Vorlesungsreihe Gesundheitsökonomie, Gesundheitssysteme, Öffentliche ffentliche Gesundheitspflege

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Transkript:

Servicezentrum Patientenmanagement / Medizincontrolling (S.PMC) Vorlesungsreihe Gesundheitsökonomie, Gesundheitssysteme, Öffentliche ffentliche Gesundheitspflege Dozenten: Böhm Kranke Vogel, U. Vogel, H. Menzel

2 Servicezentrum Patientenmanagement / Medizincontrolling (S.PMC) Sozialversicherungssysteme in Deutschland Priv. Doz. Dr. med Thomas Menzel, Servicezentrum Patientenmanagement/Medizincontrolling

Organisation/Zeitplan 3

S.PMC: Internet 4

Agenda Grundlagen der Sozialversicherung Geschichte der Sozialversicherungen in Deutschland Gesetzliche Grundlagen Aktueller Stand Herausforderungen 5

Soziologisch anthropologische Grundlagen Der Mensch ist ein soziales Wesen: Existenz und Persönlichkeit ist ohne Gesellschaft nicht denkbar Viele Bedürfnisse können vom Einzelnen nicht alleine gedeckt werden Soziale Beziehungen sind eine anthropologische Notwendigkeit. Reziprozität ist eine Grundform sozialer Beziehung/ Interaktion Allgemein: unterschiedliche Austauschformen, Geben und Nehmen. Soziologisch: Gegenseitigkeit, auch Prinzip der Gegenseitigkeit genannt (Grundprinzip menschlichen Handelns) reciprocere (lat.) aufeinander bezüglich / gegenseitig / wechselseitig /im umgekehrten Zusammenhang zueinander stehend. Neue soziolog. Terminologie: Tausch (exchange) Direkte "echte" Reziprozität Einfachste Regel: "Tit for tat", auf deutsch "wie du mir, so ich dir". Reziprozitätsform aus der der Tauschhandel (Gabentausch) abgeleitet wird, der Regeln gegenseitiger Verpflichtung der Beteiligten beinhaltet Es kommt zu einer Eröffnungsgabe. Die Gabe muss angenommen werden (häufig gibt es hierfür Normen). Es muss eine Gegengabe erfolgen Während der Partner, der die Eröffnungsgabe machte, auf die Gegengabe wartet, besteht eine Ungewissheitsphase, welche für die Beziehung besonders wichtig ist. In dieser Zeit ist die Beziehung von beiden Seiten durch Erwartungen geprägt (Marcel Mauss) 6

Soziologisch anthropologische Grundlagen Generalisierte Reziprozität Generalisierungen über einen längeren Zeitraum Während bei der direkten Reziprozität ein Ausgleich für eine Gabe oder eine Handlung im Vordergrund steht, werden einzelne Gaben mit der Zeit vergessen. Generalisierung über die Zeit: Generationenbeziehungen Eltern erbringen für ihre Kinder Pflegeleistungen und materielle Unterstützung. Vielfach wird daher von den Kindern im Falle einer Pflegebedürftigkeit der Eltern erwartet, dass sie die ihnen entgegengebrachten Leistungen "erwidern Weitere Generalisierungen (vielfältige Merkmale) Z.B. Landsmannschaft, Hautfarbe oder Geschlecht Generalisierung über ein Merkmal für jemanden eine Leistung erbringen, ohne dass eine Gegengabe von genau jener Person, der sie zugute kam, erwartet werden könnte. Eine Gegengabe wird möglicherweise zu einem späteren Zeitpunkt von jemand anderem erwartet, der das Merkmal des Empfangenden teilt 7

Soziologisch anthropologische Grundlagen Gabe: schenken, opfern, teilen Reziprozität und Gabe sind ubiquitäre soziale Phänomene mit hoher interkultureller Varianz Ambivalenz der Gabe: Zeitabstand zwischen Gabe und Gegengabe konstituiert und erhält soziale Beziehungen und Gemeinschaften Die Gabe kann Beziehungen zerstören (vgl. die Ambivalenz von Netzwerken und Sozialkapital). Die Gabe ist nicht a priori gut (z.b. Korruption) Form der Gabe: Die Gabe muss nicht materiell sein (allgemeiner: Leistung ) 8

Sozialversicherung in Deutschland Die Sozialversicherung bildet in Deutschland die wichtigste Institution der sozialen Sicherung. Sie ist eine staatlich geregelte Fürsorge für wichtige Risiken des Daseins, die von selbstverwalteten Versicherungsträgern organisiert wird. Zur Sicherung des Beitragsaufkommens besteht überwiegend Versicherungspflicht für Personen und Organisationen Der Leistungsbedarf eines Jahres wird nahezu vollständig aus dem Beitragsaufkommen des gleichen Jahres bestritten, d. h. angesammeltes Kapital dient im Wesentlichen nur als kurzzeitige Schwankungsreserve (Nachhaltigkeitsrücklage, Generationenvertrag) Die Leistungen werden vorwiegend als für alle Versicherten gleiche Sachleistungen (Solidaritätsprinzip) oder als beitragsabhängige Geldleistungen (zum Beispiel Renten, Krankengeld) erbracht Zu den Aufgaben der Sozialversicherung gehören neben den Versicherungsleistungen im engeren Sinn auch Prävention und Rehabilitation 9

Geschichte der Sozialversicherung in Deutschland (Überblick) 1883: Krankenversicherung 1884: Unfallversicherung 1889: Rentenversicherung (ursprünglich Invaliditäts und Altersversicherung) 1927: Arbeitslosenversicherung 1957: Rentenreform: Einführung der dynamischen Rente 1995: Pflegeversicherung 10

Ursprünge der Sozialversicherungen Vor 1881: Zünfte und Gilden bieten im Mittelalter erste berufsspezifische Versorgungssysteme (Vorläufer einer Sozialversicherung) 1849: Preußen macht die Krankenversicherung für Bergleute verpflichtend Gemeinden dürfen von Arbeitgebern und Arbeitnehmern Pflichtbeiträge zu erheben 1881: Deutsches Kaiserreich wird weltweit zum Vorreiter beim Aufbau von staatlichen Sozialsystemen: Gesetz betreffend der Krankenversicherung der Arbeiter Das Gesetz baute auf existierenden Ortskrankenkassen, berufsständischen Krankenkassen (Bergbau, Innungen) und Betriebskrankenkassen auf, die auf gemeinnütziger Basis operierten (Primärkassen) Kaiserliche Botschaft 17. November 1881 Wegen des wachsenden Einflusses der Sozialdemokratie sah sich Kaiser Wilhelm I. auf Anraten des Reichskanzlers Otto von Bismarck veranlasst, seine Auffassung vorzutragen, der Reichstag solle Gesetze zur finanziellen Absicherung der Arbeiter gegen Krankheit, Unfall, Invalidität und Alter beschließen. 11

Kaiserliche Botschaft 17. November 1881 Wir Wilhelm, von Gottes Gnaden Deutscher Kaiser, König von Preußen u.s.w., thun kund und fügen hiermit zu wissen: Schon im Februar d. J. haben Wir Unsere Überzeugung aussprechen lassen, daß die Heilung der sozialen Schäden nicht ausschließlich im Wege der Repression sozialdemokratischer Ausschreitungen, sondern gleichmäßig auf dem der positiven Förderung des Wohles der Arbeiter zu suchen sein werde. Wir halten es für Unsere Kaiserliche Pflicht, dem Reichstage diese Aufgabe von Neuem ans Herz zu legen, und würden Wir mit um so größerer Befriedigung auf alle Erfolge, mit denen Gott Unsere Regierung sichtlich gesegnet hat, zurückblicken, wenn es Uns gelänge, dereinst das Bewußtsein mitzunehmen, dem Vaterlande neue und dauernde Bürgschaften seines inneren Friedens und den Hilfsbedürftigen größere Sicherheit und Ergiebigkeit des Beistandes, auf den sie Anspruch haben, zu hinterlassen. In Unseren darauf gerichteten Bestrebungen sind Wir der Zustimmung aller verbündeten Regierungen gewiß und vertrauen auf die Unterstützung des Reichstages ohne Unterschied der Parteistellungen. In diesem Sinne wird zunächst der von den verbündeten Regierungen in der vorigen Session vorgelegte Entwurf eines Gesetzes über die Versicherung der Arbeiter gegen Betriebsunfälle mit Rücksicht auf die Reichstage stattgehabten Verhandlungen über denselben einer Umarbeitung unterzogen, um die erneute Berathung desselben vorzubereiten. Ergänzend wird ihm eine Vorlage zur Seite treten, welche sich eine gleichmäßige Organisation des gewerblichen Krankenkassenwesens zur Aufgabe stellt. Aber auch diejenigen, welche durch Alter oder Invalidität erwerbsunfähig werden, haben der Gesammtheit gegenüber begründeten Anspruch auf ein höheres Maß staatlicher Fürsorge, als ihnen bisher hat zutheil werden können. Für diese Fürsorge die rechten Mittel und Wege zu finden, ist eine schwierige, aber auch eine der höchsten Aufgaben jedes Gemeinwesens, welches auf den sittlichen Fundamenten des christlichen Volkslebens steht. Der engere Anschluß an die realen Kräfte dieses Volkslebens und das Zusammenfassen der letzteren in der Form korporativer Genossenschaften unter staatlichem Schutz und staatlicher Förderung werden, wie Wir hoffen, die Lösung auch von Aufgaben möglich machen, denen die Staatsgewalt allein in gleichem Umfange nicht gewachsen sein würde. Immerhin aber wird auch auf diesem Wege das Ziel nicht ohne die Aufwendung erheblicher Mittel zu erreichen sein. 12

Gesetze zur sozialen Sicherung im Reichstag Krankenversicherungsgesetz 1883 (Gesetzliche Krankenversicherung = GKV) 29. Mai 1883 verabschiedete der Reichstag als erstes das Gesetz betreffend die Krankenversicherung der Arbeiter (KGV) (ab 1. 12. 1884 in Kraft) Für die Versicherten wurden folgende Leistungen eingeführt: Krankengeld ab dem 3. Tag, 50 Prozent bis zu 26 Wochen ärztliche Behandlung, Arznei und Hilfsmittel Krankenhausbehandlung Sterbegeld Wöchnerinnenunterstützung (Mutterschaftshilfe) Die Beiträge trugen der Arbeitgeber zu 1/3 und Arbeitnehmer zu 2/3. Für beide Zahlungen wurde eine Beitragsbemessungsgrenze festgelegt. Träger (Primärkassen): Ortskrankenkassen (OK) Innungskrankenkassen (IKK) Gemeindekrankenkassen Betriebskrankenkassen Baukrankenkassen (Hilfskrankenkassen= Ersatzkassen, versichert überwiegend Angestellte) 13

Unfallversicherungsgesetze Das Unfallversicherungsgesetz trat am 1. 10. 1885 in Kraft Für die Versicherten wurden bei Betriebsunfällen folgende Leistungen eingeführt: Unfallrenten ab der 14. Woche, die Rentenhöhe war vom jeweiligen Verdienst abhängig Medizinische Heilbehandlung Unfallverhütung: Beweispflicht des Verunglückten entfiel Der Arbeitgeber zahlte zu 100 Prozent die Beiträge. Träger wurden die Gewerblichen, Bau, See, Land und Forstwirtschaftlichen Berufsgenossenschaften Pflichtversicherung zu 100% von Arbeitgebern, die sich in Berufsgenossenschaften organisieren 14

Gesetzliche Rentenversicherung Invaliditäts und Alterssicherung 1889 (Gesetzliche Rentenversicherung = GRV) Das Gesetz betreffend der Invaliditäts und Altersversicherung wurde am 22. 6. 1889 vom Reichstag beschlossen und trat ab dem 1. 1. 1891 in Kraft. Folgende Leistungen wurden festgelegt: Übergangsgeld während medizinischer Heilbehandlung Altersrenten ab dem 70. Lebensjahr Invaliditätsrenten Die Beiträge kamen zu gleichen Teilen von Arbeitgeber und Arbeitnehmer. Zusätzlich gab es einen Reichszuschuss. Träger wurden Regionale Versicherungsanstalten für Arbeiter (Landesversicherungsanstalten) 15

Reichsversicherungsordnung (RVO) 19. Juni 1911: Reichsversicherungsordnung (RVO) Regelte die deutsche Sozialversicherung von 1914 bis in die Jahre 1991 / 1992 Heute weitestgehend im Sozialgesetzbuch aufgegangen Zusammenfassung und Weiterentwicklung der früheren Gesetze Einführung der Hinterbliebenenrenten. Hilfskrankenkassen mussten eine Zulassung als Ersatzkasse beantragen und dazu mindestens 1.000 Versicherte vorweisen. 1911: die Angestelltenversicherung (AnV) gegründet Angestellte eine Altersrente ab dem 65. Lebensjahr und ihre Witwen ohne Rücksicht auf ihre Arbeitsfähigkeit und ihr Alter 40 Prozent der Altersrente ihres verstorbenen Ehegatten. Die Angestellten waren damals eine eigenständige soziale Gruppe zwischen den Arbeitern und den Beamten 16

Weimarer Republik Niedergelassene Ärzte in eigener Praxis spielten und spielen eine dominante Rolle im gesamten Gesundheitswesen und nicht nur im niedergelassenen Bereich. Konflikte zwischen Krankenkassen und niedergelassenen Ärzte Basis bis 1923: Berliner Abkommen von 1914 Gemeinsame Ausschüsse von Vertretern der Ärzteschaft und der Kassen Der Anteil Ärzten zu Versicherten auf ein Minimum von 1:1350 festgesetzt. Gemeinsame Zulassungsausschüsse Verträge mit den Ärzten mussten von allen Kassen kollektiv abgestimmt werden Kündigung 1923: Ärztestreiks / Kassen gründen Ambulatorien Niedergelassene Ärzte fühlten sich bedroht durch die Einrichtung einer Vielzahl von Maßnahmen und Einrichtungen zur Prävention, Gesundheitserziehung und Pflege durch die Gemeinden und durch Wohlfahrtsverbände Regierung reagierte auf die Streiks und richtete den Reichsausschuss der Ärzte und Krankenkassen (der heute in Form des Gemeinsamen Bundesausschusses weiter besteht) als gemeinsame verantwortliche Körperschaft zur Regelung des Leistungsumfangs und der ambulanten Versorgung ein. Bis 1933 errangen die Ärzte wichtige Erfolge über die quasi öffentlichen Krankenkassen, andere Heilberufe und angestellte Ärzte im öffentlichen oder gemeinnützigen Sektor. 17

Weimarer Republik 1923: Rezessionsperiode führte zur ersten Selbstbeteiligungsmaßnahme in Form einer 10 bis 20 prozentigen Zuzahlung für Arzneimittel und medizinische Hilfsmittel Notverordnungen um mit steigenden Ausgaben und erheblichen Einnahmeeinbußen der Krankenkassen aufgrund hoher Arbeitslosigkeit über die finanzielle Krise am Ende der Weimarer Republik hinwegzukommen. Einführung des Medizinische Dienst der Krankenkassen (Versicherungen) zur Kontrolle vertragsärztlicher Leistungen Niederlassung im ambulanten Sektor auf einen Vertragsarzt pro 600 GKV Versicherte 1931: Monopol für niedergelassene Ärzte auf die ambulante Patientenversorgung Die Kassenärztlichen Vereinigungen (KVen) erhielten das Recht, umfassende Verträge mit den gesetzlichen Krankenkassen abzuschließen und deren Vergütungen unter ihren Mitgliedern aufzuteilen Seither: Trennung der ambulanten von der stationären Versorgung 18

Nationalsozialismus Während des nationalsozialistischen Regimes (1933 1945) blieben die fundamentalen Strukturen des Sozialversicherungssystems einschließlich seiner Finanzierung und der Gesundheitsversorgung bestehen. 1936: Verpflichtung der Krankenkassen die Krankenhausversorgung Familienangehörigen zu gewähren 1936: die Ersatzkassen dürfen keine freiwillig Versicherten mehr aufnehmen und überführten diese in ausgegründete Versicherungsvereine auf Gegenseitigkeit. Beginn mehrerer Unternehmen der privaten Krankenversicherung. 1939: Einführung des Handwerker Versorgungs Gesetzes (HVG): Versicherungspflicht für selbständige Handwerker. 1941: Ausweitung des Krankenversicherungsschutz auf Rentner Zentralisierung der Organisation der Gesundheitsversorgung Schwächung der Kassen / Stärkung der niedergelassenen Ärzte 19

Nationalsozialismus Die Grundprinzipien der gesetzlichen Krankenversicherung wurden in erheblichem Maß außer Kraft gesetzt Der Zugang zu Versorgungs und Geldleistungen der gesetzlichen Kranken, Unfall und Altersversicherung wurde für die jüdische Bevölkerung und stigmatisierte Minderheiten stark eingeschränkt Zwangsarbeiter mussten Pflichtbeiträge an die gesetzliche Krankenversicherung entrichten, ohne dass ein gesicherter Leistungsanspruch bestand. Die Qualität ihrer Versorgung war häufig unter dem allgemeinen Standard. Angehörige medizinischer Berufe ließen sich als Gutachter für die Legitimierung von Mord, sozialer Selektion und Misshandlung instrumentalisieren Gesetze untersagten jüdischen Ärzten die Behandlung gesetzlich versicherter und letztendlich generell die Berufsausübung. 12% der Ärzte von der medizinischen Versorgung (und 60% der in Berlin praktizierenden Ärzte) ausgeschlossen. Die Mehrheit der nicht jüdischen Ärzteschaft, der Berufsgruppe mit dem höchsten Anteil an Mitgliedern in der NSDAP, begrüßte den Ausschluss der jüdischen Ärzte 20

Bundesrepublik Deutschland bis 1990 1953: erste Sozialwahl zur Besetzung der Selbstverwaltungsorgane der Versicherungsträger 1957: Rentenreform Die Rentenversicherung wurde zu einem auf dem Generationenvertrag beruhenden lohnbezogenen und beitragsbezogenen Versicherungssystem ausgebaut, nachdem sie zuvor eher ein Zubrot zur familiären Versorgung gewesen war Einführung der Dynamik: Neue Rentenformel "Die Renten folgen den Bruttolöhnen". Diese Dynamisierung war in Politik und Gesellschaft umstritten. Wichtigstes Gegenargument waren Befürchtungen, dass die höhere Rente eine Inflation auslösen würde. 1958/60 : Zulassung von Ersatzkassen in West Berlin / im Saarland 1963: Gesetz zur Neuregelung des Rechts der gesetzlichen Unfallversicherung 21

Bundesrepublik Deutschland bis 1990 1972: Rentenreformgesetz RRG 1972 ==> Öffnung der Rentenversicherung für Selbständige und Hausfrauen sowie Einführung der flexiblen Altersgrenze 1972: Einführung landwirtschaftlichen Krankenkassen 1975: Beginn der schrittweisen Erarbeitung des Sozialgesetzbuchs 1983: Einführung eines Krankenversicherungsbeitrages für Rentner 1985: Anrechnung von Kindererziehungszeiten 1986: Neuordnung des Hinterbliebenenrechtes in der Rentenversicherung 1988: Regelung der Krankenversicherung nach SGB V 22

Bundesrepublik Deutschland 1990 2008 1990: Erstreckung der Sozialversicherung auf die neuen Bundesländer Gesetz über die Sozialversicherung (SVG DDR) sowie Rentenangleichungsgesetz 1991/1992: Rentenüberleitungsgesetz (RÜG) Überleitung des Rentenrechtes Ost in die Fassung des RRG 1992 1992: Rentenreformgesetz RRG Änderung der Rentenformel sowie Einführung der nettolohnbezogenen Dynamik (Renten folgen Nettolöhnen) Stufenweise Anhebung der Altersgrenzen für Altersrenten, Kürzung und geringere Bewertung von Anrechnungszeiten sowie Regelung der gesetzlichen Rentenversicherung nach SGB IV 1994: Einführung des Risikostrukturausgleichs in der Krankenversicherung 1995: Einführung der Pflegeversicherung 1996: Wahlfreiheit für Krankenkassen, Öffnungsrecht für BKKs 1997: Regelung der Unfallversicherung nach SGB VII 1997: Wachstums und Beschäftigungsgesetz Weitere Kürzung der Anrechnungszeiten sowie Vorziehung der Anhebung der Altersgrenzen und Kürzung sowie geringere Bewertung der Pflichtbeitragszeiten während der Berufsausbildung 23

Bundesrepublik Deutschland 1990 2008 2001: Rentenreform Einführung der Erwerbsminderungsrente: Zweistufige Erwerbsminderungsrente anstelle von Berufsunfähigkeits undrwerbsunfähigkeitsrenten Neue Hinterbliebenenrente: Umverteilung zugunsten von Müttern, Junge Ehefrauen ohne Kinder werden schlechter gestellt 2003: Zweites und drittes Gesetz zur Änderung SGB VI und anderer Gesetze Aussetzung der Rentenanpassung zum 1. Juli 2004 Rentner tragen ab 1. April 2004: die Beiträge zur sozialen Pflegeversicherung (SPV) in voller Höhe selbst. Rentenauszahlungen werden vom 1. jeden Monats auf das Monatsende verschoben. 2004: Rentenversicherungsnachhaltigkeitsgesetz Berücksichtigung des Verhältnisses zwischen Beitragszahlern und Rentnern in der Rentenanpassungsklausel Anhebung der Altersgrenze bei der Altersrente wegen Arbeitslosigkeit und Altersteilzeit. Die rentenrechtliche Anrechnung der allgemeinen Schulzeiten und allgemeinen Hochschulzeiten entfällt 2004: Alterseinkünftegesetz Veränderung der einkommenssteuerlichen Behandlung von Vorsorgeaufwendungen und Alterseinkünften und Förderung der betrieblichen Altersvorsorge. 2008: Grundsätzliche Revision des Gesundheitswesens Beiträge zur GKV fließen in einen Gesundheitsfond, Verteilung an die Kassen nach Mitgliederanzahl Festelegung des Beitragssatz auf 15,5 % vom Bruttoeinkommen, hälftig je vom Arbeitgeber bzw. Arbeitnehmer 24

Entwicklung in der gesetzlichen Krankenversicherung, 1885 2003 25

Gesetzliche Grundlagen 26

Was bedeutet Soziale Sicherheit? Der Begriff "Soziale Sicherheit" steht für den Schutz der Bürgerinnen und Bürger vor den Wechselfällen des Lebens. Hierzu gehören alle Regelungen und finanziellen Leistungen in der Solidargemeinschaft, die es den Menschen ermöglichen, ein Dasein ohne äußere Not zu führen. Zentraler Bestandteil ist die gesetzliche Sozialversicherung. Als solidarisches System bietet es wirksamen finanziellen Schutz vor den Lebensrisiken und deren Folgen: zum Beispiel bei Krankheit, Arbeitslosigkeit, Arbeitsplatzunfällen, Erwerbsunfähigkeit und Pflegebedürftigkeit. Das gilt für die Versicherten sowie auch für ihre Angehörigen und Hinterbliebenen In Deutschland sind nahezu 90 Prozent der Bevölkerung in der Sozialversicherung pflicht oder freiwillig versichert. Soziale Sicherung auf fünf Säulen > 27

Soziale Sicherheit KV: Die Krankenversicherung Die gesetzliche Krankenversicherung unterstützt die Gewährleistung und Wiederherstellung der Gesundheit und lindert die Folgen von Krankheit. RV: Die Rentenversicherung Die gesetzliche Rentenversicherung sichert die Mitglieder im Alter sowie im Falle von Berufs und Erwerbsunfähigkeit und im Falle des Todes deren Hinterbliebene ab. AV: Die Arbeitslosenversicherung Die gesetzliche Arbeitslosenversicherung gewährleistet die existenzielle Sicherheit im Falle einer Arbeitslosigkeit. UV: Die Unfallversicherung Die gesetzliche Unfallversicherung stellt im Falle eines (Arbeits ) Unfalls die Erwerbsfähigkeit wieder her. PV: Die Pflegeversicherung Die gesetzliche Pflegeversicherung sichert dauerhaft pflegebedürftigen Menschen finanzielle Unterstützung zu. 28

Aktuelle Rechtsgrundlage der Sozialversicherung in Deutschland Rechtsgrundlage der Sozialversicherung ist das Sozialgesetzbuch Das Sozialgesetzbuch (SGB) gliedert sich in Bücher SGB I 1 Aufgaben des Sozialgesetzbuchs (1) Das Recht des Sozialgesetzbuchs soll zur Verwirklichung sozialer Gerechtigkeit und sozialer Sicherheit Sozialleistungen einschließlich sozialer und erzieherischer Hilfen gestalten. Es soll dazu beitragen, ein menschenwürdiges Dasein zu sichern, gleiche Voraussetzungen für die freie Entfaltung der Persönlichkeit, insbesondere auch für junge Menschen, zu schaffen, die Familie zu schützen und zu fördern, den Erwerb des Lebensunterhalts durch eine frei gewählte Tätigkeit zu ermöglichen und besondere Belastungen des Lebens, auch durch Hilfe zur Selbsthilfe, abzuwenden oder auszugleichen. (2) Das Recht des Sozialgesetzbuchs soll auch dazu beitragen, daß die zur Erfüllung der in Absatz 1 genannten Aufgaben erforderlichen sozialen Dienste und Einrichtungen rechtzeitig und ausreichend zur Verfügung stehen. 29

Das Sozialgesetzbuch SGB I (1976): Allgemeine Regelungen Leistungsansprüche, Rechte und Pflichten von Sozialversicherten Spezifizierung in den nachfolgenden Sozialgesetzbüchern SGB IV (1977) und SGB X (1981): Vorschriften und Verwaltungsabläufe für alle Sozialversicherungen SGB II (2005): Grundsicherung für Arbeitsuchende (Hartz IV Gesetz) SGB III (1998): Arbeitsförderung, Arbeitslosenversicherung SGB V (1989): Gesetzliche Krankenversicherung SGB VI (1992): Gesetzliche Rentenversicherung SGB VII (1997): Gesetzliche Unfallversicherung SGB VIII (1997): Kinder und Jugendhilfe SGB IX (2001): Rehabilitation und Teilhabe behinderter Menschen SGB XI (1995): Soziale Pflegeversicherung SGB XII (2005): Sozialhilfe 30

Organisationsstruktur und Akteure im Gesundheitssystem Gewaltenteilung zwischen Bund, Ländern und legitimierten Organisationen der Zivilgesellschaft Unfangreiche Kompetenzen an mitglieder basierte, selbstregulierte, nichtprofitorientierte Organisationen von Ausgabenträgern und Leistungserbringern delegiert Motivation: Sachkenntnisse und Motivation ihrer an der Basis tätigen Mitglieder in die Entscheidungsfindung einbringen und bei der Umsetzung von Entscheidungen nutzen Gesetzliche Krankenversicherung (Selbstverwaltungsstrukturen) Krankenkassen und ihre Verbände sowie die Kassenärztlichen Vereinigungen (KVen) und Kassenzahnärztlichen Vereinigungen Status: Körperschaften öffentlichen Rechts. In gemeinsamen Gremien aus Ausgabenträgern (Verbände der Krankenkassen) und Leistungserbringern (KVen, Kassenzahnärztliche Vereinigungen oder Krankenhäuser) haben die für den jeweiligen Leistungssektor gesetzlich legitimierten Akteure das Recht und die Pflicht, Leistungen, Preise und Qualitätsstandards zu definieren (Bundesebene) und horizontale Verträge zu schließen, ihre Mitglieder zu überprüfen und gegebenenfalls zu sanktionieren (Länderebene) 31

Bundesebene Auf nationaler Ebene sind der Bundestag, der Bundesrat und das Bundesministerium für Gesundheit die Hauptakteure im Gesundheitswesen. Beauftragte der Bundesregierung: Drogen, Belange behinderter Menschen (seit 2002), Sozialversicherungswahlen, Belange der Patientinnen und Patienten Das Bundesministerium für Gesundheit wird von Ad hoc Komitees und dem Sachverständigenrat zur Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen beraten 32

Kompetenzen der Bundesebene Angelegenheiten, die auf Bundesebene geregelt werden Leistungsumfang von Sozialversicherungen die Gewährleistung gleicher Bedingungen einheitliche Regelung der Leistungserbringung und Finanzierung Die Säulen der Sozialversicherung werden durch das Sozialgesetzbuch (SGB), dem Kernstück der Sozialversicherungsgesetzgebung, geregelt Fallen in den Verantwortungsbereich unterschiedlicher Ministerien. Das SGB regelt seit Januar 1991 die Sozialversicherungen in den neuen Bundesländern ebenso wie in den alten Bundesländern, allerdings mit einigen Übergangsregelungen 33

BMG: nachgeordnete Behörden Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) zentrale Zulassungsstelle für Arzneimittel Überwachung der Sicherheit von Arzneimitteln und Medizinprodukten Bundesamt für Sera und Impfstoffe (Paul Ehrlich Institut) Zulassung von Sera und Impfstoffen Robert Koch Institut Ausschreibung und Veröffentlichung der Gesundheitsberichterstattung und epidemiologischer Mitteilungen Prävention von Infektionskrankheiten (Datenerfassung, Koordinierung von Interventionen, Risikokommunikation und internationalen Zusammenarbeit sowie der Durchführung mikrobiologischer und epidemiologischer Forschung) Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) Entwicklung und Verbreitung von Materialen zur Gesundheitsaufklärung. Deutsches Institut für Medizinische Dokumentation und Information (DIMDI) Bereitstellung aktueller Information aus dem gesamten Gebiet der Medizin große Bandbreite an Datenbanken zu Arzneien und Medizinprodukten sowie vielen weiteren Bereichen der Medizin und des Gesundheitswesens Gesundheitstechnologiebewertung (Health Technology Assessment, HTA) Herausgabe deutschsprachiger Versionen der Klassifikationssysteme (ICD 10 GM, OPS). 34

Länderebene Die föderale Struktur wird durch die 16 Länderregierungen und die Landesparlamente repräsentiert Länderministerien (je nach Bundesland unterschiedliche Aufteilung über die Ressorts) Angelegenheiten, die auf Länderebene geregelt werden: Krankenhausplanung Finanzierung von Investitionen Öffentlicher Gesundheitsdienst, übertragbare Krankheiten und Umwelthygiene Prävention und Gesundheitsförderung Arzneimittel, Medizinprodukte, Biotechnologie Suchtbekämpfung (Drogenbeauftragter des Landes) Krankenhäuser Heilberufe Psychiatrie 35

Krankenhausplanung / Finanzierung von Investitionen Aufrechterhaltung der Krankenhausinfrastruktur Finanzierung von Investitionen Investitionen werden prinzipiell unabhängig vom tatsächlichen Krankenhausträger und gemäß den Prioritäten der Länderregierungen finanziert: Großinvestitionen (das heißt Gebäude und Großgeräte) Krankenkassen sind für die Finanzierung von Instandhaltung und Reparaturen der Krankenhäuser zuständig ( 1,1% des verhandelten Krankenhausbudgets werden dafür aufgeschlagen Krankenhausplanung Gesetzliche Grundlage der Landeskrankenhauspläne ist das Krankenhausfinanzierungsgesetz und landeseigene Krankenhausgesetze Die Länder haben Entscheidungsrecht über die Zulassung eines Krankenhauses bei der Versorgung von stationären Patienten 108 (SGB V) verpflichtet die Krankenkassen zur Erstattung der Behandlungskosten in denjenigen Krankenhäusern, die im Plan verzeichnet sind, den sogenannten Plankrankenhäusern (zusätzlich auch Universitätskliniken) Kassen sind in diesen Fällen zu Entgelt Pflegesatzverhandlungen gezwungen. Will eine Krankenkasse ein Krankenhaus aus der Planung ausschließen lassen, kann sie dies beim Land beantragen 36

Krankenhausbetten auf 100.000 Einwohner 37

Kompetenzen auf Länderebene Öffentlicher Gesundheitsdienst (unter Berücksichtigung einiger Bundesgesetze, die Krankheiten betreffen, die die öffentliche Sicherheit gefährden können) Einige Bundesländer betreiben den Öffentlichen Gesundheitsdienst selber, während die Mehrheit diese Funktion an die Kommunen übertragen hat. Aufgaben des Öffentlichen Gesundheitsdienstes Aufsicht über Beschäftigte in Gesundheitseinrichtungen, Prävention und Überwachung übertragbarer Krankheiten, Aufsicht über Betriebe, die Lebensmittel verarbeiten oder Arzneimittel produzieren, Aspekte der Umwelthygiene Erbringung gemeindenaher psychiatrischer Dienste Gesundheitsberatung und Gesundheitsförderung gesundheitliche Untersuchung von Schulkindern Vorklinischen und klinischen Studienabschnitte der ärztlichen, zahnärztlichen und pharmazeutischen Ausbildung Aufsicht über die Ärztekammer und KVen des jeweiligen Landes sowie die in dem jeweiligen Bundesland aktiven Krankenkassen 38

Korporatistische Ebene in der GKV ( Selbstverwaltung ) Leistungserbringer Kassenärztlichen Vereinigungen (KVen) und den Kassenzahnärztlichen Vereinigungen bzw. ihren Bundesvereinigungen Krankenhäuser werden nicht durch Körperschaften des öffentlichen Rechts, sondern durch privatrechtlich organisierte Organisationen (Vereine) repräsentiert Die Mitgliederstruktur der Deutschen Krankenhausgesellschaft besteht aus 16 Landesorganisationen und 12 Vereinigungen der verschiedenartigsten Krankenhausträger, z. B. Universitätskrankenhäuser, öffentlich kommunale Träger oder privater Krankenhausbetreiber Ausgabenträger Krankenkassen und ihren Verbänden auf Landes und Bundesebene. Dieser so genannten Selbstverwaltung werden zunehmend gesetzliche Aufgaben in der GKV überantwortet 39

Andere Sozialversicherungsträger Korporatistische Institutionen in anderen gesundheitssystemrelevanten Zweigen der Sozialversicherung: Träger der gesetzlichen Unfallversicherung Berufsgenossenschaften (für gewerbliche Arbeitgeber) Unfallkassen (für öffentliche Arbeitgeber) Aufgaben: kurative und rehabilitative Leistungen nach berufsbedingten Unfällen und Erkrankungen Geldleistungen bei berufsbedingter Berufs und Erwerbsunfähigkeit Träger der gesetzlichen Rentenversicherung Medizinische Rehabilitationsmaßnahmen bei Arbeitnehmern zur Vermeidung der Erwerbsunfähigkeit Soziale Pflegeversicherung Pflegekassen sind in organisatorischer Hinsicht an die Krankenkassen angeschlossen 40

Kammern freier Heilberufe Kammern für die verschiedenen freien Heilberufe (Verankerung der außerhalb der gesetzlichen Krankenversicherung) Die Kammern sind Körperschaften öffentlichen Rechts und werden durch Landesgesetze reguliert In separat en Berufskammern organisiert sind Ärzte, Zahnärzte, Apotheker, Veterinärmediziner und seit 2003 auch Psychologen mit einer psychotherapeutischen Zusatzausbildung. Mitglieder dieser Berufsgruppen Es besteht eine gesetzliche Beitrittspflicht Aufgaben: Weiterbildung, Anerkennung von Fachgebiets und Zusatzbezeichnungen Fortbildung berufliche und ethische Belange Vertretung des jeweiligen Berufsstandes in der Politik und Öffentlichkeit Mitglieder verfügen über einige exklusive Rechte Z.B. eigene Altersversorgung in sog. Versorgungswerken Arbeitsgemeinschaften auf Bundesebene ( z.b. Bundesärztekammer) Privatrechtliche Organisationen, die nur Empfehlungen an die Landeskammern aussprechen 41

Berufsverbände/ weitere Akteure Krankenpflegekräfte, Hebammen oder Physiotherapeuten sind nicht in Kammern organisiert, sondern in einer Vielzahl an Berufsverbänden mit freiwilliger Mitgliedschaft und entsprechend geringerer finanzieller Ausstattung und Einwirkungsmöglichkeit Dachorganisation der Pflegeverbände: Deutscher Pflegerat, der gemäß Sozialgesetzbuch bei pflegerelevanten Fragen von den zentralen Entscheidungsträgern in der GKV konsultiert wird Arbeitsgemeinschaft Wissenschaftlich Medizinischer Fachgesellschaften (AWMF) 145 medizinisch wissenschaftliche Organisationen Ärzteorganisationen (fachlich berufsständige / politisch lobbyistisch) Deutscher Hausärzteverband und ähnliche Berufsverbände entwickeln berufliche Standards weiter und vertreten zugleich die Interessen ihrer Mitglieder innerhalb der Ärzteschaft und in der Politik Lokale Medizinische Gesellschaften Fortbildung und Bereitstellung eines Forums für Ärzte aller Fachrichtungen in der betreffenden Region Lobbyarbeit zugewandte Organisationen der Verband Deutscher Ärzte Hartmannbund (Mitglieder niedergelassenen Bereich) Wahrnehmung der wirtschaftlichen Interessen der Ärzte Marburger Bund Dagegen vertritt Interessen der Krankenhausärzte Verein Demokratischer Ärztinnen und Ärzte 42

Krankenkassen Unabhängige Krankenkassen als Ausgabenträger, die in landes und bundesweiten Verbänden organisiert sind. Im Januar 2004 existierten 292 gesetzliche Krankenkassen mit etwa 72 Mio. Versicherten (rund 50,7 Mio. Mitglieder und deren Angehörige) Im Gesundheitssystem waren zudem 49 private Krankenversicherungen aktiv (etwa 7,1 Mio. Vollversicherte) Marktanteile der Kassenarten (1. Januar 2004) 37% bei einer der 17 Allgemeinen Ortskrankenkassen (AOK), 33% bei einer der 10 Ersatzkassen für Angestellte oder für Arbeiter 21% bei einer der 229 Betriebskrankenkassen (BKK) 6% bei einer der 20 Innungskrankenkassen (IKK). Sonderregelungen gelten für 14 Landwirtschaftlichen Krankenkassen (LKK), Bundesknappschaft Seekrankenkasse geschlossene Kassen, nur Mitglieder aus den jeweiligen Berufsgruppen (zusammengenommen 4% der GKV Versicherten) 43

Gemeinsame Selbstverwaltung Gremien der gemeinsamen Selbstverwaltung bestehen aus mindestens zwei Akteuren der Selbstverwaltung (z. B. der Kassen und Vertragsärzte) Funktionen: Verhandlungen zwischen den unterschiedlichen Akteuren, die zu Verträgen führen (müssen) Entscheidungen von gemeinsam besetzten Ausschüssen Bestimmte gesetzlich delegierte Aufgaben bedürfen immer Entscheidungen in gemeinsam besetzter Ausschüsse (z. B. die Definition von Leistungen) andere erfordern nur dann eine gemeinsame Entscheidung, wenn in offenen Verhandlungen keine Übereinkunft möglich ist (z. B. zur vertragsärztlichen Gesamtvergütung) In anderen Fällen wiederum fungiert ein gemeinsamer Ausschuss als erste Instanz bei Widerspruch gegen Entscheidungen eines anderen gemeinsamen Ausschusses (z. B. Widerspruch eines Vertragsarztes beim Beschwerdeausschuss gegen Sanktionen des Prüfungsausschusses) 44

Gemeinsame Ausschüsse auf Bundesebene Gemeinsamer Bundesausschuss (G BA) (seit 1923!) Der G BA erlässt gesetzlich bindende Richtlinien für nahezu alle Versorgungsbereiche der GKV Bewertungsausschuss / Erweiterter Bewertungsausschuss (ambulanter Sektor) Krankenhaus Entgeltausschuss Institut für das Entgeltsystem im Krankenhaus (InEK) Auf Landesebene: gemeinsame Ausschüsse als Schiedsämter Zulassungsausschüsse Berufungsausschüsse Prüfungsausschüsse Widerspruchsinstanzen: Beschwerdeausschüsse 45

Entscheidungskompetenzen in der gesetzlichen Krankenversicherung und im Öffentlichen Gesundheitsdienst, 2005 46

Sozialgerichte Viele korporatistische Entscheidungen und Regierungsregelungen können vor den Sozialgerichten in Frage gestellt werden. Sozialgerichte bestehen auf der lokalen, Landes und Bundesebene und bilden ein separates System der Rechtsprechung. (Klagen vor den SG bis 2003 kostenlos, seither Nutzungsgebühren) Fälle, die zur Klage vor den Sozialgerichten gebracht werden Patienten, die ihre Krankenkasse verklagen, weil diese eine Kostenübernahme verweigert Vertragsärzte, die Einspruch gegen Berechnungen des Prüfungs bzw. Beschwerdeausschusses auf Landesebene erheben Medizinproduktehersteller, die Einspruch gegen die Nichtaufnahme ihrer Produkte in den ambulanten Leistungskatalog für vertragsärztliche Leistungen erheben Krankenhäuser, die gegen leistungsrechtliche Entscheidungen (z.b. Vergütung stationärer Fälle ) der Krankenkassen klagen Klagen gegen die Bestimmung von Festbeträgen oder gegen Verordnungsempfehlungen in den Arzneimittelrichtlinien Klage erheben, ausgesprochen hoch im internationalen Vergleich. Legitimierung der Spitzenverbände der Krankenkassen in Frage gestellt Anfang 2004 vom Europäischen Gerichtshof bestätigt mit der Begründung, dass sie öffentlichen Aufgaben erfüllen, die ihnen gesetzlich zugewiesen wurden Klage einiger Betriebskrankenkassen gegen die Verpflichtung dar, sich finanziell an dem Risikostrukturausgleich der gesetzlichen Kassen zu beteiligen. Ihr Einspruch im Juli 2004 vom Bundesverfassungsgericht abgewiesen 47

Aktueller Stand 48

2004: 33 Cent zusätzliche Nebenkosten je Euro Lohn 49

Lohnnebenkosten stiegen stärker als Löhne Durchschnittliche jährliche Entwicklung im Produzierenden Gewerbe 2000 bis 2004 50

Personalnebenkosten im Vergleich Lohnnebenkosten im Produzierenden Gewerbe und marktbestimmten Dienstleistungsbereichen 2004 in % der Bruttolöhne und gehälter (ohne Auszubildende) 51

Jeder sechste potenzielle Arbeitstag wurde 2004 ohne Arbeitsleistung entlohnt Kalendertage 2004 nach durchschnittlichen tatsächlichen Arbeitstagen und Ausfalltagen (366 Tage = 100%) 52

Sozialversicherungspflichtige Beschäftigte / Zugangsalter zu RV 53

Gesundheitsausgaben (in Prozent des BIP) in Deutschland, ausgewählten Ländern und im EU 15 Durchschnitt, 1990 2003 54

Herausforderungen 55

Reformen im Gesundheitswesen: Reformziele Kostendämpfung Verbesserung technischer Effizienz Budgets und andere Kostendämpfungsmaßnahmen prospektive Vergütungsformen die Einführung des Wettbewerbs zwischen den Krankenkassen Bedürfnissen einer alternden Gesellschaft besser gerecht werden und finanzielle Belastungen privater Haushalte und der kommunaler Ausgabenträger reduzieren Pflegeversicherung Stärkung von Prävention und Patienteninformation Leistungen im ambulanten Leistungskatalog erweitert Soziotherapiefür psychisch Kranke Qualitätsdefizite in der Versorgung reduzieren Einführung zunehmend verpflichtender Qualitätssicherungsbestimmungen Verpflichtungen zum internen Qualitätsmanagement 56

Chronologie wichtiger Gesundheitsreformgesetze, 1988 2004 57

Herausforderungen in der Finanzierung Versicherungsfremde Leistungen beitragsfreie Mitversicherung Kinder (14 Mrd. Euro ) beitragsfreie Mitversicherung von Ehepartnern oder Lebenspartnern(7 8 Mrd. Euro) Hartz IV Empfänger: keine ausreichenden Beiträge (4,7 Mrd. Euro) ambulante und stationäre Kuren, Sterbegeld, hauswirtschaftliche Versorgung gesetzliche Krankenversicherung subventioniert andere Systeme Berechnungen zum Versorgungsbedarf im Jahr 2050: Die Zahl der Arbeitsfähigen wird vermutlich von 51 auf 36 Millionen sinken Ein Arbeitstätiger finanziert dann einen Rentner Ausgaben werden steigen (med techn. Fortschritt) und die Finanzierung ist nicht gesichert Mögliche Konsequenzen: Leistungskatalog der gesetzlichen Krankenversicherung steht zur Disposition. Der Einzelne muss künftig mehr in der Gesundheitsversorgung übernehmen als heute Sicherung bestimmter Gesundheitsziele muss gesichert werden Medizinischer Fortschritt für alle Versicherten Alter darf kein Kriterium für Leistungsausschluss sein Langfristig Finanzierung sichern Kürzung des (umfangreichen) Leistungskatalog. Welche Leistungen können/müssen herausgenommen werden? Sachliche Diskussion erforderlich 58

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