Rechtliche Aspekte. Freiwilliger Verzicht auf Essen und Trinken. Fachsymposium Palliative Care September 2014
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- Martha Kappel
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1 Fachsymposium Palliative Care September 2014 Freiwilliger Verzicht auf Essen und Trinken Rechtliche Aspekte Prof. Dr. iur. Regina Aebi-Müller Ordentliche Professorin für Privatrecht und Privatrechtsvergleichung
2 Übersicht: Rechtliche Einordnung des Arzthandelns Jede medizinische Behandlung (auch: künstliche Flüssigkeits- und Nahrungszufuhr sowie pflegerische Handlungen) stellen eine grundsätzlich widerrechtliche Persönlichkeitsverletzung dar. Folglich bedarf jedes Arzthandeln der gültigen Einwilligung Voraussetzungen des Patienten der (oder von dessen Vertreter). gültigen Einwilligung Urteilsfähigkeit Aufgeklärtheit Hinreichende Bestimmtheit Freiheit der Entscheidung und Abwesenheit von Willensmängeln Freiheit von Inhaltsmängeln (insbes. Rechts- und Sittenwidrigkeit) Kein Widerruf der Einwilligung
3 Insbesondere zur Urteilsfähigkeit als Voraussetzung der Selbstbes>mmung des Pa>enten Der urteilsfähige Patient entscheidet alleine über medizinische Behandlungen. Der urteilsunfähige Patient muss für den Behandlungsentscheid vertreten werden, seine Einwilligung oder Weigerung ist (grundsätzlich) unbeachtlich. Mit Bezug auf einen konkreten Behandlungsentscheid gilt ein Schwarz- Weiss-Schema : Die Urteilsfähigkeit ist entweder gegeben oder aber nicht gegeben. Urteilsfähigkeit als Schlüssel zu Patientenrechten. Aber: Die Urteilsfähigkeit ist in sachlicher und zeitlicher Hinsicht relativ, d.h. sie kann für den gleichen Patienten für einen bestimmten Zeitpunkt bzw. einen bestimmten Entscheid gegeben sein, nicht jedoch zu einem anderen Zeitpunkt oder einer Entscheidung von grösserer Tragweite oder Komplexität.
4 Insbesondere zur Urteilsfähigkeit als Voraussetzung der Selbstbes>mmung des Pa>enten Ja Ist der Patient mit Bezug auf den konkreten Eingriff urteilsfähig? Nein Der Patient entscheidet alleine und stimmt medizinischen Massnahmen zu oder lehnt sie ab. An Stelle des Patienten entscheidet dessen gesetzlicher Vertreter (Vertretungskaskade beachten!). Der Vertreter entscheidet nach dem mutmasslichen Willen des Patienten. Ausnahmen: Behandlung gegen den Willen des urteilsfähigen Patienten im Strafvollzug, soweit eine gesetzliche Grundlage besteht. Behandlung des urteilsunfähigen Patienten im Rahmen einer fürsorgerischen Unterbringung.
5 Teilvoraussetzungen der Urteilsfähigkeit mit Bezug auf medizinische Behandlungsentscheide Urteilsfähigkeit Willensbildungsfähigkeit Willensumsetzungsfähigkeit Gelingt es dem Pa=enten, fremder Willensbeeinflussung zu widerstehen? Verstandes- gemässes Urteilsvermögen Versteht der Pa=ent, was bei VSED passiert? Versteht er die alter- na=ven Behandlungs- möglichkeiten? Realitätsbezug des Urteilsvermögens Beeinträch=gt u.a. bei Magersucht oder Wahnvorstellungen Fhk. zur Bildung und Abwägung nachvollziehbarer Mo=ve Aber: Keine Mo=v- kontrolle bzw. kein VernünPigkeitstest! Fähigkeit zur Mo=vkontrolle und Willens- bildung i.e.s. Auch: Emo=onale Stabilität und Stabilität der Willensbildung
6 Exkurs: Pa>entenverfügung Ist der Patient urteilsunfähig und liegt eine formgültige (schriftliche, datierte und unterzeichnete) Patientenverfügung vor, o o o o o o die der Patient im Zustand der Urteilsfähigkeit verfasst hat, die frei ist von Willensmängeln (Irrtum, Druck usw.) und die auf die konkrete Situation anwendbar ist, die nicht widerrufen wurde, und widerspricht die PV nicht dem aktuellen mutmasslichen Willen des Patienten dann müssen die Anordnungen der PV beachtet werden.
7 Exkurs: Vertretung Ist der Patient urteilsunfähig und liegt keine direkt anwendbare Patientenverfügung vor, dann entscheidet (ausser bei zeitlicher Dringlichkeit) nicht der Arzt, sondern der gesetzliche Vertreter. Minderjährige werden durch den bzw. die Inhaber der elterlichen Sorge vertreten (Ausnahme: Kindesschutz!) Erwachsene werden gemäss der Vertretungskaskade von Art. 378 ZGB vertreten. Vorsicht: Das entspricht u.u. nicht der durch den Arzt gefühlten Nähebeziehung! Im Zweifelsfall: Einverständnis aller nahen Angehörigen einholen oder Erwachsenenschutzbehörde kontaktieren!
8 Was bedeutet das alles für unser Thema? Hat sich ein Patient urteilsfähiger, aufgeklärter Patient ohne unzulässige Willensbeeinflussung für ein VSED entschieden, dann darf der Arzt keine Behandlungen durchführen, denen der Patient nicht zugestimmt hat. Konkret: Künstliche Nahrungs- und Flüssigkeitszufuhr sind nicht erlaubt! Zulässig sind pflegerische Massnahmen, denen der Patient (allenfalls konkludent) zugestimmt hat, insbes. Mundpflege. Zulässig ist auch eine medikamentöse Behandlung, soweit der Patient dazu seine (ggf. vorgängige) Einwilligung erteilt hat, insbes. die Verabreichung von Schmerzmitteln, Schlafmitteln, usw.; u.u. auch eine Sedation.
9 Wann darf und soll der Arzt eingreifen? Wenn der Patient eigentlich nicht sterben will, sondern das Fasten andere Gründe hat. Z.B. Anorexie zufolge einer Infektionskrankheit oder wegen Missbrauchs psychoaktiver Substanzen. Wenn der Patient nicht urteilsfähig ist. Dazu gehört auch Beeinflussbarkeit bzw. ein Überhandnehmen eines fremden Willens (z.b. Druck von Angehörigen). Urteilsunfähigkeit kann insbes. bei Suchterkrankungen und psychischen Störungen (u.a. Magersucht, depressive Störungen) vorliegen. Bei Urteilsunfähigkeit des Patienten entscheidet der gesetzliche Vertreter über die medizinische Behandlung ein eigenmächtiges Vorgehen der Ärzte ist nur bei Dringlichkeit zulässig!
10 Behandlungspflicht des Arztes? Muss ein Arzt auch entgegen seiner persönlichen Überzeugung die Betreuung bzw. Behandlung eines Patienten übernehmen, der sich für VSED entschieden hat? Als Privatarzt: Nein, es gibt keine allgemeine gesetzliche Behandlungspflicht. Allenfalls ist das kant. Gesundheitsgesetz zu beachten. Als angestellter Arzt, insbes. in einem öffentlichen Spital: Die Rechte und Pflichten ergeben sich aus dem Arbeitsvertrag. Eine Verletzung der arbeitsvertraglichen Pflichten kann zu entsprechenden Sanktionen (im Extremfall zur Kündigung) führen. Einer klar widerrechtlichen Anordnung durch einen Vorgesetzten (z.b. unzulässige Zwangsernährung) muss jedoch nicht Folge geleistet werden.
11 Ist die Begleitung eines Pa>enten beim VSED strakar? Eine Tötung auf Verlangen (Art. 114 StGB) liegt nicht vor, weil der (urteilsfähige) Patient die Tatherrschaft hat (und jederzeit wieder essen/ trinken könnte). Nahrung und Getränke müssen angeboten werden! Strafbare Beihilfe zum Selbstmord (Art. 115 StGB) liegt nicht vor, wenn der Arzt nicht aus selbstsüchtigen Motiven handelt. Eine Aussetzung oder eine Unterlassung der Nothilfe (Art. 127 bzw. 128 StGB) liegt nicht vor, wenn der urteilsfähige, informierte und selbstbestimmt handelnde Patient sich für ein VSED entschieden hat und ihm weiterhin Nahrung und Getränke angeboten werden.! Ist der Patient urteilsunfähig, so ist der Arzt strafbar!
12 Fachsymposium Palliative Care September 2014 Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit
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