Psychisch auffällige Jugendliche: Risiken und frühe Hilfen Prof. Dr. Rainer Richter Bundespsychotherapeutenkammer Initiativkongress des Aktionsbündnisses für Seelische Gesundheit Berlin, 9. Oktober 2007
Überblick I. Risiko- und Schutzfaktoren II. Prävention und frühe Hilfen III. Fazit 2
Psychische Gesundheit von Kindern und Jugendlichen in Deutschland Ergebnisse aus der BELLA-Studie im Kinder- und Jugendgesundheitssurvey (KiGGS) 3
BELLA-Studie im Kinder- und Jugendgesundheitssurvey (KiGGS) Psychische Auffälligkeiten im Jugendalter 20 Auftretenshäufigkeit (in %) 15 12,0 Altersgruppe 10 5 5,2 5,6 9,4 1,7 1,4 7,5 7,4 11-13 14-17 0 Depression Ängste ADHS Störungen des Sozialverhaltens 4
Risiko- und Schutzfaktoren psychischer Störungen *) *) Evidenz-basierte Risiko- und Schutzfaktoren. WHO (2004). Prevention of Mental Disorders: Effective Interventions and Policy Options. 5
Risiko- und Schutzfaktoren psychischer Störungen *) Individuell und familienbezogen (Auswahl) Risiken Genetische Disposition Schwierigkeiten in der Emotionsregulation Frühkindliche Entwicklungsverzögerungen Aufmerksamkeitsstörungen Geringe soziale Kompetenzen Körperliche Erkrankungen Vernachlässigung Psychische Störung der Eltern Substanzmissbrauch in der Familie Exposition gegenüber Aggressionen, Gewalt Schulversagen / Schulische Demoralisierung Geringer Bildungsstand der Eltern Dysfunktionales Erziehungsverhalten Familien- bzw. Partnerkonflikte / familiäre Gewalt Belastende Lebensereignisse Schutzfaktoren Geschlecht Intelligenz Positives Selbstkonzept Hohe Selbstwirksamkeitserwartungen Problemlösefähigkeiten Soziale Kompetenz Stressbewältigungsfähigkeiten Anpassungsfähigkeit Autonomie Positive Bindungserfahrungen Interesse der Eltern am Leben des Kindes Elterliche Wärme Kohäsion und Anpassungsfähigkeit der Familie Konsistentes Erziehungsverhalten Soziale Unterstützung durch Familie und Freunde *) Evidenz-basierte Risiko- und Schutzfaktoren. WHO (2004). Prevention of Mental Disorders: Effective Interventions and Policy Options. 6
Risiko- und Schutzfaktoren psychischer Störungen *) Gesellschaftlich, sozial und ökonomisch (Auswahl) Risiken Armut Arbeitslosigkeit der Eltern Schlechte Wohnverhältnisse Schlechte Schulverhältnisse Geringer sozio-ökonomischer Status Migration Diskriminierung Gewalttätiges Umfeld Auffällige Gleichaltrigengruppe Ablehnung durch Gleichaltrige Schutzfaktoren Einkommensgerechtigkeit Hohe Bildungsqualität (positive Schulerfahrungen) Unterstützendes und anregendes soziales Netz Gesellschaftliche Teilhabe Toleranz / Integration von Minderheiten Soziale Unterstützung durch Familie und Freunde *) Evidenz-basierte Risiko- und Schutzfaktoren. WHO (2004). Prevention of Mental Disorders: Effective Interventions and Policy Options. 7
BELLA-Studie im Kinder- und Jugendgesundheitssurvey (KiGGS) 8
BELLA-Studie im Kinder- und Jugendgesundheitssurvey (KiGGS) Das Risiko einer psychischen Auffälligkeit ist bei Kindern und Jugendlichen aus konfliktbelasteten Familien fünffach erhöht aus Familien, in denen die Erziehenden aus einer konfliktbelasteten Familie kommen, dreifach erhöht aus Familien, in denen die Erziehenden eine unglückliche Partnerschaft führen, dreifach erhöht aus Familien, in denen die Mutter oder der Vater psychisch krank sind, zweifach erhöht aus einem Ein-Eltern-Haushalt zweifach erhöht 9
Mannheimer Kurpfalzerhebung (Längsschnittstudie) Depression im Kindesalter -> psychische Störung im Jugendalter Psychische Störung mit 18 u./o. 25 Jahren (in %) 100 80 60 40 20 0 8 Jahre 13 Jahre gesund subklinische Depression klinische Depression Risken für ungünstige Verläufe bis zum frühen Erwachsenenalter: Niedriger sozioökonomischer Status Kontaktstörungen des Kindes Quelle: Ihle et al. (2004) 10
Mannheimer Risikokinderstudie (Längsschnittstudie) Verlauf aggressiv-dissozialer Störungen Relatives Risiko Broken Home Chronische Belastungen Eltern psychisch auffällig Schwangerschaft unerwünscht Mutter alleinerziehend Frühe Elternschaft Schlechte Ausbildung (Eltern) Mangelnde Bewältigungsfertigkeiten (Eltern) 4,47 3,38 2,72 2,69 2,38 2,17 10,24 0 2 4 6 8 10 12 Quelle: Ihle et al. (2004) 11
Frühe Hilfen I: Eltern Frühwarnsysteme und Hilfen für Eltern: (Beispiel: Hamburger Projekt Adebar, Preisträger des Deutschen Präventionspreises 2006) Infobroschüren Familienhebammen Elterncafes Elterntrainings Beratung und Behandlung psychisch kranker Eltern Berufliche Rehabilitation laufendes Modellprojekt des BMFSFJ 12
Frühe Hilfen II: Kinder Früherkennung und rechtzeitige Intervention U-Untersuchungen und Kindergarten- bzw. Schuluntersuchungen durch Öffentlichen Gesundheitsdienst (Screenings um evidenzbasierte Kriterien erweitern) qualifizierte diagnostische Abklärung Behandlung psychisch kranker Kinder ( massive Unterversorgung: lange Wartezeiten, lange Anfahrtswege; KiGGS: Nur 50 % der Kinder mit Diagnose werden behandelt) 13
Frühe Hilfen III: Prävention in Lebenswelten Primärprävention in KITA und Schule Förderung der psychischen Gesundheit von Kindern und Jugendlichen durch Stärkung kognitiver, emotionaler und sozialer Ressourcen: - soziale und emotionale Kompetenzen - Problemlösefähigkeiten - Selbstvertrauen und Selbstwirksamkeit - Entstigmatisierung psychisch kranker Menschen Vorteil: Nachteil: In der Schule gute Erreichbarkeit von Risikogruppen (Geh-Struktur) Geringe Ressourcen insbesondere in Schulen, Zielkonflikte zwischen Bildungszielen und Gesundheitszielen, Maßnahmen oft zu unspezifisch, wenn universell ausgerichtet. 14
Frühe Hilfen III: Prävention in Lebenswelten Beispiel: Fit und Stark fürs Leben (Aßhauer & Hanewinkel, 2000) Universell und schulzentriert Für die Klassen 1-8 Ziele: Förderung von Selbstwertgefühl, Körperbewusstsein, Fertigkeiten zur Kontaktaufnahme, Kommunikation, Emotionsregulation, Stress- und Angstbewältigung, Problemlösen Evaluation: Effekte insbesondere bei externalisierendem Problemverhalten 15
Frühe Hilfen III: Prävention in Lebenswelten Beispiel: Lars & Lisa (Pössel et. al., 2004 ) Universell und schulzentriert (Jugendliche von 12 17 Jahren) Ziele: Reduktion depressiver Symptome, Vermittlung des Zusammenhangs von Kognitionen, Emotionen und Verhalten; Exploration und Veränderung dysfunktionaler Kognitionen, Selbstsicherheit lernen, Training sozialer Fertigkeiten 10 x 2 Unterrichtsstunden Doppelstunden Ergebnisse: Jugendlichen in Trainingsgruppen ohne depressive Symptome bleiben symptomfrei, in Kontrollgruppen nehmen Symptome mit der Zeit zu. Bei Jugendlichen mit subklinischen Symptomen geht depressive Symptomatik in den Trainingsgruppen zurück, in der Kontrollgruppe nicht. 16
Frühe Hilfen IV: Beratung und ambulante Behandlung von Jugendlichen Einrichtungen der psychosozialen Betreuung (Psychologische) Beratungsstellen Online-Angebote (Foren, Beratung) als niedrigschwellige Erste Hilfe (Chancen und Risiken sind noch unzureichend untersucht) Ambulante Psychotherapie Unterversorgung psychisch kranker Jugendlicher ( lange Wartezeiten, lange Anfahrtswege) 17
Fazit I. Risiken für psychische Auffälligkeiten im Jugendalter sind oft bereits lange vorher manifest II. Frühe Hilfen bedeuten Unterstützung von Risikoeltern Früherkennung und Frühförderung bereits im Kindesalter Prävention in den Lebenswelten rechtzeitige Beratung und Behandlung von Eltern und Kindern III. Voraussetzungen Etablierung des Präventionsziels: Psychische Gesundheit Angemessene Screenings und Diagnostik Mehr Forschung insbesondere zur selektiven und indizierten Prävention Flächendeckende Implementierung und nachhaltige Finanzierung evaluierter Präventionsmaßnahmen in den Lebenswelten Ausreichende Beratungs- und Behandlungsangebote für Eltern, Kinder und Jugendliche 18
BundesPsychotherapeutenKammer www.bptk.de 19