Individualisierung und Lebenslauf
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- Margarete Roth
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1 Universität Rostock Institut für Soziologie und Demographie Seminar: Individualisierung Dozentin: Dipl. Oec. Claudia Neu Referentinnen: Susanne Schröter, Susanne Grützmann im Dezember 2003 Individualisierung und Lebenslauf - Soziologie des Lebenslaufs: das Leben hat eine zusätzliche Dimension die zeitliche! - Lebenslauf und Lebensalter als eine eigenständige gesellschaftliche Strukturdimension = soziale Tatsache - Lebenslauf kann als eine soziale Institution konzeptualisiert werden - Nachstehende Überlegungen sind auf die westlichen (mittel- und westeuropäischen und nordamerikanischen) Gesellschaften in den letzten 4 Jahrhunderten gerichtet - Martin Kohli hat für den Transformationsprozess des strukturellen Übergangs von einem Lebenslaufregime zu einem anderen folgende Thesen aufgestellt: Verzeitlichung früher Alter nur als kategorialer Status in der Lebensform relevant durch historischen Wandel, Entstehung einer Lebensform, in der der Ablauf der Lebenszeit ein zentrales Strukturprinzip ist 2. Chronologisierung Verzeitlichung ist weitgehend am (chronologischen) Lebensalter als Grundkriterium orientiert Normallebenslauf 3. Individualisierung Verzeitlichung bzw. Chronologisierung ist ein Teil des neuen Vergesellschaftungsprogramms - Individuen als eigenständig konstituierte soziale Einheiten 4. Organisierung um das Erwerbssystem in modernen Gesellschaften ist Lebenslauf in der äußeren Gestalt (Dreiteilung in Vorbereitungs-, Aktivitäts- und Ruhephase) und im ihr zugrunde liegenden Organisationsprinzip um das Erwerbssystem herum organisiert 5. Positionssequenzen biographische Perspektiven und Handlungen als 2 Realitätsebenen Lebenslauf als Institution bedeutet Regelung des sequenziellen Ablaufs des Lebens ( Karrieren ) und die Strukturierung der lebensweltlichen Horizonte bzw. Wissensbestände - damit sind biographische Perspektiven und Handlungen gemeint - Die historische Entwicklung dieser Thesen: Verzeitlichung und Chronologisierung: o Übergang von einem Muster der Zufälligkeit der Lebensereignisse zu einem des vorhersehbaren Lebenslaufs o In der vormodernen Bevölkerungsweise war der Tod ein Ereignis, das jederzeit eintreten konnte o keine Aussicht auf gesicherte Lebensspanne im historischen Verlauf Konzentration der Sterblichkeit in den höheren Altersjahren fast vollständiges Verschwinden des Todes aus dem frühen und mittleren Erwachsenenalters im 20.Jh. Familienzyklus: o in vormoderner Lebensform gab es keinen Familienzyklus erst
2 in heutiger Zeit kann man von normativen Lebensereignissen (Entwicklungspsychologie) oder Normalbiographie (Lebenslaufsoziologie) sprechen o heute schärfere Akzentuierung zwischen Jugend und Erwachsenenalter Verkürzung der Übergangsphase o Durchschnittswerte des Heiratsalters entwickelten sich zu tatsächlichen Normen Die Konstitution von Altersgrenzen: o zu Beginn des 19 Jh. erstmals ausdifferenziertes System von chronologischen Altersstufen im Zivilrecht (Code Napoleon), das sich auf andere Rechtsgebiete ausdehnte o Alter als klar abgegrenzte Lebensphase (Rentenalter) und Teil der Normalbiographie an Verbreitung von Lohnarbeit gebunden (Schaffung staatlicher Rentensysteme) Biographische Perspektiven: o Der normale mittelalterliche katholische Laie lebte in ethischer Hinsicht gewissermaßen, von der Hand in den Mund.... (Max Weber) in der modernen Lebensform hat langfristige Lebensplanung eine zentrale Bedeutung (P. L. Berger) o Langsicht früher nicht auf das Einzelleben sondern auf Familie und ihre materielle Grundlage bezogen ( Hofdenken der Bauern) Veränderung des Individualitätskonzeptes führt zu einer Verlagerung von historischer bzw. jahreszeitlich-naturaler Zeit als Verlaufsachse für das Leben zur Zeit des individuellen Lebens selber o Individualisierungsprozess (= Prozess der Verzeitlichung des Lebens) wird deutlich in der Geschichte der Autobiographie - Ursachen für die Institutionalisierung des Lebenslaufs: Rationalisierung (der staatlichen Leistungssysteme, des Wirtschaftens, auf der Ebene des Individuums) Soziale Kontrolle (heute Vergesellschaftung stärker auf der Ebene des Individuums als auf derjenigen der stabilen Lokalgesellschaft) Institutionalisierung des Lebenslaufs als Ablaufprogramm und langfristige perspektivische Orientierung für die Lebensführung Sukzession (Nachfolgeregelung = im modernen Betrieb ist Nachfolge ein Prozess des Rekrutierung von einem Markt freier Arbeit; Unterscheidung nach geschlossenen Positionssystemen = Vakanzwettbewerb und offenen Positionssystemen = Marktwettbewerb) Integration (Verhältnis der versch. Lebensbereiche, insbes. von Betrieb und Familie) - Institutionelles Programm und subjektive Konstruktion Bindung der Lebensereignisse an das chronologische Alter widerspricht einem der normativen Kernprinzipien der Moderne der Orientierung an erworbenen statt an zugeschriebenen Merkmalen Institutionalisierungsprozess hängt mit der gesell. Organisation der Arbeit zusammen Die Institutionalisierung des Lebenslaufs bedeutet (notwendige) Entlastung ; sie gibt der Lebensführung ein festes Gerüst vor und setzt Kriterien dafür, was erreichbar ist und was nicht - sie bedeutet aber auch eine Einschränkung individueller Handlungsspielräume
3 - 3 Modelle des Verhältnisses von System- und Handlungsebene (Lebenslauf als institutionelles Programm und subjektive Konstruktion): - 1. Modell: Individuen ausschließlich als biographisch prozessierte Einheiten Unter dem Gesichtspunkt Normallebenslauf steht Prozessierung durch Arbeitsmarkt und staatliche Leistungssysteme im Vordergrund Das Subjekt unterliegt der Prozessierung nicht passiv Eigenbeiträge und Widerstandsmöglichkeiten werden deshalb nicht angemessen erfasst - 2. Modell: Lebenslauf als institutionelles Ablaufprogramm und Biographie als subjektive Konstruktion sind parallel und ergänzen sich Auffassung von Subjektivität als eine notwendige Komponente der Gesellschaft - 3. Modell: Spannung zwischen Lebenslauf als vorgeordneter Realität und Biographie als subjektive Konstruktion bleibt erhalten, kann aber auf ihre Konsequenzen befragt werden Augenmerk auf biographisches Handeln Vergrößerung des persönlichen Handlungsspielraums - Zur gegenwärtigen Situation: Anzeichen eines neuen Strukturwandels? empirische Anzeichen, dass Prozess des Chronologisierung zu einem Stillstand gekommen ist oder sich sogar umgekehrt hat o Veränderungen des familialen Verhaltens Destandardisierung des Familienzyklus wachsender Anteil von Haushaltskonstellationen außerhalb dem normativen Muster o Arbeit Aufweichung der Dreiteilung des Lebenslaufs und seiner Chronologie o Altersnormen verlieren an Geltung Frage: Sind die empirischen Sachverhalte bloße konjunkturelle Ausbuchtung des säkularen Trends zur Verzeitlichung und Chronologisierung oder ein grundsätzlicher Umschwung? o das zeitliche Ungleichgewicht der Entwicklung lässt keine eindeutige Antwort zu o für die Annahme einer grundsätzlichen gesell. Transformation gibt es soziologische Begriffsangebote: organisierter Kapitalismus, postindustrielle Gesellschaft, Postmoderne o in Bezug auf das Lebenslaufregime und den Individualisierungsprozess gibt es bei Annahme eines Strukturwandels 2 Deutungsalternativen: 1. These vom Ende des Individuums Personen hängen unmittelbar an den Fäden zentralisierter Steuerungsmedien 2. These des heutigen neuen Individualisierungsschubs Destandardisierung des Lebenslaufs wird als Sprengung des chronologischen Korsetts gedeutet treibt Individualisierungsprozess voran
4 - Normalbiographie : an heutige Gesellschaft gebunden, für die Vormoderne nicht angemessen Herausbildung in der Nachkriegszeit mit der zunehmenden Institutionalisierung stützt sich auf eine biographische Ordnung (Gerüst der Lebensführung) und ermöglichte einen verlässlichen erwartbaren Lebenslauf Voraussetzung: Stabilität der Erwerbsverhältnisse der Lebenslauf in modernen Gesellschaften ist um das Erwerbssystem herum organisiert Niveau der Einstiegsqualifikationen bestimmt die Chancen kontinuierlicher Berufsbiographien Dreiteilung: Vorbereitungs-, Aktivitäts- und Ruhephase = Kindheit/Jugend - aktives Erwachsenenleben - Alter zeitliche Abfolge der Biographie durch typische Statuspassagen: formelle Schulbildung, Ablösen vom Elternhaus, Eintritt ins Erwerbsleben, Familiengründung, Ausscheiden aus dem Erwerbsleben, Ruhestand die Differenzierungen in der Dauer der Lebensläufe und Verlaufsformen sind schichtspezifisch in Abhängigkeit von der sozialen Herkunft Unterscheidung männliche und weibliche Variante: Männer: neben dem Durchlaufen der traditionellen Statuspassagen ist ihre Variante gekennzeichnet durch die Aufgabe der dauerhaften Sicherung der materiellen Reproduktion der Familie wenig Familienarbeit Frauen: neben dem Durchlaufen der traditionellen Statuspassagen ist ihre Variante gekennzeichnet durch die Rolle der Hausfrau und Mutter, ist in erster Linie für die Erziehung der Kinder zuständig, tritt sie wieder ins Erwerbsleben ein, dann meistens in Beschäftigungsverhältnisse, die von den Schutzregelungen des Normalarbeitsverhältnisses ausgenommen sind Idealvorstellung einer Normalbiographie nach dem 2. Weltkrieg: Die Männer, die ins Erwerbsleben traten, stellten aufgrund ihrer Fachkompetenz in den Stammbelegschaften das Rückgrat der Produktion dar. Sie waren die Träger und Produzenten des technisch-organisatorischen Wandels und des wirtschaftlichen Wachstums der Nachkriegszeit. Es gab eine Art von Gleichgewicht zwischen Ökonomie und Biographie. Kontinuitätserwartungen und Zukunftsgewissheit waren Grundlage für den Entwurf beruflicher Strategien und für die private Lebensführung. - Normalarbeitsverhältnis Herausbildung Mitte der 50er bis Ende der 70er Jahre das NAV bezeichnet ein Arbeitsverhältnis in Vollzeitbeschäftigung, das auf Dauer angelegt ist, mit arbeits- und sozialrechtlicher Absicherung, tarifrechtlichen Vereinbarungen bezüglich Arbeitszeit und Einkommen, staatlichen Schutzregelungen und Rentenansprüche bei Eintritt in den Ruhestand Stabilität in der sozialen und materiellen Absicherung und gewisse Kontinuität in den Stationen und Statuspassagen des Arbeitslebens im Normalarbeitsverhältnis findet die staatliche Regulierung des Verhältnisses von Arbeit und Kapital ihren Ausdruck das Normalarbeitsverhältnis erlaubte erst die Herausbildung der Normalbiographie Gewissheit, auch unter den Bedingungen der Individualisierung des Lebenslaufes, nicht aus dem gesellschaftlichen Stützsystem herauszufallen
5 - Veränderungstendenzen in der biographischen Struktur der Erwerbsarbeit: Erwerbsarbeit und die um sie herum entstandenen wohlfahrtsstaatlichen Sicherungssysteme prägen die Struktur des modernen Lebenslaufs und bilden die Grundlage für Individualisierung entsprechend folgenreich sind gegenwärtige Veränderungen der Erwerbsarbeit: bei der Struktur des Lebenslaufs sind Tendenzen einer De-Institutionalisierung erkennbar, im Bereich der Erwerbsarbeit allerdings geringer als auf der Ebene der Familie wirken sich darauf aus, in wie weit die Kontinuität im Lebenslaufs noch über die Erwerbsarbeit gesichert ist neue Formen diskontinuierlicher Erwerbsarbeit (kurzfristige Verträge, Zeitarbeit, Niedriglohnjobs etc.) Prozesses der Individualisierung: diese Entwicklungen als Ausdruck der gewollten Abkehr von eingefahrenen normalbiographischen Verlaufsformen gesehen werden Deregulierung des Erwerbssystems aber auch Gefahr für die Voraussetzungen von Individualität im Sinne eigenständiger Handlungsfähigkeit - Übergang von Haushaltsökonomie zu Ökonomie freier Arbeit bringt Ausdifferenzierung der Erwerbsarbeit sowie Ausdifferenzierung der entsprechenden Lebensphase, die der Erwerbsarbeit gilt - die Phasen davor und danach, sprich Bildung- und Rentensystem, sind zunehmend von staatlicher Seite aus strukturiert - innerhalb der Erwerbsphase gibt es viele mögliche Brüche und Übergänge - diese Etappen sind aber allesamt Teil eines einheitlichen, übergreifenden und als solches antizipierbaren Ablaufprogramms, trotzdem eine Kontinuität über die diskontinuierlichen Teile hinweg - Sozialpolitik der modernen Sozialversicherungssysteme spielt große Rolle: gewährleistet Kontinuität der Normalbiographie auch dort, wo Erwerbssystem Lücken lässt - lebenszeitliche Kontinuität aber auch durch Veränderungen in der Erwerbsarbeit selber erzeugt heute zunehmende Regulierung der Berufskarrieren nach dem Funktionsprinzip interner (betrieblicher) Arbeitsmärkte erkennbar (geschlossene Positionssysteme, die nur zugänglich sind, wenn der vorherige Inhaber sie verlassen hat Vakanzwettbewerb) - betrieblichen Regulierung: Entstehung von Reziprozitätserwartungen (selbstverständliche Erwartung über angemessenes bzw. gerechtes Verhältnis von Leistung und Gegenleistung) - die Institutionalisierung des Lebenslaufs lässt sich also durch die kontinuitätsstiftende Wirkung der Erwerbsarbeit begründen - zugleich ist die Sicherung eines kontinuierlichen Lebenslaufs auch die Grundlage für eine individuelle Autonomie diese ermöglicht biographische Langsicht, also einen Befriedigungsaufschub, Investition, Planung und Legitimation längerfristiger Ansprüche im Erwerbsbereich Tendenzen der Deregulierung oder Flexibilisierung erkennbar mit 2 verschiedene Folgen: zum einen die Befreiung des Individuums aus institutionellen Programmen, zum anderen auch die Erosion der Grundlage für Individualität - Tendenzen für die kontinuitätsstiftende Wirkung der Erwerbsarbeit: arbeitsbezogene Dreiteilung des Lebenslaufs ist für Männer erhalten geblieben und steigt für die Frauen zunehmend an (Frauen haben immer noch den höheren Anteil an Teilzeitarbeit) Dauer der mittleren Lebensphase, die der Erwerbsarbeit dient, verkürzt sich (Arbeitslosigkeit an beiden Rändern der Erwerbsarbeit ist höher: Jugendarbeitslosigkeit oder auch Einstiegsarbeitslosigkeit und Arbeitslosigkeit im höheren Alter kurz vor der Rente)
6 es erscheint ein wenig paradox, wenn die Lebenserwartung ständig steigt aber die Lebensarbeitszeit immer weiter zurückgeht (Problem des Rentensystems) dies führt zu einer neuen Aktivität im Ruhestand, einer eigenständigen Lebensphase, die neue Handlungsspielräume bietet und eigenes Handeln erfordert Biographisierung des Ruhestandes auch die durchschnittliche Jahresarbeitszeit ist zurückgegangen, von 1960 bis 1986 von 2106 Stunden auf nur 1708 Normalarbeitsverhältnis überwiegt nach wie vor (99% der erwerbstätigen Männer und über 75% der Frauen Vollzeit beschäftigt) - Was heißt das nun im Hinblick auf Individualisierung? Tendenzen sprechen für eine zumindest partielle Auflösung der bisher institutionalisierten Verlaufsmuster des Lebens Folge: Biographisierung der Lebensführung, d.h. eine Situation die nach eigenständiger biographischer Orientierung verlangt neue Verlaufsmuster sehr verschieden und weniger institutionalisiert als die bisherigen, Fächer möglicher und zugänglicher Alternativen sind breiter geworden, Individuen müssen sich selber entscheiden, diese Entscheidung nach einer Individuallogik fällen, für mache Gruppen sogar Individualisierungszwang z.b. bei Intellektuellen oder Künstlern (Selbstbewusstsein, Selbstreflexion und Selbsterfahrung als zentrale Aufgaben der Arbeit an der eigenen Persönlichkeit) Fazit: Nicht mehr stabile Zugehörigkeit verbürgt Kontinuität, sondern die immer wieder neue Ausrichtung auf biographische Verläufe und Ziele. In der individualisierten Lebensform wird man stolz darauf sein, eine Reihe von Umstrukturierungen und Brüchen bewältigt zu haben. Und nicht mehr darauf, kontinuierlich und kompetent an der Herstellung bestimmter Güter mitgearbeitet zu haben. Kohli, Martin: Die Institutionalisierung des Lebenslaufs, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, H. 1, 1985, S Kohli, Martin (1994): Institutionalisierung und Individualisierung der Erwerbsbiographie (1989), in: Beck, U. / Beck-Gernsheim, E. (Hg) (1994): Riskante Freiheiten, Frankfurt/Main: Suhrkamp, S
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