Die Gesundheit der Migrationsbevölkerung in der Schweiz: Determinanten, Ressourcen und Risiken

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Transkript:

Chantal Wyssmüller, chantal.wyssmuller@unine.ch Forum für Migrations- und Bevölkerungsstudien (SFM), Universität Neuchâtel Referat Nationale Fachtagung «Migrationsgerechte Suchtarbeit», Biel, 4.6.2009 Die Gesundheit der Migrationsbevölkerung in der Schweiz: Determinanten, Ressourcen und Risiken [Vgl. auch PPT-File mit graphischer Darstellung des Erklärungsmodells von L. Schenk sowie das Kapitel im Nationalen Gesundheitsbericht 2008: Efionayi-Mäder, Denise und Chantal Wyssmüller (2009): Migration und Gesundheit. In: Katharina Meyer (Hg): Gesundheit in der Schweiz. Nationaler Gesundheitsbericht 2008. Verlag Hans Huber, Bern, S. 88-105. Download: http://www.obsan.admin.ch/bfs/obsan/de/index/05/publikationsdatenbank.html?publicationid=3353 ] Einleitung Gestützt auf qualitatives und quantitatives Forschungswissen gilt mittlerweile als unbestritten, dass Migration zwar nicht a priori krank macht, dass aber ein Migrationshintergrund verstanden als eine Lebenssituation, die durch eine eigene oder die Migrationserfahrung enger Familienangehöriger geprägt ist sich unter Umständen durchaus negativ auf die Gesundheit auswirken kann (und dies nicht selten auch tut). Die vorhandenen Daten und Auswertungen zur Gesundheit der Migrationsbevölkerung in verschiedenen Einwanderungsländern, auch in der Schweiz, weisen jedenfalls alle tendenziell in die Richtung, dass weite Teile der zugewanderten Bevölkerung in gesundheitlicher Hinsicht vergleichsweise schlecht situiert erscheinen. In der Schweiz hat ein beachtlicher Teil der hier wohnhaften Bevölkerung, nämlich rund ein Drittel, einen Migrationshintergrund wenn man diesen so definiert, dass es sich um Menschen handelt, die entweder selber in dieses Land eingewandert sind oder aber die hier geboren sind, aber mindestens einen zugezogenen Elternteil haben. Diese Tatsache verlangt nach Berücksichtigung in Überlegungen und Strategien zu öffentlicher Gesundheit und für gesundheitliche Chancengerechtigkeit. Oder anders gesagt: Die Zusammenhänge zwischen Migration und Gesundheit sind unter dem Gesichtspunkt der öffentlichen Gesundheit ein durchaus relevantes Thema und verdienen bei der Konzeption von Massnahmen entsprechende Beachtung. Da Interventionen gewisse Kenntnisse voraussetzten, auf denen sie aufbauen können, müssen die Interaktionen zwischen Migration und Gesundheit weiter wissenschaftlich untersucht und die Zusammenhänge genauer herausgearbeitet werden, denn viele Fragen sind noch SFM - Forum suisse pour l'étude des migrations et de la population Rue St-Honoré 2 CH-2000 Neuchâtel Tél.: +41 32 718 39 20 Fax: +41 32 718 39 21 secretariat.sfm@unine.ch www.migration-population.ch L'institut SFM est associé à la Maison d'analyse des processus sociaux (MAPS) www.unine.ch/maps

nicht ausreichend geklärt. Wie genau, in welchem Ausmaß, unter welchen Bedingungen und in welcher Art und Weise beeinflusst Migration den Gesundheitszustand? Ein wichtiger Grund für diese Wissenslücken besteht darin, dass für eine fundierte Analyse dieser Zusammenhänge bislang vielerorts nicht nur in der Schweiz eine Datenbasis fehlt, welche Menschen mit Migrationshintergrund und ihre Lebenswelten angemessen erfassen und repräsentieren würde. Die Tauglichkeit der Daten für eine migrationssensible Analyse und Gesundheitsberichterstattung hängt ja zunächst davon ab, ob und inwiefern Menschen mit Migrationshintergrund im Datensatz überhaupt als solche identifizierbar sind. Leider erfasst die amtliche Statistik in der Regel nicht die nötigen Merkmale zur Identifikation eines Migrationshintergrundes; oft ist lediglich das Merkmal der Staatszugehörigkeit, manchmal des Geburtsorts, erfasst. Die Bevölkerung mit Migrationshintergrund wird somit häufig auf jene Personen reduziert, die den amtlichen Status AusländerInnen haben. Eingewanderte Schweizer BürgerInnen ebenso wie der wachsende Teil der eingebürgerten MigrantInnen Menschen, die ja ebenfalls eine Migrationserfahrung aufweisen verschwinden dabei einfach in der Mehrheitsgruppe der SchweizerInnen. Überhaupt ist die Migrationsbevölkerung, wie sie oft als Gesamtheit bezeichnet wird, nicht nur was die Staatszugehörigkeit betrifft, sondern auch unter vielen anderen Gesichtspunkten in sich ausgesprochen heterogen und vielfältig. Die unter diesem Begriff subsumierten Menschen unterscheiden sich in Bezug auf das Alter, das Geschlecht, die geographische Herkunft, den sozioökonomischen und Bildungshintergrund oder auch Sprachkenntnisse, aber auch hinsichtlich ihrer Lebensverläufe, der Gründe und Umstände ihrer Migration sowie ihres aufenthaltsrechtlichen Status im Einwanderungsland, um nur einige wichtige Dimensionen zu nennen. Eine pauschale Betrachtung dieser Bevölkerungsgruppe ist also eigentlich nur insofern sinnvoll, als dass sie zur Entwicklung eines theoretischen Wirkungsmodells beitragen kann, eine Modells wie ich es gleich vorstellen werde. Dies indem das Kennzeichen fokussiert wird, das die Angehörigen dieser Gruppe trotz ihrer Heterogenität gemeinsam haben: Die Tatsache, dass ihre Lebenssituation in mehrdimensionaler Weise durch die Migrationserfahrung der Familie geprägt ist und sich dadurch eben von einer Situation ohne Migrationshintergrund abhebt. In der empirischen epidemiologischen Forschung jedoch muss diese Sammelkategorie Migrationsbevölkerung weiter differenziert werden. Gesundheitsdeterminanten im Migrationskontext - Wissensstand Ein einflussreicher Faktor mit Blick auf die Gesundheit und das Gesundheitsverhalten ist zweifellos die sozioökonomische Lage. Studien haben vielfach gezeigt, dass dort, wo gesundheitliche Unterschiede zwischen Migrations- und Mehrheitsbevölkerung beobachtet werden, diese meist weitgehend darauf zurückzuführen sind, dass ein Grossteil der Migrations- oder ausländischen Bevölkerung sich im Vergleich zur einheimischen Bevölkerung in einer schlechteren sozialen Lage befindet auch in der Schweiz ist immer noch die Mehrheit der Zugewanderten sozial schlechter gestellt als die Einheimischen, obwohl zurzeit in Einklang mit der Neuausrichtung der Migrationspolitik seit den 1990er Jahren tendenziell eine Überschichtung der Gesellschaft durch Zuwandernde aus EU- Staaten im Gang ist. In Bezug auf diese neuen Einwanderungsgruppen fallen die negativen Wirkungen sozioökonomischer Benachteiligung auf die Gesundheit weitgehend nicht ins Gewicht, und die beobachteten gesundheitlichen Unterschiede zwischen diesen Gruppen und den Schweizerinnen und Schweizern erweisen sich denn auch als viel weniger ausgeprägt. Chantal 2 Wyssmüller; Juni 2009

Allerdings können mit dem sozioökonomischen Status auch nicht alle gesundheitlichen Unterschiede restlos erklärt werden. Mit Blick auf bestimmte Gesundheitsmerkmale oder gesundheitsrelevante Verhaltensweisen von Bevölkerungsgruppen mit Migrationshintergrund erklärt die Variable sozioökonomische Lage nicht den gesamten Nachteil im Vergleich zur Mehrheitsbevölkerung. Gleichzeitig scheinen mit Blick auf andere Gesundheitsmerkmale Personen aus Migrationsfamilien, auch wenn sie sozial benachteiligt sind, kaum stärker oder sogar weniger gefährdet als Menschen ohne Migrationshintergrund. Es muss also noch weitere Faktoren geben, die mit einem Migrationshintergrund in Zusammenhang stehen und die unter Umständen die Gesundheit beeinflussen können und zwar nicht nur negativ im Sinne höherer Risiken, sondern auch positiv im Fall des Vorhandenseins bestimmter migrationsspezifischer Ressourcen. In der Vergangenheit und bis heute dominierten in Forschung und Praxis eher defizitorientierte Ansätze: man interessierte sich für das Krankmachende der Migration und liess die möglicherweise ebenfalls vorhandenen gesundheitsbezogenen Ressourcen ausser Acht. Erst in jüngster Zeit werden vermehrt auch Ressourcen wie etwa für bestimmte Gruppen charakteristische gesundheitsbegünstigende Verhaltensweisen, besonderes Unterstützungspotential durch die Familie oder die Zugewanderten- Community oder die Wirkungen einer konstruktiven Bewältigung des Migrationsereignisses in den Blick genommen. Entwicklung eines theoretischen Erklärungsmodells (L. Schenk) Liane Schenk, eine in Deutschland forschende Medizinsoziologin, hat zusammen mit ihren Mitarbeitenden versucht, die Komplexität der Zusammenhänge und Wechselwirkungen zwischen Migration und Gesundheit modellhaft darzustellen, um diesen Zusammenhängen in der empirischen epidemiologischen Forschung besser Rechnung tragen zu können. Das Modell führt verschiedene vorhandene theoretische Erklärungsansätze zu Migration und Gesundheit zusammen und integriert auch Erkenntnisse über den Zusammenhang zwischen sozialer und gesundheitlicher Ungleichheit. Den Kern des Modells bilden diejenigen zentralen Dimensionen, die eine Situation mit von einer Situation ohne Migrationshintergrund unterscheiden und also potentiell zu gesundheitlichen Ungleichheiten zwischen der einheimischen und der zu untersuchenden Migrationsgruppe führen können. Ob und welchen Einfluss die einzelnen Faktoren auf ein bestimmtes Gesundheitsphänomen tatsächlich haben, müsste dann jeweils für die fokussierte Gruppe empirisch geprüft werden. Nicht alle Faktoren müssen für eine spezifische Fragestellung relevant sein. Der Aufbau des Erklärungsmodells im Einzelnen: Zu gesundheitlichen Ungleichheiten zwischen der einheimischen und zugewanderten Bevölkerung können zunächst spezifische Gegebenheiten im Herkunftsland oder während der Migration führen, die mit Gesundheitsvor- bzw. - nachteilen verbunden sind. Zu denken ist etwa an den Einfluss der Umwelt- /Lebensbedingungen man weiss ja zum Beispiel, wie wichtig die Bedingungen in der frühen Kindheit für die Gesundheit im Verlauf des gesamten Lebens sind, dann auch an die Möglichkeiten der gesundheitlichen Versorgung im Herkunftsland, an den dort entwickelten Lebensstil oder an die konkreten Umstände, die zu einer freiwilligen oder unfreiwilligen Migration veranlassen, etwa die Erfahrung extremer Gewalt oder Verfolgung. Chantal Wyssmüller; Juni 2009 3

Die Migration selbst stellt im Leben einer Migrantin oder eines Migranten in vielen Bereichen einen radikalen Bruch dar. Sie geht einher mit der Erfordernis einer Neuorientierung und bedeutet oft auch die Entwertung praktischen Handlungswissens; sie kann mit sozialer Entwurzelung, Rollenkonflikten oder Statusverlust verbunden sein. Wird dieses kritische Lebensereignis subjektiv als belastend erlebt und fehlen Ressourcen zu dessen konstruktiver Bewältigung, kann dies die Gesundheit einer migrierten Person längerfristig beeinträchtigen. Migrationsbedingte Orientierungs- und Anpassungsanforderungen können auch für nachfolgende Generationen bedeutsam sein. Als Ressourcen für eine konstruktive und gesundheitsbegünstigende Bewältigung der Migrationserfahrung gelten neben materiellen und sozialen u.a. eine positive subjektive Bewertung der Migration und Persönlichkeitsmerkmale wie Kontrollüberzeugung und Optimismus. Der unbestritten hohe Erklärungswert des sozioökonomischen und sozioprofessionellen Status im Aufnahmeland in Zusammenhang mit gesundheitlicher Risikoexposition wurde bereits angesprochen. Faktoren wie Bildung, Beruf und Einkommen prägen die Chancen, gesund zu bleiben oder zu erkranken, erwiesenermassen ganz wesentlich ungleich stärker als das frei wählbare, also von den sozialen Faktoren unabhängige individuelle Gesundheitsverhalten. Schlechte Einkommensverhältnisse und damit einhergehend oft auch suboptimale Wohnverhältnisse, Ernährungs- und Hygienemöglichkeiten sowie gesundheitsschädigende Arbeitsbedingungen unter denen Migrantinnen und Migranten zum Teil leben sind bedeutende gesundheitliche Risikofaktoren. Nicht nur die besondere soziale Lage, sondern auch der rechtliche Status von Migrantinnen und Migranten im Aufnahmeland kann u.u. eine Rolle spielen. Ihre Situation kann etwa durch einen unsicheren oder irregulären Aufenthaltsstatus und damit einhergehende psychosoziale Belastungen charakterisiert sein. Im Unterschied zu Personen ohne Migrationshintergrund ist die Situation von Migranten und Migrantinnen neben der geschlechts-, bildungs- und generationsspezifischen Zugehörigkeit oft auch durch eine selbst hergestellte oder als Fremdkonstruktion und Fremdzuschreibung erfahrene ethnische Zugehörigkeit geprägt. Sie kann ebenfalls gesundheitliche Konsequenzen haben negative etwa infolge der Erfahrung ausländerfeindlicher Diskriminierung von Seiten der ansässigen Bevölkerung, oder positive, wenn die ethnische Community als Identitätsanker unterstützend und psychisch stabilisierend wirkt. Ethnizität ist damit ein Merkmal, das eine Lebenssituation mit Migrationshintergrund charakterisieren kann und oft auch tut, allerdings keinesfalls das einzige und allein erklärende. Schliesslich sind Zugangsbarrieren zu Angeboten der Gesundheits- und Sozialdienste ebenfalls ein Merkmal, das die Situation von Menschen mit Migrationshintergrund kennzeichnen kann. Sie können sich auf der Seite der Migrantinnen und Migranten aus sprachlich bedingten Kommunikationsschwierigkeiten, aus einem schlechten Informationsstand über die Angebote, aus fehlendem Vertrauen in öffentliche Einrichtungen oder spezifischem Krankheitsverständnis oder Schamgefühl ergeben. Auf Angebotsseite sind fehlende transkulturelle Kompetenz der Institutionen und ihrer Mitarbeitenden oder rechtliche Zugangsbeschränkungen mögliche Ursachen für Zugangsbarrieren. Zusammenfassend ist ein Migrationshintergrund in diesem Verständnis ein komplexes Bedingungsgefüge, dessen eben aufgezählte Dimensionen sich wechselseitig beeinflussen und je nach fokussiertem Gesundheitsaspekt unterschiedliche Wirkung zeitigen. Chantal 4 Wyssmüller; Juni 2009

Ein zwischen diesen Dimensionen vermittelnder Faktor ist das Gesundheits- und Inanspruchnahmeverhalten, also die gesundheitsbezogenen Einstellungen und Gewohnheiten zum Beispiel in Sachen Ernährung, körperliche Aktivität, Suchtmittelkonsum, Gesundheitsvorsorge und Inanspruchnahme von Versorgungsangeboten. Dieses Verhalten ist sowohl vom Herkunfts- wie auch vom Aufnahmekontext und stark auch von der sozioökonomischen Situation beeinflusst und es ist dynamisch. Verhaltensmuster unterliegen einem Wandel und werden intergenerationell z.t. konflikthaft ausgehandelt. Die empirische Forschung bestätigt, dass mit zunehmender Verweildauer im Aufnahmeland eine stärkere Orientierung an der Aufnahmegesellschaft und damit ein Wandel von Gewohnheiten, Gesundheitskonzepten und gesundheitsbezogenen Verhaltensweisen einhergeht, so dass Differenzen innerhalb der Migrationsbevölkerung auf Gruppenebene auch aus der unterschiedlichen (durchschnittlichen) Aufenthaltsdauer der Zugewandertengruppen resultieren können. Ebenfalls auf dieser Vermittlungsebene anzusiedeln ist die individuelle Ressourcenlage: Ob die Faktoren des Migrationshintergrunds nämlich gesundheitliche Konsequenzen haben oder nicht, hängt ganz entscheidend von vorhandenen oder nicht vorhandenen personalen, familialen und sozialen Ressourcen ab. Gesundheit im Migrationskontext ist also eine komplexe Thematik in Erklärungsansätzen wird sie allzu oft auf die Wirkungen unterschiedlicher kultureller Prägungen verkürzt, was ihr aber in keiner Weise gerecht wird. Gesundheit von MigrantInnen in der Schweiz aktuelle Daten Betrachten wir nun noch kurz die vorhandenen Daten zur gesundheitlichen Situation der Migrationsbevölkerung in der Schweiz. In den GMM-Daten 1 zeigte sich zum Beispiel, dass hohe Anteile vor allem der Befragten aus Südosteuropa und der Türkei ihren Gesundheitszustand als schlecht oder sehr schlecht beurteilten und erklärten, in ihrem Alltag durch körperliche und/oder psychische Probleme eingeschränkt zu sein. Gleichzeitig geht hervor, dass in diesen Zugewandertengruppen, insbesondere von Frauen und Personen in höherem Alter sowie von Asylsuchenden, auch relativ häufig Versorgungsleistungen in Anspruch genommen und Medikamente konsumiert werden. Auch andere Datenquellen weisen in verschiedenen Bereichen der Gesundheit auf schlechtere Werte von Ausländerinnen und Ausländern im Vergleich zu Schweizer Staatsangehörigen hin, etwa bei der reproduktiven und der psychischen Gesundheit (hier insbesondere bei Frauen), bei bestimmten Infektionskrankheiten (v.a. Tuberkulose und HIV) und Krebsarten und bei der Zahngesundheit (hier insbesondere auch bei Jugendlichen). Mit Blick auf Verhaltensindikatoren fällt ein hoher Tabakkonsum bei türkischen Staatsangehörigen auf (bei Männern und Frauen), bei Zugewanderten aus Sri Lanka hingegen scheint Tabakkonsum sehr selten zu sein. Auch Alkoholabstinenz scheint in manchen Gruppen stärker verbreitet zu sein als in der Schweizer Bevölkerung. In Sachen körperliche Aktivität in der Freizeit und Übergewicht zeigen v.a. Ausländerinnen 1 Beim Gesundheitsmonitoring der Migrationsbevölkerung in der Schweiz (GMM) handelt es sich um eine im Jahr 2004 durchgeführte Gesundheitsumfrage unter verschiedenen Zugewandertengruppen in der Schweiz, um die erste, die speziell die Gesundheit der Zugewanderten fokussierte und zu diesem Thema den bisher umfassendsten Datensatz hervorbrachte. Chantal Wyssmüller; Juni 2009 5

schlechtere Werte als Schweizerinnen. Ausländische Staatsangehörige beider Geschlechter nehmen auch seltener Vorsorgemassnahmen in Anspruch. Was den Konsum illegaler Drogen angeht, so scheinen die im GMM erhobenen Daten wenig aussagekräftig man kämpft bei derartigen Befragungen ja immer mit der Problematik, dass sensible Daten, die mittels Selbstdeklaration erhoben werden, nicht sehr zuverlässig sind. Gesundheit von MigrantInnen in der Schweiz Erklärungsansätze Insgesamt zeigen die für die Schweiz vorhandenen Daten, dass sich in etlichen Bereichen die sozioökonomische Benachteiligung von gewissen Bevölkerungsgruppen mit Migrationshintergrund (und ihr damit in Zusammenhang stehendes Gesundheitsverhalten) auch im hiesigen Kontext direkt in schlechteren Gesundheitswerten niederschlägt. Allerdings erklären auch hier sozioökonomische Faktoren allein nicht alles insbesondere mit Blick auf psychische Gesundheit ist weiteren migrationsspezifischen Einflüssen Rechnung zu tragen. Um das bisher Gesagte kurz zusammenzufassen: Aus der im Einzelfall je spezifischen Konstellation von Gesundheitsdeterminanten und vorhandenen Ressourcen im Migrationskontext ergeben sich unter Umständen erhöhte oder geringere Gesundheitsrisiken. Oder anders gesagt: Gesundheitschancen und -risiken sind auch innerhalb der Migrationspopulation ungleich verteilt und können sich ausserdem im Zeitund Integrationsverlauf mit der sozialen und individuellen Ressourcenlage wesentlich verändern, ins Positive vielleicht wenn eine Person ihren Aufenthaltsstatus sichern kann, oder wenn sie, falls sie bisher nicht arbeiten konnte, eine Arbeitsstelle antreten kann, oder wenn sie sich mit der Zeit ein soziales Netz aufbauen kann oder ins Negative, zum Beispiel wenn sie den Arbeitsplatz verliert, oder wenn sie Diskriminierungserfahrungen macht. Tatsache ist aber auch, dass gerade in der Schweiz grosse Teile der Migrationsbevölkerung sozial vergleichsweise schlecht gestellt sind und unter Bedingungen arbeiten, die Gesundheitsrisiken bergen, was bereits einen wesentlichen Teil zur Erklärung der beobachteten schlechteren Gesundheit beiträgt. Wenn also bestimmte Zugewandertengruppen als gesundheitlich besonders schlecht situiert erscheinen vorhin wurden einzelne Herkunftsgruppen erwähnt, so darf das nicht vergessen werden. Und es ist auch im Lichte ihrer Einwanderungsgeschichte und der Entwicklung der schweizerischen Migrationspolitik zu sehen. Jahrzehntelang dominierte hierzulande das sogenannte Rotations- oder Konjunkturpufferprinzip die Einwanderungspolitik: Man setzte auf die aktive Rekrutierung von weitgehend unqualifizierten FremdarbeiterInnen aus dem Ausland, deren Aufenthalt man sich als temporär und vorübergehend vorstellte und über deren gesundheitliche Entwicklung man sich kaum Gedanken machte zwar sehr wohl über ihren aktuellen Gesundheitszustand, sie mussten ja arbeitsfähig sein, aber nicht längerfristig. Gerade diese Migrantinnen und -migranten lebten aber in gesundheitlich besonders belastenden und risikobehafteten Situationen, was sich nun, da sie älter sind und werden, besonders deutlich manifestiert. Zuerst waren es die italienischen und spanischen ArbeitsmigrantInnen, die den grössten derartigen Gesundheitsrisiken ausgesetzt waren, später dann vor allem Personen aus Südosteuropa (ehemaliges Jugoslawien und Türkei) und aus Portugal, heute auch aus Afrika, Asien und Lateinamerika die Menschen (und ihren Nachkommen), die in den vergangenen zwanzig Jahren auf der Suche nach Arbeit oder auf der Flucht vor Krieg und Verfolgung in die Schweiz gekommen sind. Chantal 6 Wyssmüller; Juni 2009

Handlunsbedarf und ansätze Wie ist dieser Realität und allgemein den Herausforderungen, die sich aus dem Migration- Gesundheits Nexus ergeben, zu begegnen? Auf der Strategie-Ebene ergibt sich aus dem heutigen Wissensstand, dass man mit breit angelegten, multisektoralen Ansätzen, die auf eine Reduzierung der sozialen Ungleichheit und auf Integrationsförderung abzielen, schon eine beträchtliche Verbesserung auch der Gesundheit der Migrationsbevölkerung erreichen könnte. Solche Politikansätze werden heute in praktisch allen europäischen Staaten im Public-Health Bereich propagiert. Was die Ebene der Gesundheits- und sozialen Versorgung angeht, so kann man deren Strukturen und Angebote mit einem konsequent bedarfsgerechen Vorgehen und der Förderung der institutionellen und individuellen transkulturellen Kompetenz 2 noch besser auf eine vielfältige, auch von Einanderung geprägte Klientel ausrichten. Eine verstärkte Ressourcenorientierung in der Forschung und die konsequente Stärkung der Ressourcen von Menschen mit Migrationshintergrund schliesslich dürften sich ebenfalls positiv auf die Gesundheit dieser Bevölkerungsgruppe auswirken. 2 Transkulturelle Kompetenz ist die Fähigkeit, anderen Menschen in ihrer individuellen Lebens- und Gesundheitssituation vorurteilsfrei begegnen zu können. Transkulturelle Kompetenz basiert auf Hintergrundwissen, Selbstreflexion und Empathie. Sie trägt dazu bei, migrationsspezifische Problemlagen zu erkennen und adäquat zu handeln. Auf der institutionellen Ebene bedeutet Transkulturelle Kompetenz die Verankerung der Thematik in Arbeitskonzepten, Leitbildern und Strukturen und eine entsprechende Sensibilisierung und Weiterbildung aller Mitarbeitenden auf sämtlichen Ebenen einer Einrichtung. Chantal Wyssmüller; Juni 2009 7