von der Parametrisierung Φ abhängige) Funktionen auf M. In solchen Fällen, in denen die Fläche durch konkrete Parametrisierungen gegeben ist, bezeichnen wir die Skalarprodukte iφ, jφ = g ij Φ 1 bequemlichkeitshalber ebenfalls mit g ij, so wie dies in 6:2.3 und in Bd.1, 25:2.1 praktiziert wurde. Für tangentiale Vektorfelder X, Y mit den Basisdarstellungen X = ξ i X i, Y = η j X j erhalten wir X,Y = i,j=1 j=1 g ij ξ i η j, X 2 = i,j=1 g ij ξ i ξ j. Die zweite Gleichung wird in traditioneller Notation geschrieben als ds 2 = g ijdu i du j i,j=1 mit der Interpretation von ds als Abstand zweier infinitesimal benachbarter Punkte mit den Koordinaten (u 1,u 2 ) und (u 1 +du 1,u 2 +du 2 ).

http://www.springer.com/978-3-662-53968-2