Gleichgeschlechtliche Liebe / Öffentliche Veranstaltung der Aids- Hilfe Graubünden vom Mittwoch, 23. Februar 2011
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- Benedict Stieber
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1 Gleichgeschlechtliche Liebe / Öffentliche Veranstaltung der Aids- Hilfe Graubünden vom Mittwoch, 23. Februar 2011 Vielfalt als Basis in Erziehung und Bildung Sehr geehrte Damen und Herren Zuerst möchte ich mich bei der Aids-Hilfe Graubünden für die Vortrags-Anfrage herzlich bedanken. Bedanken möchte ich mich auch für die wertvolle, für die gute Arbeit, die die Mitarbeitenden der Aids-Hilfe Graubünden jahrein jahraus leisten, seit Jahren leisten. Im Mittelpunkt des heutigen Abends steht das Thema Gleichgeschlechtliche Liebe im beruflichen Umfeld. Auch ich bin natürlich gespannt, was uns Professor Rauchfleisch darüber berichten wird. Von den Veranstaltern wurde ich gebeten, über das Thema Vielfalt als Basis in Erziehung und Bildung zu sprechen. In meinem kurzen Beitrag versuche ich somit skizzenhaft aufzuzeigen, dass die Art und Weise, wie eine Gesellschaft mit der Heterogenität in den verschiedenen Lebensbezügen umgeht also auch mit Heteround Homosexualität, unter anderem damit zu tun hat, wie Vielfalt in Erziehung und Schule gelebt wird. Bei meinen fünf Thesen konzentriere ich mich als neuer Bündner Erziehungschef bewusst auf die Volksschule.
2 2 Erste These: Die Volksschule ist ein Grundmuster für gelebte Vielfalt innerhalb einer Gesellschaft. Im Gegensatz zu anderen Ländern besuchen in der Schweiz und vor allem auch in Graubünden praktisch 100 % der Kinder die öffentliche Volksschule. Dies ist gut so. Dies soll so bleiben. Dazu gilt es Sorge zu tragen. Seit ihren Anfängen besteht ein Grundanliegen dieser Volksschule darin, die jungen Menschen einer ganzen Gesellschaft eines Dorfes, eines Stadtquartiers gemeinsam zu erziehen und zu bilden. Jedes einzelne Kind soll in seiner Klassengemeinschaft entsprechend seinen Möglichkeiten optimal gefördert werden. Seine individuellen Fähigkeiten, Fertigkeiten und Haltungen werden somit für die Gemeinschaft auch sichtbar, letztlich nutzbar gemacht. Eine optimale Förderung des Individuums in und für die Gemeinschaft gehört zum Fundament jeder Volksschule. Allerdings werden Unterschiede nur dann zu einer Chance, wenn sich in einer Klasse Vielfalt und Einheitlichkeit in etwa die Waage halten. Selbstverständlich besteht zwischen diesem Ideal und dem konkreten Schulalltag immer eine mehr oder weniger tiefe Kluft. Dies war bisher so. Dies ist heute so. Und dies wird auch in Zukunft nicht ändern.
3 3 Zweite These: Die Vielfalt innerhalb der Volksschule wird immer grösser. Sie stösst an ihre Grenzen. Geschätzte Anwesende Im Gegensatz zur relativ konstanten Grundidee der Volksschule hat sich deren Vielfalt in Bezug auf die Kinder, die Lehrpersonen und die Unterrichtsinhalte im Laufe der vergangenen Jahrzehnte laufend und markant vergrössert. Und auch die funktionale Ausdifferenzierung unserer Gesellschaft wächst von Jahr zu Jahr. Diese Entwicklung spiegelt sich dies ist klar - in unseren Schulen. So haben diese heute unter anderem die Aufgabe, nicht mehr nur Kinder unterschiedlicher Schichten, sondern immer häufiger auch Kinder verschiedener Nationalitäten, Hautfarben, Religionen, Sprachen und Begabungen gemeinsam zu unterrichten und gleichzeitig individuell zu fördern. Für unsere Volksschulen ist es selbstverständlich, dass in einem Schulhaus Schülerinnen und Schüler aus ganz unterschiedlichen familiären Umfeldern von Lehrpersonen aus ebenso unterschiedlichen Bezugssystemen unterrichtet werden. Auch in Bezug auf die Inhalte, welche an unserer Volksschule gelehrt werden, hat sich die Vielfalt im Laufe der Jahre stark vergrössert. So wurde und wird die Volksschule mit immer neuen Aufgaben beglückt: Gesundheitserziehung, Verkehrserziehung, Umwelterziehung, Gewaltprävention, Sexualerziehung und Aidsprävention um nur einige zu nennen.
4 4 Nehmen wir als Beispiel die Aidsprävention. Diese wurde in den Achtziger- und Neunziger-Jahren des letzten Jahrhunderts im Bündner Oberstufenlehrplan verankert. Damals war unsere Gesellschaft neu mit dem HI-Virus konfrontiert. Der Kanton Graubünden erlebte eine beispielhafte, auf die damalige Situation optimal abgestimmte Zusammenarbeit zwischen der Volksschule und ganz verschiedenen Amtsstellen und Institutionen. Eine zentrale Rolle bei diesem Vorgehen spielte bereits damals auch Ihre Organisation die Aidshilfe Graubünden. Geschätzte Damen und Herren, gesellschaftliche Probleme rufen immer häufiger nach neuen Lösungsbeiträgen der Schule. Dies ist ohne Zweifel wichtig. Darin liegt allerdings auch eine Gefahr. Eine immer weiter gehende Differenzierung unserer Gesellschaft droht die Integration und Identität fördernden Kräfte unserer Volksschulen ganz langsam zu überfordern. Deren Vielfalt stösst ganz offensichtlich immer häufiger an ihre Grenzen. Meine dritte These: Vielfalt muss nicht nur gelehrt, sondern auch gelebt werden. Wie gesagt: Die Vielfalt der Lerninhalte steigt laufend. Die grösste Vielfalt bleibt aber ganz offensichtlich nur theoretisch und ohne Wirkung, solange sich der Umgang damit nicht auch im Schulalltag und in der Gesellschaft wirklich spiegelt. Allzu oft werden Unterschiede nämlich vor allem dazu benützt, um sich ab- und andere auszugrenzen.
5 5 Meine Damen und Herren, wir alle kennen den grossen Einfluss, den so genannte Peer-Groups auf Jugendliche haben. Diese Gruppen verfügen oft über eigene Dress-Codes und eigene Sprachgewohnheiten. Wer nicht die von der Gruppe bewunderte Kleidung trägt, wer nicht die von der Gruppe benutzte Sprache spricht und nicht über die von der Gruppe für gut befundenen Witze lacht, hat es schwer, gehört nicht dazu, wird ausgegrenzt. Solche Prozesse und Erfahrungen sind wohl normal. Sie gehören zur Entwicklung jeder jungen Generation. Die Aufgabe der Schule besteht nun allerdings nach meinem Dafürhalten darin, für die jungen Menschen erfahrbar zu machen, dass auch in einer Gruppe von Seinesgleichen Vielfalt durchaus ihren Platz haben kann, haben soll, haben muss. Voraussetzung dafür ist, dass die gemeinsamen Ziele der Gruppe nicht nur Alltags-Bedürfnisse, sondern auch längerfristige und über die Gruppe hinausreichende Anliegen beinhalten. Zugegeben: Im Dienste eines grösseren Ganzen Vielfalt zu leben, ist in der Schule schwierig. Und nicht einfacher ist dies ganz generell in unserer Gesellschaft, die ja ganz offensichtlich immer mehr auseinander driftet. Abweichungen vom Zeitgeist werden auch in der Erwachsenenwelt nicht wirklich geliebt. All diesen Schwierigkeiten zum Trotz: Wir alle müssen immer wieder von Neuem lernen, Vielfalt nicht nur theoretisch als Chance zu begreifen, sondern sie in unserem konkreten Alltag als Bereicherung zu erkennen, zu leben.
6 6 Vierte These: Gelebte Vielfalt basiert auf einem nie endenden Balanceakt. Das Gleichgewicht zwischen Eigenständigkeit und Gemeinschaft, zwischen Vielfalt und Identität muss immer wieder neu gesucht und gefunden werden. Dies gilt für die erwähnten Peer-Groups genauso wie für Schulklassen oder für die ganze Gesellschaft. Wir alle müssen uns dieser Herausforderung auch immer wieder neu stellen. Für die Volksschule heisst dies, dass sie sich selbstverständlich stufengerecht permanent mit verschiedenen Sprachen, Hautfarben, Religionen und Weltanschauungen auseinandersetzen muss. Die Schülerinnen und Schüler müssen lernen und erleben, dass Mitmenschen, welche vom Mainstream abweichen, gerade dank ihrer Verschiedenheit wertvoll sind. Meine Damen und Herren, der Umgang mit Vielfalt ist ein nie endender Lernprozess. Rückschritte und Fehltritte gehören natürlich ebenfalls dazu. Selbst wenn in einer Volksschul-Oberstufe fachund stufengerecht über Sexualität und über verschiedene sexuelle Ausrichtungen gesprochen wird, lassen sich auf dem Pausenplatz Witze auch grobe, sexistische Sprüche ganz einfach nicht vermeiden. Gerade deshalb ist es wichtig, dass die Schülerinnen und Schüler in diesem Zusammenhang auch lernen, dass Sprüche nicht die letzte Weisheit bedeuten, dass Witze unser Leben ja auch bereichern können, dass es aber Grenzen gibt, welche selbst Witze nicht über- resp. unterschreiten dürfen.
7 7 Fünfte und letzte These: Gelebte Vielfalt innerhalb einer Gemeinschaft entsteht in kleinen Schritten und verlangt von allen Beteiligten viel Geduld. Ich möchte diese These anhand eines konstruierten Beispiels aus dem Schulalltag illustrieren: Wenn ich vor 25 Jahren als Primarlehrer hier im Churer Rheinquartier meiner Klasse damals mitteilte, dass uns beim kommenden Herbstausflug meine Frau begleiten werde, wurde dies von Schulrat, Lehrkollegium, Eltern und Schulkindern als Selbstverständlichkeit zur Kenntnis genommen. Wenn damals also vor 25 Jahren ein Klassenlehrer aber angekündigt hätte, er werde auf der Exkursion von seiner Lebenspartnerin begleitet, löste dies wahrscheinlich da und dort noch einige mehrdeutige Blicke und in Falten gelegte Stirnen aus. Heute sind Lebenspartnerinnen von Lehrern und Lebenspartner von Lehrerinnen wirklich kein Problem mehr. Das Konkubinatsverbot liegt ja weit hinter uns. Hingegen wäre auch heute wahrscheinlich in einigen Schulgemeinden noch mit mehrdeutigen Blicken und eindeutigen Witzen zu rechnen, wenn ein Klassenlehrer ankündigte, er bringe zur morgigen Exkursion seinen Lebenspartner oder seine Kollegin bringe ihre Lebenspartnerin mit... Und doch: Aufgrund der bisherigen Entwicklung bin ich wirklich zuversichtlich, dass diese Ankündigung bereits in zehn Jahren ebenfalls kein Thema mehr sein wird.
8 8 Meine Damen und Herren, Einstellungen und Haltungen verändern sich - in kleinen Schritten. Aber auch kleine Schritte in richtiger Richtung führen zum Ziel. Ich komme zum Schluss und fasse zusammen: Vielfalt ist Lebensrealität. Sie ist die Basis, die Basis in Erziehung und die Basis unserer ganzen Gesellschaft. Diese Basis wird aber nur in dem Masse zu einem tragenden Fundament, in dem es gelingt, die Einmaligkeit und Einzigartigkeit eines jeden einzelnen Menschen als wertvollen Teil der Gesellschaft, der Gemeinschaft zu erkennen und zu schätzen. Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
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