Lesen systematisch: Hermeneutik Werkinterpretation Dekonstruktion Literaturkritik
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- Cornelius Knopp
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1 Dr. Martin Roussel Ringvorlesung»Textwissenschaftliche Grundbegriffe«WS 2008/ Lesen systematisch: Hermeneutik Werkinterpretation Dekonstruktion Literaturkritik
2 Literaturhinweise Klaus Weimar: Lesen: zu sich selbst sprechen in fremdem Namen. In: Heinrich Bosse und Ursula Renner (Hrsg.): Literaturwissenschaft Einführung in ein Sprachspiel. Freiburg i.br.: Rombach 1999, S Hans Peter Willberg und Friedrich Forssman: Lesetypografie. Mainz: Hermann Schmidt
3 Lesen als Grundbegriff der Literaturwissenschaft - Fehlende Autorität der Stimme -Tod des Autors - Leser als Antiheld»[D]ie Geburt des Lesers [kann] nur um den Preis des Todes des Autors stattfinden«(jonathan Culler: Dekonstruktion)»Nun, dieser Antiheld existiert: es ist der Leser eines Textes in dem Moment, wo er Lust empfindet«(roland Barthes: Die Lust am Text)
4 Lesen als Kulturtechnik - Sichtbarkeit des Lesens: Buchstaben, Schrift, Vorlesen -Etymologie: gr.»legein«bzw. lat.»legere«=»aufsammeln«,»zusammensuchen«
5 Lesen als Kulturtechnik
6 Empirisch-kognitive Leseforschung Saccadensprünge des Auges (flüssiges Lesen): - Fixation von bis zu 9 Buchstaben gleichzeitig ( Millisek.) - Sprungbewegung ca. 7 Buchstaben weiter
7 Zwischenzusammenfassung: 1. Lesen ist eine sprunghafte Tätigkeit 2. Im Lesen werden Schemata wiedererkannt 3.Schrift ist also nicht einfach aufgezeichnete Sprache, sondern ein eigenes Organisationssystem, das über das Wiedererkennen kognitiver Einheiten funktioniert 4. Schrift als diskontinuierliches Medium des Lesens ist a) wiederholbar b) setzt sich bruchstückhaft zusammen Gegensatz toter Buchstabe und lebendiger Geist
8 Schriftsysteme Alphabet: -Übernahme der phönizischen Buchstaben (Konsonanten) durch die Griechen - Ergänzung um Buchstaben für Vokale Schrift als Ersatz der gesprochenen Rede Schriftkritik Platon:»Phaidros«- Schrift leistet zwar eine Auslagerung des Gedächtnisses, -ihr simulativer Charakter bewirkt jedoch damit eine Schwächung des Erinnerungsvermögens
9 Der Sinn des Lesens - Pfingstwunder - Lautes Lesen - Wegfall metaphysischer Instanzen
10 Jean Paul: Rede des toten Christus vom Weltgebäude herab, daß kein Gott sei»auch hab ich die Absicht, mit meiner Dichtung einige lesende oder gelesene Magister in Furcht zu setzen, da wahrlich diese Leute jetzo, seitdem sie als Baugefangene beim Wasserbau und der Grubenzimmerung der kritischen Philosophie in Tagelohn genommen worden, das Dasein Gottes so kaltblütig und kaltherzig erwägen, als ob vom Dasein des Kraken und Einhorns die Rede wäre. [ ] Jetzo sank eine hohe edle Gestalt mit einem unvergänglichen Schmerz aus der Höhe auf den Altar hernieder, und alle Toten riefen: Christus! ist kein Gott? Er antwortete: Es ist keiner. Der ganze Schatten jedes Toten erbebte, nicht bloßdie Brust allein, und einer um den andern wurde durch das Zittern zertrennt.«
11 Hermeneutik (Romantik) - Lehre vom Verstehen - 17./18. Jahrhundert: Verstehen orientiert sich an der Vernunft, die das Sprachsystem ordnet - Neubegründung um 1800 (Friedrich Schleiermacher) - Produktive Kraft des Verstehens -»den Autor besser verstehen, als er sich selbst verstanden hat«- Individualisierung des Verstehens: Lesesucht, der stille Leser - Psychologische/Technische vs. grammatische Interpretation Lektüre wird in der Romantik zum Normalfall der Hermeneutik: - Möglichkeit des Missverstehens - Möglichkeit der individuellen Sinnstiftung
12 Hermeneutik im 20. Jahrhundert Differenz von Alltagsverstehen und wissenschaftlicher Hermeneutik: - Ludwig Wittgenstein:»ordinary language is alright«-wilhelm Dilthey: Geistes-vs. Naturwissenschaft, Verstehen vs. Erklären - Martin Heidegger: Verstehen als Weltzugang -Hermeneutischer Zirkel:»Dieser Zirkel des Verstehens ist nicht ein Kreis, in dem sich eine beliebige Erkenntnisart bewegt, sondern es ist der Ausdruck der existentialen Vor-Struktur des Daseins selbst. [ ] In ihm verbirgt sich eine positive Möglickeit ursprünglichsten Erkennens, die freilich in echter Weise nur dann ergriffen ist, wenn die Auslegung verstanden hat, dass ihre erste, ständige und letzte Aufgabe bleibt, sich jeweils Vorhabe, Vorsicht und Vorgriff nicht durch Einfälle und Volksbegriffe vorgeben zu lassen, sondern in deren Ausarbeitung aus den Sachen selbst her das wissenschaftliche Thema zu sichern«.
13 Exkurs: Textkritik - Gotthold Ephraim Lessing: Hamburgische Dramaturgie (1767/69) -Kritik bezieht ihre Kriterien aus dem literarischen Werk (Aufbau, Stimmigkeit)
14 Hermeneutik und Literaturwissenschaft im 20. Jahrhundert Martin Heidegger»Dieser Zirkel des Verstehens ist nicht ein Kreis, in dem sich eine beliebige Erkennt-nis-art bewegt, sondern es ist der Ausdruck der existentialen Vor-Struktur des Daseins selbst. [...] In ihm verbirgt sich eine positive Möglichkeit ursprünglichsten Erkennens, die freilich in echter Weise nur dann ergriffen ist, wenn die Auslegung verstanden hat, dass ihre erste, ständige und letzte Aufgabe bleibt, sich jeweils Vorhabe, Vorsicht und Vorgriff nicht durch Einfälle und Volksbegriffe vorgeben zu lassen, sondern in deren Ausarbeitung aus den Sachen selbst her das wissenschaftliche Thema zu sichern«.
15 Hermeneutik und Literaturwissenschaft im 20. Jahrhundert Hans-Georg Gadamer: Wahrheit und Methode (1960) - Vorverständnis - Horizonterweiterung - Einrücken in ein Überlieferungsgeschehen Literaturwissenschaft der 1950er und 1960er Jahre: - Werkinterpretation: gegen historisch-kontextuelle Auslegungen -Emil Staiger:»Daßwir begreifen, was uns ergreift, das ist das eigentliche Ziel der Literaturwissenschaft.«Gefühl als Rückzugsort - New Criticism
16 Literaturwissenschaft im 20. Jahrhundert Wolfgang Kayser: Das sprachliche Kunstwerk (1948)»Statt sich der Wucht eines Dramas hinzugeben, mußman es zerlegen und sezieren, bis scheinbar alles Leben aus ihm gewichen ist [ ]. Alle theoretische Beschäftigung mit der Dichtung dient zunächst der großen und schweren Kunst, richtig zu lesen. Nur wer ein Werk richtig lesen kann, kann es für andere zum richtigen Sprechen bringen, d.h. es richtig interpretieren. Und nur wer ein Werk richtig lesen kann, wird den weiteren Anforderungen genügen, die mit der Wissenschaft von der Dichtung gestellt werden.«
17 Was ist richtiges Lesen? - Orientierung an der Sache Hinführung»zu dem Werke selber«(kayser)»wenn das dichterische Werk als dichterisches Werk der zentrale Gegenstand der Literaturwissenschaft ist, so dürfen und müssen wir die Frage nach seiner Entstehung, den Quellen, dem Schaffensvorgang, der Wirkung, den Einflüssen, die es ausübte, seine Bedeutung für Strömungen, Epochen u.s.f. und vor allem die Fragen, die zu seinem Dichter leiten und sich mit ihm beschäftigen, als einen weiten Kreis von Fragen auffassen, der sich um jenes Zentrum der Literaturwissenschaft herumlegt.«(kayser: Das sprachliche Kunstwerk)
18 Rezeptions-/Wirkungsästhetik Hans-Robert Jauß(1960er Jahre) Wolfgang Iser: Der Akt des Lesens (1976) - Konzeption des impliziten Lesers -»er verkörpert die Gesamtheit der Vororientierungen, die ein fiktionaler Text seinen möglichen Lesern als Rezeptionsbedingungen anbietet. Folglich ist der implizite Leser nicht in einem empirischen Substrat verankert, sondern in der Struktur der Texte selbst fundiert.«- Leerstellen
19 Dekonstruktion Jacques Derrida: Grammatologie (1974) -»il n y a pas de hors- texte«- Iterierbarkeit: Schrift Lektüre Text Weil im Lesen die Stimme und die Autorität eines anderen Sprechers fehlt und ich denken kann, was ich will, bleibt der Text immer außerhalb meiner Vorstellung, immer das Außen, der Rahmen dessen, was ist, wenn ich lese. Lesen wissenschaftlich ernst zu nehmen, bedeutet dann vor allem dies: zu erkennen, dass ich mir nicht den Text aneigne, wenn ich lese, sondern sich meine Lektüre in die Vielfältigkeit des Textes einschreibt. Dies ist, was tatsächlich geschieht. Man kann dies im Sinne eines wissenschaftlichen Ethos, einer Haltung des Lesens ausbuchstabieren, gewissermaßen jederzeit angesichts der Möglichkeit zu lesen, dass, es noch einmal zu lesen, anders wäre, und zu fragen, wo die Möglichkeiten, des Anders- Sehens an Grenzen stoßen.
20 Lesen als Erfahrung der Fremdheit/Natur lesen:»um so erstaunlicher, wenn das Buch doch zur Metapher der Natur selbst werden konnte, seiner antipodischen Feindin, die zu derealisieren es bestimmt zu sein schien. Desto gewichtiger, desto zwingender müssen die Antriebe sein, die diese Verbindung von Buch und Natur hergestellt haben. Es sind vielleicht nur zwei: Einmal Konkurrenz mit dem einenbuch, mit seiner Autorität, seiner Ausschließlichkeit, seinem Bestehen auf Inspiration. Zum anderen Faszination durch die Macht, die das Buch in sich selbstdadurch aufbringt, daßes Herstellung von Totalität leistet. Die Kraft, Disparates, weit Auseinanderliegendes, Widerstrebendes, Fremdes und Vertrautes amende als Einheit zu begreifen oder zumindest als einheitlich begriffen vorzugeben, ist dem Buch, woran auch immer es sie exekutiert, wesentlich. [...] Die Natur, einmal als Buch verbildlicht, soll eben diese Qualität eines Ganzen aus einemwurf schon haben [...] das Paradox eines Buches, das sich dagegen verwahrt, Leser zu haben.«(hans Blumenberg: Die Lesbarkeit der Welt)
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