Die Verwandlungen der Kassandra Alte Mythen neu erzählt

Transkript

1 1 SÜDWESTRUNDFUNK SWR2 Wissen - Manuskriptdienst Die Verwandlungen der Kassandra Alte Mythen neu erzählt Autorin: Margrit Irgang Redaktion: Anja Brockert Regie: Stefan Hilsbecher SWR2 Wissen am Donnerstag, 29. April 2010, 8.30 Uhr Bitte beachten Sie: Das Manuskript ist ausschließlich zum persönlichen, privaten Gebrauch bestimmt. Jede weitere Vervielfältigung und Verbreitung bedarf der ausdrücklichen Genehmigung des Urhebers bzw. des SWR. Mitschnitte auf CD von allen Sendungen der Redaktion SWR2 Wissen/Aula (Montag bis Sonntag 8.30 bis 9.00 Uhr) sind beim SWR Mitschnittdienst in Baden-Baden für 12,50 erhältlich. Bestellmöglichkeiten: 07221/ Kennen Sie schon das neue Serviceangebot des Kulturradios SWR2? Mit der kostenlosen SWR2 Kulturkarte können Sie zu ermäßigten Eintrittspreisen Veranstaltungen des SWR2 und seiner vielen Kulturpartner im Sendegebiet besuchen. Mit dem kostenlosen Infoheft SWR2 Kulturservice sind Sie stets über SWR2 und die zahlreichen Veranstaltungen im SWR2-Kulturpartner-Netz informiert. Jetzt anmelden unter 07221/ oder swr2.de SWR 2 Wissen können Sie ab sofort auch als Live-Stream hören im SWR 2 Webradio unter oder als Podcast nachhören:

2 O-Ton (Christa Wolf): Mit meiner Stimme sprechen: das Äußerste. Mehr, andres, hab ich nicht gewollt. Zur Not könnte ich es beweisen, doch wem? Dem fremden Volk, das, frech und scheu zugleich, den Wagen umsteht? Ein Grund zu lachen, gäbe es den noch: Mein Rechtfertigungswunsch sollte sich doch, so kurz vor mir selbst, erledigt haben. Christa Wolf las aus ihrer Erzählung Kassandra. Wie viele Gestalten der griechischen Mythologie hat Kassandra in der Literatur einige Verwandlungen durchgemacht. In der Ilias von Homer ist sie eine unbedeutende Tochter des trojanischen Königs Priamos. Als Seherin erscheint sie in der Orestie von Aischylos und in den Troerinnen des Euripides. Mit eigener Stimme sprechen darf sie erst im Jahr 1983, bei Christa Wolf. Warum konnten die antiken Königstöchter, Helden und Götter bis heute in der Literatur überleben? Was fasziniert uns nach wie vor an ihnen und sind wir überhaupt noch fähig, die tiefe Symbolkraft eines Mythos zu verstehen? Ansage: Die Verwandlungen der Kassandra. Alte Mythen neu erzählt. Eine Sendung von Margrit Irgang. Der Begriff Mythos ist längst in unsere Alltagssprache eingegangen, seine Bedeutung verkehrt sich dabei allerdings oft ins Gegenteil. Wenn eine Partei im Bundestag zum Beispiel die Wahlversprechen der Gegenpartei als Lüge entlarven will, nennt sie diese einen Mythos : also irrational, ausgedacht, nicht wahr. In der Analytischen Psychologie nach C.G. Jung spielen Mythen eine große Rolle, und deshalb weist die Theologin und jungianische Therapeutin Ingrid Riedel diese Interpretation des Begriffs entschieden zurück. Es ist ein Finden, also Mythen sind ganz bestimmt nicht erfunden. Und die späte Fassung bei Homer, das ist fast schon das Festhalten in einer Zeit, in der es verloren zu gehen droht. In Wirklichkeit haben sich Erfahrungen eines Volkes verdichtet darin. Und in der Zeit, in der diese Gemeinschaft wirklich zusammengehörte, da war das die Mitte des Lebens. Ein Mythos enthält gelebte kollektive Erfahrung, und er wird nicht um seiner selbst willen erzählt, wie die Mythenforscherin Karen Armstrong schreibt: Zitatorin: Die stärksten Mythen befassen sich mit Extremen, sie zwingen uns, über unsere Erfahrung hinauszugehen. Es gibt Momente, in denen wir alle auf die eine oder andere Weise völlig unbekanntes Terrain betreten und etwas tun müssen, was wir noch nie getan haben. Mythen handeln von Unbekanntem, von Dingen, für die wir anfangs keine Worte haben. Richtig verstanden, versetzt uns Mythologie in die geeignete spirituelle oder psychische Haltung, um in dieser oder der nächsten Welt korrekt zu handeln. ( ) Ein Mythos ist also wahr, weil er wirkt, nicht weil er uns faktische Informationen liefert. (1) Ein Mythos wirkt, weil er Grenzsituationen in Geschichten überführt und somit das Unfassbare fassbar macht. Die Geschichte vom Untergang des trojanischen Reiches, frei nacherzählt aus diversen Quellen der Antike, geht etwa so: Paris, Sohn des Königs Priamos von Troja, hatte Helena geraubt, die Gattin des griechischen Fürsten Menelaos. Erzürnt rief Menelaos sämtliche Fürsten Griechenlands zusammen und rüstete zu einem Feldzug gegen Troja. 2

3 Die Schiffe der Griechen waren bereit zur Ausfahrt, es wehte jedoch kein Wind. Durch den Seher Kalchas wurde Fürst Agamemnon mitgeteilt, dass Göttin Artemis ihm erst dann günstige Winde schicken würde, wenn er seine Tochter Iphigeneia geopfert hätte. Agamemnon gehorchte, aber niemand bemerkte, dass Artemis Iphigeneia in einer Wolke hinweggeführt und statt ihrer eine Hirschkuh auf den Altar gelegt hatte. Auch Klytemnaestra nicht, die Mutter von Iphigeneia, die ihrem Mann Rache schwor. Zitatorin: In Troja lebte Kassandra, Tochter von König Priamos und Königin Hekabe und Priesterin im Heiligtum des Apollon. Von ihrem Gott war ihr die Sehergabe verliehen worden; als sich Apollon ihr jedoch als Mann näherte, verweigerte sie sich ihm. Deshalb belegte er Kassandra mit einem Fluch: Niemand sollte ihren Vorhersagen je Glauben schenken. Und so hörte niemand auf die Warnrufe Kassandras, als die Griechen nach vielen Kriegsjahren plötzlich den Rückzug antraten und den Troern ein riesiges hölzernes Pferd hinterließen. Die freudetrunkenen Troer schleppten das Pferd in ihre Stadt, und es geschah, was Kassandra vorhergesehen hatte: In der Nacht stürmten die bewaffneten Griechen aus dem Bauch des Pferdes und machten die Stadt Troja dem Erdboden gleich. Kassandra wurde als Beute des Agamemnon mit nach Mykene genommen. Sie weissagte, dass Agamemnon und sie selbst von Klytemnaestra getötet werden würden, und so kam es auch. O-Ton (Christa Wolf): Mit der Erzählung gehe ich in den Tod. Hier ende ich, in dieser uneinnehmbaren Festung, hinter dieser schweren Eisentür, unter der kein Blut hervorrinnt. Zwischen diesen Felsenmauern, an denen jedes Geheul abprallen wird. Ohnmächtig, allein mit der rasenden Frau. Hier ende ich, und nichts, nichts, was ich hätte tun oder lassen, wollen oder denken können, hätte mich an ein anderes Ziel geführt. Warum greift ein Autor, eine Autorin, auf eine Jahrtausende alte Figur zurück? Christa Wolf versuchte eine Antwort auf diese Frage in einem Interview kurz nach Erscheinen ihrer Kassandra : O-Ton (Christa Wolf): Die Kassandra interessiert mich aus einer Reihe von Gründen, aber zunächst interessiert sie mich, wie alle Figuren, über die ich schreibe, als Mittel zur Selbsterforschung, das ist eigentlich die Hauptsache. So eine weit zurückliegende Figur, da kann man sich ganz gut hineinbegeben. O-Ton (Thomas Epple) Schon in der Antike, in der diese Mythen ja entstanden sind, gibt s immer wieder verschiedene Fassungen, verschiedene Formen, verschiedene Schichtungen, verschiedene Interpretationen letztlich. Der Germanist Thomas Epple hat sich eingehend mit den Verwandlungen der Kassandra in der deutschsprachigen Literatur befasst. Weil es keine tradierte Urform der Mythen gibt, haben sich Autoren aller Epochen immer wieder mit den Gestalten der antiken Mythologie identifiziert und sie zu Trägern ihrer Botschaft gemacht. Diese Umformungen sind deshalb auch immer Spiegel für die Probleme und den geistigen Standort der jeweiligen Zeit. An der Figur der Kassandra lässt sich dies gut nachvollziehen. Kassandra hat zwei wesentliche Merkmale: ihr Sehertum und der Fluch, der bewirkt, dass ihren Vorhersagen nicht geglaubt wird. 3

4 Das weibliche Sehertum ist vor der patriarchalen Zeit entstanden und verwurzelt. Und man hat es dann wieder eingesetzt, indem man den neuen männlichen Gott als den Geber dieser Gabe sieht. Aber sie hat sich ihm verweigert, das zeigt auch, dass da ein Widerstand war, weil sie ursprünglich das aus ganz anderen Wurzeln hatte. Auf der anderen Seite ist wohl sehr wichtig, dass bei Kassandra das Sehertum als von einem Gott, wem auch immer, vielleicht auch von einer Göttin, gegeben ist. Also dieses Wissen um das Schicksal ist gottgegeben, ist etwas Heiliges, und das ist an dieser Gestalt schon sehr wichtig, dass sie im Dienst von etwas Höchstem steht. Im Deutschland der unmittelbaren Nachkriegszeit konnte kein ernst zu nehmender Autor eine Figur erschaffen, die Schicksal verkörpert und im Dienst von etwas Höchstem steht; von hehren Begriffen hatte das Land für viele Jahrzehnte genug. Damit schnitt sich die deutsche Literatur jedoch von einer ihrer Wurzeln ab: der Mythologie mit ihrem existenziellen Anspruch und der dazugehörigen Sprache. Vor allem Kassandra war erst einmal verschwunden. O-Ton (Thomas Epple) Kassandra ist ja die Figur vor der Katastrophe, und Fünfundvierzig war eben nach der Katastrophe. Und da braucht man keine Kassandra, dieses Wissen hat dann jeder. Zitator 2: Was geht uns Kassandra an? Ich entsinne mich noch genau des Gesichts, das mein Vater machte, als er dies sagte. Er saß am Feuer, meiner Mutter gegenüber, die mit einer Handarbeit beschäftigt war. Ich ging in der Halle auf und ab und war mehr im Dunkeln. Ich hatte nämlich meinen Vater nach Kassandra gefragt. (2) Hans Erich Nossack schreibt nach Ende des 2. Weltkriegs seine Erzählung Kassandra. Der Erzähler ist Telemachos, Sohn des Odysseus. Der erste Satz Was geht uns Kassandra an? ist programmatisch: Nossack interessiert sich im Grunde nicht für Kassandra. Seine Gestalt ist Odysseus, der Grieche, der nur widerwillig in den trojanischen Krieg gezogen war und nach Kriegsende viele Jahre herumirren musste, bis er nach Hause fand. Mit solch einer Gestalt konnten sich Männer Ende der 1940er Jahre leicht identifizieren. Aber Nossack braucht Kassandra, denn sein Thema ist der Einbruch des absolut Unvorstellbaren in das Leben eines Menschen. Die Begegnung Kassandras mit Apollon ist eine solche; bei Nossack verweigert sich Kassandra dem Gott aus Angst. Zitator 2: Da kommen wir uns klug vor und zerbrechen uns den Kopf über die Hintergründe, die gar nicht da sind. Aber mit dem Natürlichsten auf der Welt, dass ein junges Mädchen Angst hat, wollen wir uns nicht zufrieden geben. Sie lief vor ihrem Schicksal davon, als es sich ihr darbot, und zur Strafe musste sie es wiedersuchen. So war es. Und sie hat es gefunden. (2) Nossacks Kassandra ist dennoch eine auf stille Weise starke Figur; eine Frau, die durch ihre schiere Präsenz beeindruckt und beunruhigt. Für den Philosophen Ernst Bloch dagegen war Kassandra geradezu eine negative Gestalt, meint Germanist Thomas Epple: O-Ton (Thomas Epple) Es gibt in seinem Buch Prinzip Hoffnung so eine Stelle, wo er Kassandra mit der biblischen Figur Jesajas vergleicht, dem Propheten, und da sieht er sozusagen im Propheten die offene Zukunft und in Kassandra die Figur der schon stattgefunden habenden Zukunft. Von daher interessiert ihn Kassandra nicht, sondern ihn interessiert eher diese offene Zukunft, die ein Prinzip Hoffnung noch möglich macht. 4

5 Auf eine Gestalt wie Kassandra kann keine Gesellschaft lange verzichten. Vor irgendeiner Entwicklung muss immer gewarnt, irgendein Unheil kann immer vorhergesehen werden. Und so kehrt Kassandra in den 1970er Jahren in die deutsche Literatur zurück: ohne Prinzessinnenwürde, ohne Priesterinnen-Amt, ohne den Gestus der Verkündigung. F.C. Delius, der wie viele andere in jener Zeit mit dem Sozialismus sympathisiert, schreibt ein Gedicht mit dem Titel Genossin Kassandra. Im Café bestellt Kassandra meistens Eis, die Seherin, was heißt hier Seherin? In Troia sah sie schwarz und was ihr niemand glauben wollte, Untergang. Sie sieht, was andre so nicht wahrhaben wollen. Sie verdrängt auch weniger. Das macht ihr Schmerz, das werden schwere Depressionen, einsam in der Wüste, im Café, sucht sie sie nennt es einfach Glück, und wenn sie lacht, lacht sie. (3) Die Königstochter ist ein nützliches Mitglied der sozialistischen Gesellschaft geworden. Was sie sieht, könnte eigentlich jeder sehen, und vielleicht hatte sie einen guten Therapeuten, denn sie hat gelernt, weniger zu verdrängen. Der Autor ist allerdings nicht ganz zufrieden mit der Art, wie die Frau ihre Erkenntnisse formuliert, und mahnt mehr Dialektik an. Bei ihrer Arbeit hält Kassandra durch, das fällt ihr schwer. Doch sie weiß, sie überlebte Troia, dreißigjährige Kriege, Ängste, Hoffnungslosigkeit. Sie schafft fürn Sozialismus, ja, der braucht auch sie, die meint, nur schlimmer Wahrheit sterbliches Gefäß zu sein. Wir brauchen sie. Wer lernt von ihr? Wer hört ihr zu, weint lacht mit ihr, bringt ihr und uns, das wär nicht alles, noch mehr Dialektik bei? (3) Das Gedicht spricht immerhin von einer grimmigen Zuversicht. Noch ist für Delius nicht alles verloren; die Gesellschaft könnte zum Besseren gewendet werden, und klarer Blick und Vernunft, zusammengefasst im Begriff Kassandra, könnten dazu beitragen. Zwanzig Jahre später sieht das bei Hans Magnus Enzensberger anders aus. In seinem Gedicht Zweifel heißt es: Zitator 2: Süßer Tag, an dem das Selbstverständliche sich von selber versteht, im großen und ganzen! Was für ein Triumph, Kassandra, eine Zukunft zu schmecken, die dich widerlegte! Etwas Neues, das gut wäre. (Das Gute Alte kennen wir schon ) (4) O-Ton (Thomas Epple): Diese Fortschrittskritik, diese Fortschrittsskepsis ist eigentlich die gedankliche Linie, mit der Kassandra nach Fünfundvierzig wieder interessant wird. Etwas, was man vorher nicht findet und was dann so allmählich mit dieser Figur verbunden wird, so dass man in den Achtziger 5

6 6 Jahren nur noch Kassandra, den Namen, zitieren muss, und man hat die gesamte Fortschrittsskepsis mit dieser Figur verbunden. In der DDR-Literatur tauchte Kassandra häufiger auf als in der westdeutschen Literatur. Hier wurden mythologische Motive oft als Chiffren benutzt, die unaussprechbare Bedeutungen transportierten. Nach der Ausbürgerung von Wolf Biermann 1976 schreibt Günter Kunert sein Gedicht Keine Neuigkeiten aus Troja. Wer einen Traum wahrmachen will zerstört jeden Traum gestand Kassandra sterbend Aber was vom Bekenntnis der Wahrheit auf Erden verbleibt ist mir fremd nichts Menschliches Erbrochenes Blut ein Farbfleck das Wegwischen nicht wert (5) Bei Kunert stirbt Kassandra endgültig. Ihr Weiterleben hat keinen Wert, wenn das Aussprechen der Wahrheit ihre Domäne zu einem menschenwürdigen Leben in der Gesellschaft nichts beiträgt. Und bei Thomas Brasch gehört Kassandra zu den Elendesten, den Obdachlosen. Zitator 2: Geht doch alle vorbei. Hört doch alle nicht zu. Sie setzt sich auf den Papierkorb aus Drahtgeflecht. Der Hut fällt vom Kopf, der Mantel zerfetzt Sie hebt die Wodkaflasche an die trockenen Lippen, weint, schlägt dem Mann im Trenchcoat die Fäuste gegen die Rippen: Was gibt s da zu glotzen, gleich werde ich meinen Mantel vollkotzen. Hände weg. Wie Steine werdet ihr auf den Grund sinken, mit euren Aktentaschen werdet ihr alle ertrinken. (6) Am Ende wird Kassandra Selbstmord begehen, und Brasch macht klar, dass dies durchaus eine Form von Mord ist, begangen von einer gleichgültigen Gesellschaft erscheint die Erzählung Kassandra von Christa Wolf. In der Prosaform ist möglich, was Lyrik nicht leisten kann: Kassandra sagt ich und bekommt von der Autorin eine Entwicklung zugestanden. O-Ton (Christa Wolf) Und der übergeordnete Gesichtspunkt ist der, dass ich versuchen will da bin ich ja nun wirklich nicht die Erste und werde nicht die Letzte sein -, dass ich versuchen will, dieses Problem an einem Beispiel zu erzählen, wie eine Frau zum Objekt gemacht wird und wie sie

7 7 es doch schafft zwar, physisch, stirbt sie natürlich, aber wie sie es doch schafft, sich eine innere Autonomie zu erringen. Die 1980er Jahre sind die hohe Zeit des Feminismus, und mit Hilfe von Gestalten wie Achill, Agamemnon und Paris entlarvt die Autorin männlichen Machtwahn und Brutalität. Als Gegenwelt entwirft sie eine weibliche Spiritualität, die dem alten Kult von Kybele huldigt; ekstatische Riten, in die Kassandra durch ihre Amme eingeführt wird. Was aber ist in dieser Interpretation von Kassandras Sehergabe geblieben, die ja den Kern dieser Figur ausmacht? O-Ton (Thomas Epple) Christa Wolf zitiert sozusagen die mythologische Sehergabe, aber die eigentliche Sehergabe bei Christa Wolf ist die rationale Selbsterkenntnis und Welterkenntnis bei ihr. Das heißt, es ist hier nichts mehr Religiöses, Göttliches, nicht irgendeine übergeordnete Instanz, die jetzt Kassandra befähigt, die Zukunft zu sehen, sondern was sie sieht und das sagt Kassandra ja in ihrem Monolog auch -, was sie sieht, könnte im Grunde jeder sehen, der beobachten kann, der sehen kann, der mit offenen Augen durch die Welt geht. O-Ton (Christa Wolf) Tiefer als von jeder Regung, tiefer selbst als von meiner namenlosen Angst bin ich durchtränkt, geätzt, vergiftet von der Gleichgültigkeit der Außerirdischen gegenüber uns Irdischen. Gescheitert der Versuch, ihrer Eiseskälte unsere kleine Wärme entgegenzusetzen. Ungleicher Kampf, ich weiß es seit langem: vergeblich suchen wir uns ihren Gewalttaten zu entziehen. Wer sich mit griechischer Mythologie befasst, hat immer auch mit Göttern zu tun. Wir, geprägt von einer monotheistischen Gottesvorstellung, denken bei dem Begriff Götter sofort an Religion. Der Philosoph Luc Ferry jedoch warnt vor diesem Missverständnis: Die Mythologie hält Botschaften von erstaunlicher Tiefe für uns bereit, Perspektiven, die den Menschen Wege für ein gutes Leben ohne Zuflucht zu den Illusionen eines Jenseits eröffnen, eine Möglichkeit, der menschlichen Endlichkeit zu begegnen, dem Schicksal die Stirn zu bieten, ohne zu den Tröstungen zu greifen, die die großen monotheistischen Religionen für die Menschen mit dem Glauben bereitzustellen behaupten. Die Mythologie skizziert ( ) die Grundzüge dessen, was ich Heilslehre ohne Gott genannt habe, eine laizistische Spiritualität, oder um es noch einfacher zu sagen, eine Weisheit für die Sterblichen. (7) Man hat Mächte, die also zweifellos da waren und da sind, die hat man personifiziert und bildhaft geschaut. Aber mir ist wichtig, das ist einfach meine Überzeugung und Erfahrung: Diese Mächte sind da. Wie man sie benennt, ist an sich nicht so wichtig. Es müsste nur eine Übereinkunft geben. Carl Gustav Jung war der Meinung, dass mythologische Motive zum Erbe unserer Psyche gehören und im Unbewussten weiterleben. Erzählend können wir den Mythos nachvollziehen und im Nachvollzug unbewusste Inhalte ins Bewusstsein integrieren. Andererseits können mythologische Motive auch autonom auftauchen, aus den Tiefen des kollektiven Unbewussten, wie Jung es nennt. Auch ein einzelner Mensch kann im Traum beispielsweise etwas wahrnehmen, was über sein Individuelles hinausgeht. Ich hab das oft gesehen in meiner Praxis, dass Menschen etwas, was in der Zeit zu vibrieren beginnt, auch wenn kriegerische Auseinandersetzungen

8 drohen, auch wenn es nicht gleich in unserem Land ist, das erscheint in den Träumen. Oder zum Beispiel die Gefahr für die Umwelt, die erst jetzt richtig ins Bewusstsein vieler rückt, ist in den Träumen vieler Menschen schon vor zwanzig Jahren sehr alarmierend aufgetaucht. Der Traum ist bei den antiken Priestern, den Schamanen und Naturvölkern eine Quelle der Weissagung; selbst Christa Wolf gesteht ihrer Kassandra empfangene Traumbotschaften zu. Vielleicht haben wir nur deshalb den Eindruck, dass das Gespür für Kommendes verlorengegangen ist, weil nicht jeder Mensch die Sprache seiner Träume versteht. Es ist eine symbolische Sprache, eng verwandt mit Kunst, Dichtung und Mythos. Ingrid Riedel bemerkt, dass jüngeren Menschen das symbolische Denken zunehmend fremd wird. Das hat seinen guten Sinn und Grund, dass wir in der Jung schen Psychotherapieschule von jedem, der sich ausbilden lässt zum Psychotherapeuten, Grundkenntnisse in Mythos und Märchen verlangen. Das wird sogar geprüft, wird von manchen sehr ernsthaft gefürchtet auch, aber zum Schluss sagen sie: Toll, dass wir da Anschluss gefunden haben. Luc Ferry spricht von einer laizistischen Spiritualität, und vielleicht ist dies der Grund, warum uns mythologische Gestalten bis heute faszinieren: Ohne die Moral und das Glaubensgebot einer Religion zu bemühen, verbindet uns der Mythos mit einer größeren Dimension, die uns im Alltag nicht zugänglich ist. Die Mythenforscherin Karen Armstrong nennt es den Kern der Wirklichkeit : Zitatorin: Wegen unserer strikt chronologischen Geschichtssicht haben wir kein Wort für ein solches Geschehen, aber Mythologie ist eine Kunstform, die über die Geschichte hinaus auf das Zeitlose der menschlichen Existenz verweist und uns hilft, jenseits des chaotischen Flusses zufälliger Ereignisse den Kern der Wirklichkeit zu erfassen. (1) Es ist außerordentlich entlastend, wenn heute jemand entdeckt: Mein Schicksal spiegelt sich in einem griechischen Mythos, in einem Märchen, es ist ein Menschheitsschicksal. Mythologische Gestalten brauchen Größe, um Träger eines Schicksals zu sein. Aber sind die literarischen Kassandra-Figuren, die im Café das Glück suchen oder sich vor die U-Bahn werfen, wirklich groß? Zeigen sie uns Wege zu einem guten Leben, bieten sie uns Weisheit an? Christa Wolf sagte einmal, die Sehergabe sei in der Moderne an die Schriftsteller übergegangen. Als Autorin interessiert sie sich deshalb vor allem für die Möglichkeiten, die antike Figuren ihr bieten. O-Ton (Christa Wolf): Da ich in meiner Erfindung ganz frei bin, ist auch sie wieder für mich vollkommen frei in dem, was sie anstrebt. Das kann also so weit dem vorausgehen, was ihre Zeit an Möglichkeiten bietet und was auch unsere Zeit an Möglichkeiten bietet, dass es eben schon wieder utopische Dimensionen haben kann. Als Kassandra in der zeitgenössischen Literatur von einer Seherin zum vernunftbegabten Wesen wurde, kam sie uns zwar näher, büßte aber auch viel von ihrer exemplarischen Kraft ein. 8

9 9 Kunst und Literatur haben sich heute keineswegs vom Mythos verabschiedet, er kommt nur in neuer Verkleidung daher. Im Harry Potter, in den Büchern von Michael Ende und der Filmserie Star Wars finden wir mythologische Motive. Kassandra dagegen ist, von kurzen Auftritten in Theater und Hörspiel abgesehen, aus der deutschsprachigen Literatur wieder einmal verschwunden. O-Ton (Thomas Epple) Eine Neuinterpretation, da ist, glaube ich, im Moment die von Christa Wolf noch einfach zu dominant, und ist ja auch von ihrer Aussage her in dem Sinn eigentlich noch nicht überholt. Vielleicht hat das literarische Verstummen von Kassandra aber auch damit zu tun, dass sie sich mehr und mehr in eine Vertreterin des gesunden Menschenverstandes verwandelt hat. Eine so alltagsnahe Kassandra-Figur müsste sich mit Gegenwartsproblemen befassen, aber diese sind heute so verwickelt wie noch nie zuvor. Troja war eine überschaubare Gesellschaft mit einem konkreten Feind, den Griechen. Wir neigen zwar noch immer dazu, konkrete Feinde zu benennen, die dann zum Beispiel Osama Bin Laden heißen. Aber Bin Laden ist nur noch eine Chiffre für einen Teil der Welt, der wie viele andere außer Kontrolle geraten ist. Vielleicht verwandelt sich Kassandra ja irgendwann wieder in eine klassische mythologische Figur und weist uns, in welcher Form auch immer, auf den Kern der Wirklichkeit hin. Sie hat in der Literatur seit der Antike überlebt, sie wird auch ihr Verstummen am Anfang des 21. Jahrhunderts überleben. O-Ton (Christa Wolf) Priamos tötete der Schmerz um seine Söhne, ehe noch der Feind ihn erschlug. Hekabe aber, aufgerissen von dem Schmerz, wurde von einem Unglücksjahr zum anderen immer lebendiger, wie auch ich. Nie war ich lebendiger als in der Stunde meines Todes. Jetzt. * * *

10 10 Quellen: 1) Karen Armstrong Eine kurze Geschichte des Mythos, aus dem Englischen von Ulrike Bischoff, Berlin Verlag, Berlin ) Hans Erich Nossack Kassandra in Interview mit dem Tode, Suhrkamp Verlag, Frankfurt ) F.C. Delius Genossin Kassandra in Ein Bankier auf der Flucht, Rotbuch Verlag, Berlin ) Hans Magnus Enzensberger Zweifel in Blindenschrift, Suhrkamp Verlag, Frankfurt ) Günter Kunert Keine Neuigkeiten aus Troja in Unterwegs nach Utopia, Hanser Verlag, München ) Thomas Brasch Kassandra in Kargo, Suhrkamp Verlag, Frankfurt ) Luc Ferry Leben lernen: Die Weisheit der Mythen, aus dem Französischen von Lis Künzli, Verlag Antje Kunstmann, München 2009 Literatur: Ingrid Riedel Träume, Kreuz Verlag, Stuttgart 1997 Ingrid Riedel Demeters Suche, Kreuz Verlag, Stuttgart 1986 Thomas Epple Der Aufstieg der Untergangsseherin Kassandra, Verlag Königshausen und Neumann, Würzburg 1993 Karen Armstrong Eine kurze Geschichte des Mythos, aus dem Englischen von Ulrike Bischoff, Berlin Verlag, Berlin 2005 Christa Wolf Kassandra, Luchterhand Verlag, Darmstadt 1983 Hans Erich Nossack Interview mit dem Tode, Suhrkamp Verlag, Frankfurt 1975 F.C. Delius Ein Bankier auf der Flucht, Rotbuch Verlag, Berlin 1975 Hans Magnus Enzensberger Blindenschrift, Suhrkamp Verlag, Frankfurt 1999 Günter Kunert Unterwegs nach Utopia, Hanser Verlag, München 1977 Thomas Brasch Kargo, Suhrkamp Verlag, Frankfurt 1977 Luc Ferry Leben lernen: Die Weisheit der Mythen, aus dem Französischen von Lis Künzli, Verlag Antje Kunstmann, München 2009