Sozialität: Die Tätigkeiten der Menschen sind voneinander abhängig und aufeinander bezogen.
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- Nicolas Rothbauer
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1 Allgemeine Pädagogik II Wozu eine Theorie der Erziehung? Hopfner Johanna Wolfgang Sünkel Erziehungsbegriff und Erziehungsverhältnis Allgemeine Theorie der Erziehung Band 1. Weinheim, München: Juventa Vorwort Die theoretische Pädagogik behandelt ausschließlich die Erkenntnis pädagogischen Handelns, die normative Reflexion des Erziehens wird ausgeblendet aufgrund der historischen Variabilität der Normen, Werte und Lebenseinstellungen. Die theoretische Pädagogik betrachtet die Praxis der Erziehung als Gegenstand der Erkenntnis. Die logische Deskription zielt auf die allgemeinen Strukturen ihrer Gegebenheit. Alle Argumentationen sind ausgeschlossen, die von einem anderen als dem reinen Erkenntniswillen getragen sind. Theoretische Pädagogik befasst sich nicht mit der Wahl einer bestimmten Handlungsmaxime (pädagogische Richtung), sondern mit dem sachlichen, strukturgesetzlichen Zusammenhang der als wählbar erscheinenden Handlungsmöglichkeiten. Die Handlungsproblemstrukturanalyse (HPSA) geht davon aus, dass die erkennbaren Strukturen pädagogischen Handelns in den Strukturen der Probleme ausgedrückt sind, die durch jenes Handeln gelöst werden sollen. Aus der logischen Struktur des durch Erziehung zu lösenden Problems ergeben sich die bestimmenden Merkmale der problemlösenden Tätigkeit. Im erziehlichen Handeln sind die Problemlösungen das Vorübergehende und Veränderliche, die Problemstrukturen das Dauernde und Identische. Deshalb geht es der theoretischen Pädagogik nicht um die Lösungen, sondern um die Strukturen der durch Erziehung zu lösenden Handlungsprobleme. Der Erziehungsbegriff setzt sich zusammen aus Erziehungsverhältnis, Erziehungsprozess und Erziehungsfeld. Erziehung beschreibt die vermittelte Aneignung nicht-genetischer Tätigkeitsdispositionen. Erziehung ist eine Ko-Aktivität zwischen zwei Subjekten, empirisch beschreibbar nur in einer jeweils gegebenen konkreten Gestalt ihrer Wirklichkeit. Aloys Fischer (1914) fordert, den Erziehungswillen gegenüber dem Erkenntniswillen zurückzusetzen. Die Wissenschaft soll die Voraussetzung für das Verständnis von Problemstellungen bilden. Er unterscheidet zwischen der Absicht des Pädagogen, der Wirkung einer pädagogischen Handlung und der Struktur der Lebensverhältnisse. Außerdem zwischen der Tatsache der Erziehung im Ganzen und den Einzeltatsachen der Erziehung, also zwischen logischer (theoretischer) und empirischer Deskription. Der Erziehungsbegriff Anthropologische Herleitung, Geschichtlichkeit und Übergeschichtlichkeit Es gibt drei Grundmerkmale menschlicher Gattungsexistenz: Sozialität: Die Tätigkeiten der Menschen sind voneinander abhängig und aufeinander bezogen. Kulturalität: Die Tätigkeiten der Menschen können dazu führen, neue Möglichkeiten veränderter Tätigkeiten zu schaffen (kulturelle Evolution). Im Gegensatz zum Tierreich mit einer offenen Varianz der Resultate, sehr viel rascher als die biotische Evolution und mit regional oder ethnisch unterschiedlichen Entwicklungen (Verschiedenheit der Kulturen). Mortalität: Die Errungenschaften der kulturellen Evolution (Güter, Institutionen, Rechte, aber vor allem: Kenntnisse, Fertigkeiten, Motive) können nicht wie die der biotischen durch genetische Vererbung weitergegeben werden, sondern nur durch die gesellschaftliche Tätigkeit Erziehung. freie uni für alle Page 1
2 Erziehung löst also das durch die Mortalität von Individuen und Generationen entstehende Problem der Kontinuität hinsichtlich der subjektiven Tätigkeitsvoraussetzungen. Anders ausgedrückt: Erziehung sichert die Weitergabe kultureller Entwicklung trotz der Mortalität des Individuums. Kulturelle Entwicklungen sind gebunden an ihre eigenen Voraussetzungen in der Zeit (Geschichtlichkeit der Kulturen). Erziehung existiert konkret nur in der Verschiedenheit und Vielfalt ihrer wechselnden geschichtlichen Ausprägungen und ist insoweit ein historisches Phänomen. Sie ist gleichzeitig aber auch transhistorisch, insofern sie eine notwendige Bedingung der Möglichkeit von Geschichte ist. Erziehung ist gesellschaftliche Tätigkeit, und ihr Umfang und ihr Anteil an der gesellschaftlichen Gesamttätigkeit ist größer und verschiedenartiger als es dem oberflächlichen Blick erscheint. Überall dort, wo sie nicht fraglos und selbstverständlich funktioniert, erscheint sie als zu erneuernde, zu verbessernde. Die Bisubjektivität der Erziehung Das nicht-genetische Erbe kann die Mortalitätsschwelle nur dann überschreiten, wenn es den Nachwachsenden nicht nur angeboten, sondern von diesen auch akzeptiert wird. Erziehung ist somit eine bisubjektive Tätigkeit, wobei beide Bereiche (Vermitteln und Aneignen) gleichwertig sind. Im Fall der Selbsterziehung sind Erzieher und Zögling in einer Person vereint. Die erwachsene Generation vermittelt, die heranwachsende eignet sich gesellschaftlich benötigtes Wissen, Können und Wollen an. Für die erwachsene Generation steht oft die eigentliche Tätigkeit (Arbeit) im Vordergrund, Vermittlung erfolgt dann nebenbei durch situative Teilnahme und Mitwirkung. Diese Einheit von Arbeit und Vermittlung löst sich auf, wenn gesonderte Vermittlungstätigkeit sinnvoll und zweckmäßig erscheint. Dies kann über eine eigene Zeitstruktur geschehen, aber auch institutionalisiert und an bestimmte Personen (früher die Alten, heute eigene Berufsgruppen) delegiert. Die Subjektposition kann von der Generationenzuordnung abweichen. Durch Spezialisierung (bestimmte Tätigkeiten werden nicht von allen Gesellschaftsmitgliedern ausgeübt), gesellschaftlichen Wandel (zb Kulturenverschmelzung erfordert Umstrukturierungen, die von den Jüngeren schneller erbracht werden können), berufsmäßige Vermittlung und im Unterricht kann sich die Generationenzuordnung von Schülern und Lehrern umkehren. Friedrich Schleiermacher begründet seinen Erziehungsbegriff durch die wechselseitige Verbundenheit ihrer Aufgaben und der besonderen Verantwortung der älteren für die jüngere Generation. Erziehung ist damit ein reales (nicht gesolltes, sondern gegebenes) gesellschaftliches Verhältnis (befreit von jeder abstrakten Normativität). Er betont die Dignität der Praxis. Um Wissenschaft zu sein, muss die Pädagogik von Verhältnissen ausgehen, die nicht zufällig, sondern notwendig sind. Ein solches ist die Zeitdifferenz der Generationenabfolge. Der dritte Faktor Erziehungsgegenstand sind die gesellschaftlich erforderlichen Kenntnisse, Fertigkeiten und Motive, anders gesagt die anthropogenen (aus Tätigkeit hervorgegangenen) Voraussetzungen menschlicher Tätigkeiten oder die nichtgenetischen Tätigkeitsdispositionen (als Ensemble der Voraussetzungen, über die ein Subjekt verfügen muss, um eine Tätigkeit auszuführen). Die Tätigkeit des Vermittelns und Aneignens ist nur über den gemeinsamen Gegenstand, der vermittelt und angeeignet wird, identifizierbar. Die Möglichkeit der Aneignung nicht-genetischer Tätigkeitsdispositionen hängt vom Vorhandensein und vom Entfaltungsgrad der zugehörigen genetischen Dispositionen (gattungsmäßig wie individuell) ab. Diese sind latent, bis sie (in Form der disponierten Tätigkeit selbst) aktiviert werden. Der Zögling erweist das Vorhandensein der genetischen Disposition durch die Aneignung der nicht-genetischen Disposition. Besonderheiten: Der aufrechte Gang ist an eine Aktivierung (durch Vorbildwirkung) innerhalb einer sensiblen Phase im Reifungsprozess gebunden. Die genetische Disposition des Sprechens wird aktiviert durch das Erlernen einer bestimmten Sprache. Immer, wenn nicht-genetische Tätigkeitsdispositionen vermittelt und angeeignet werden, handelt es sich um Erziehung. Erziehung ist also die vermittelte Aneignung nicht-genetischer Tätigkeitsdispositionen. Mit den spezifischen werden immer auch unspezifische Momente dieser Tätigkeit angeeignet (zb Notenlesen beim Flötenspielen). Besonderheit: Moral ist immer unspezifisch, niemals nur für Einzelfälle gültig. Eine Tätigkeitsdisposition besteht aus den Elementen der Kenntnisse, Fertigkeiten und Motive, die in einer bestimmten Struktur miteinander verknüpft sind. Die Akzentuierung kann dabei sehr unterschiedlich sein (zb Einbrecher / Schlüsseldienst) und zu unterschiedlichen Modifikationen der einzelnen Elemente führen. freie uni für alle Page 2
3 Die Aneignung des gesellschaftlichen Gefüges der Tätigkeitsdispositionen kann man als Sozialisation, das Resultat dieser Aneignungen als Habitus bezeichnen. In Gruppen bildet sich ein Kernbestand gemeinsamer Tätigkeitsdispositionen heraus. Die Zöglingsgruppe kann dann auch als Gesamtzögling (kollektiver Zögling) behandelt werden. Besonders wichtig ist die Aneignungsdisposition. Durch jede vollzogene Aneignung einer Tätigkeitsdisposition verändert sie ihre Struktur und wächst an Umfang, Elastizität und Leistungskraft im Rahmen der individuell-genetisch bedingten Möglichkeiten. Comenius stellt 1648 das didaktische Dreieck auf: Erzieher, Zögling, Lehre. Die Tätigkeit ist Ausdruck der ihr zugehörigen Disposition. Aus der Tätigkeit kann die zugehörige Disposition direkt erschlossen werden, indirekt manchmal auch aus dem Resultat der Tätigkeit. Man erwirbt eine Disposition, indem man eine Tätigkeit auszuführen versucht, durch oftmalige Wiederholung, durch Anleitung und durch Nachahmung. Die Ausführung allein reicht nur bei einfach strukturierten Tätigkeiten (zb schwimmen). Eine Disposition ist in der durch sie disponierten Fähigkeit verkörpert, sie existiert aber auch, wenn ich mich gerade ganz anders beschäftige. Es ist auch möglich, sich Teilbereiche (dispositionelle Ausschnitte, Tätigkeitskomplexe) zu wählen. Orientiert man sich an einer einzelnen Handlung, spricht man von einem Beispiel. Orientiert man sich an konkreten Eigenschaften eines anderen Menschen, so spricht man von einem Vorbild. Außerdem gibt es noch die Gebrauchsdisposition von Geräten. Spontane Tätigkeitsdispositionen sind Emotionen (Liebe, Trauer, Hass, Verzweiflung, ), Operationen des Verstandes und der Vernunft (zb Logik) und die Aneignungsdisposition. Eine besondere Erziehungssituation ist der Unterricht, wenn eine als Text objektivierte Tätigkeitsdisposition zum gemeinsamen Gegenstand von Vermittlung und Aneignung genommen wird. Der Unterricht ist ein durch die Besonderheit seines Dritten Faktors abgegrenztes Teilgebiet der Erziehung. Die Didaktik ist daher eine darauf bezogene Teildisziplin der Pädagogik. Der allgemeine Begriff der Erziehung Erziehung ist an Kulturalität gebunden. Bei den Katzen wird das Mausen auch von den Eltern gelernt, doch gibt es weltweit keine Verschiedenheit. Es handelt sich daher um das Aktivieren einer genetischen Disposition, nicht um Erziehung. Vorstufen zeigen sich in den Bereichen Nachwuchsvorsorge, - pflege und -vertreibung. Manche Tiere haben Fähigkeiten, Dispositionen zu erwerben, die weit über das hinausgehen, wovon die Natur derzeit Gebrauch macht. Deutlich wird das durch Dressur (Abrichtung: Tiger springt ohne Gefahr durch Feuerreifen) und Ausbildung (Lawinenhund muss nicht nur den Verschütteten finden, sondern auch einen Weg für die Retter). Protopädie und Pädeutik Intentionale Erziehung ist die bewusste, absichtsgesteuerte Erziehung. Doch dass sich Zöglinge offensichtlich auch ganz anders entwickeln können als von den Erziehern geplant, deutet darauf hin, dass es zwischen den erzieherischen Absichten und dem tatsächlichen Erziehungsgeschehen keinen direkten oder notwendigen Zusammenhang gibt. Die funktionalen Aspekte bezeichnen die Erziehungswirkung. Mimetische Aneignung erfolgt durch Beobachtung und Nachahmung. Die Intentionalität besteht dabei allein auf der Aneignungsseite. Der Tuende kann sein Handeln noch erklären, um es mir besser zu vermitteln und er kann mich die Tätigkeit selbst tun lassen und kommentieren, dann kommt es zu zwei gleichzeitigen Tätigkeiten: meine Arbeit, die untrennbar auch Aneignung der Tätigkeitsdisposition ist, und seine Supervision (Protopädie). Erklärt er es mir, ich höre zu und mache es eventuell später, so handelt es sich um Unterricht (Pädeutik). Vermittlungs-Aneignungs-Vorgänge können also diskret (explizit) oder nicht-diskret (implizit) erfolgen. Protopädie: Erziehung, die (versteckt) im Rahmen einer anderen Tätigkeit erfolgt Pädeutik: eigene, klar unterscheidbare Tätigkeit der Vermittlung oder Aneignung Zwischen diesen beiden Formen besteht jedoch kein statischer Gegensatz, sondern wechselseitige Ergänzung und dynamischer Übergang. freie uni für alle Page 3
4 Das Erziehungsverhältnis Vermittlung und Aneignung Erziehung ist eine gesellschaftliche Tätigkeit, die sich aus der Vermittlung und der Aneignung des Dritten Faktors zusammensetzt. Erziehungsverhältnis bezeichnet das strukturelle Verhältnis der beiden Teiltätigkeiten zueinander und das Prinzip ihrer Integration zur Gesamttätigkeit Erziehung. Zwei Grundlagen: Die intergenerative Kontinuität nicht-genetischer Tätigkeitsdispositionen kann nur gelingen bei erfolgreicher Aneignung. Aneignung kann oft nur gelingen, wenn die vermittelnde Tätigkeit zu Hilfe kommt, indem sie in Gang setzt, leitet, berichtigt, antreibt, überprüft. Handlungsziel der Aneignung ist der Dritte Faktor (gegenstandsorientiert). Handlungsziel der Vermittlung ist die Aneignung (handlungsorientiert / organisatorisches Handeln). Das Handeln des Erziehers setzt Ursachen und erwartet Wirkungen. Es erfolgt jedoch immer im Rahmen der bisubjektiven Komplexität, d.h. in der jeweiligen Situation des jeweiligen Zöglings voller Individualität und Subjektivität. Pädagogische Kausalität ist kontingent. Eine zwingende Verknüpfung von Ursache und Wirkung gibt es nicht, auch keine notwendige Äquivalenz oder Proportionalität von Ursache und Wirkung. Daraus folgt das Prinzip der Einwirkungsminimierung. Pädagogische Kausalität ist diffus. Eine bestimmte Wirkung ist nie mit Sicherheit auf eine bestimmte Ursache zurückzuführen. Daraus folgt das Prinzip der Einwirkungsmultiplikation. Ein Ensemble minimierter Einwirkungen bietet mehr Aussicht auf Erfolg als eine Einzelmaßnahme mit hoch eingeschätzter Intensität. Die Aneignungstätigkeit des Zöglings wird jedoch zusätzlich durch eine Unzahl von Einwirkungen beeinflusst, die nicht vom Erzieher gesetzt sind. Der Einwirkungskreis Einwirkungen können (a) vom Erzieher (bewusst und unbewusst) gesetzt werden. Sie können (b) von ihm beeinflusst (gehemmt, verstärkt, umgeleitet, ) werden. Und sie können (c) unabhängig von ihm stattfinden. Jeder Erzieher wird versuchen, a und b gegenüber c zu stärken, doch beeinträchtigt Isolation von der Umwelt die Beziehung zur Gesellschaft bzw. schrumpft dadurch die Zahl der möglichen Aneignungsgegenstände. Der Erzieher kann außerdem (d) auf andere Einwirkungen einwirken. Diese indirekte Einwirkung wird von vielen Pädagogen der direkten Einwirkung vorgezogen. Alle diese Einwirkungen treffen auf die unspezifische Spontaneität des aneignenden Subjekts. Einwirkungen sind mögliche Orientierungen der Aneignung. Orientierungsrahmen der Aneignungstätigkeit ist die pädagogische Kausalität. Kategorien der Einwirkung Einwirkungen können unterstützen oder gegenwirken, je nachdem ob das Ziel die Aneignung oder Nichtaneignung ist (Einwirkungsrichtung). Dementsprechend kann der Pädagoge ermöglichen und veranlassen bzw. verhindern und unterbinden (Einwirkungsweisen). Das Ermöglichen geht dem Veranlassen voraus und bildet mit ihm eine Einheit. Das Ermöglichen kann sich darauf beschränken, das anfängliche Hindernis der Aneignung und zwischenzeitliche auftretende Hindernisse aus dem Weg zu schaffen. Möchte der Zögling jedoch nicht mit der Aneignung beginnen oder durchhalten, so benötigt er den Beistand des Erziehers, der ihn dazu veranlasst, Lernwege zu gehen, die er alleine nicht gefunden hätte. Verhindern lässt sich eine Aneignung dadurch, dass ihre Tätigkeitsdisposition vom Zögling (Isolation) oder der Zögling von der Tätigkeitsdisposition (Verbot) ferngehalten wird. Verbote sind nur wirksam, wenn sie befolgt werden und es eine Strafdrohung gibt. Je mehr sie in den Willen des Zöglings übergehen, desto genauer und sorgfältiger werden sie befolgt. Verbote sollten auf das Maß des unbedingt Erforderlichen beschränkt sein und streng durchgesetzt werden. Hat der Zögling bereits mit der Aneignung einer unerwünschten Tätigkeitsdisposition begonnen, so kann nur mehr der Vollzug dieser Tätigkeit unterbunden werden. Schleiermacher führt aus, dass der pädagogische Wert einer gegenwirkenden Maßnahme umso höher ist, je mehr unterstützende Elemente darin vorkommen. Die Gegenwirkung vollendet sich, indem sie in Unterstützung mündet. Wer es beim Gegenwirken belässt, verzichtet auf den größten Teil des Spektrums erzieherischer Einwirkungsmöglichkeiten. freie uni für alle Page 4
5 Als Einwirkungsformen werden die Aktionsgestalten bezeichnet, mit denen der Erzieher seine Einwirkungen organisiert (Lob, Tadel, Spiel, Arbeit, ). Protopädische Einwirkungsformen sind ununterscheidbar mit anderen Tätigkeiten verwoben und deshalb als solche gleichsam unsichtbar. Mimetische Aneignung erfolgt durch Nachahmung, systemische Aneignung durch allmähliches Eindringen in den systemischen Aufbau einer Tätigkeitsdisposition (zb Erstspracherwerb), symbolische Aneignung durch Kenntnis und Mitvollzug der Symbole (zb religiöse Grundhaltung) und schließlich geht es um die Vermittlung durch Erwartung und Sanktion (als Kernbereich der Sozialisation: die Erziehung des Selbstverständlichen). Als Einwirkungsmittel (verwendete Gegenstände) kann alles gebraucht werden. (Der Stock als Einwirkungsform wurde verboten, als Einwirkungsmittel existiert er natürlich weiterhin). Im pädeutischen Bereich geht es darum, dafür zu sorgen, dass person- und sozialverträgliche Tätigkeitsdispositionen angeeignet werden (durch Unterstützen), unverträgliche aber nicht (Gegenwirken). Dies erfolgt anhand von Normen, von denen der Erzieher voraussetzt oder vermutet, dass sie gelten oder gelten sollten. Das kann ausschließend oder kombinierend sein, in vielen Fällen ist es widersprüchlich. Als Erziehungsfehler gilt im Rahmen der theoretischen Pädagogik nicht das, was gegen eine Norm verstößt, sondern das, was eine Struktur verfehlt. Das Erzieherhandeln ist umso richtiger, je klarer und deutlicher es den vorgegebenen Strukturgesetzmäßigkeiten entspricht. Beispiel: Die Praxis des erzwungenen, unbedingten Gehorsams (gebrochener Wille) ist ein fundamentaler Erziehungsfehler, weil die unspezifische Spontaneität des aneignenden Subjekts beschädigt oder gar zerstört wird. Die vermittelnde Tätigkeit hat keinen direkten Zugriff auf die Disposition des Zöglings, sondern kann nur auf die Tätigkeit ihrer Aneignung einwirken. Veränderungen der Tätigkeitsdispositionen sind daher nur durch Veränderungen seiner Tätigkeit zu bewirken. Beispiel Makarenko: Straffällige Jugendliche übernehmen die Aufgabe, Holzdiebe aufzuspüren und zu stellen. Das entspricht in weiten Teilen ihrem Vorleben (Tätigkeitsdispositionen), transformiert diese aber in einen sozial verträglichen Rahmen. Pädeutische Einwirkungsformen sind als besondere und unterscheidbare Tätigkeiten erkennbar. Dazu gehören prinzipiell alle Formen der menschlichen Kommunikation. Der Ort der Mittelwahl ist die konkret-individuelle Praxis. An der Bereitschaft und Fähigkeit eines Erziehers, seine Absichten mittels tauglichen, aber auch ungewöhnlichen und neuartigen Einwirkungsmittel umzusetzen, kann man den kreativen vom nur routinierten Erzieher typologisch unterscheiden. Die Erfolgswahrscheinlichkeit der einzelnen Einwirkungen erhöht sich, wenn sie nicht nur vereinzelt und zufällig gesetzt werden, sondern wenn sie untereinander einen sinnvollen Zusammenhang bilden (Methodisierung). Jede Methodisierung von Einwirkungen stößt an die Grenzmarke der Individualität, dennoch sind Methoden von eingeschränkter Allgemeinheit und Reichweite möglich, denn Zöglinge und Erzieher tragen nicht nur individuelle, sondern auch allgemeinere Merkmale, und Lebensumstände können verglichen und typisiert werden. Kontingente Konsequenz: Der Erzieher kann nicht mit Gewissheit vorhersehen, welche Wirkungen seine Maßnahmen erzielen werden, daher müssen vermutete Auswirkungen immer wieder darauf überprüft werden, ob sie auch eingetreten sind, und Folgemaßnahmen können nur auf tatsächlich eingetretenen Ergebnissen aufbauen. Diffuse Stimmigkeit: Einwirkungen sollten einander nicht nur nicht behindern, sondern im besten Fall fördern, ergänzen und unterstützen. Da man es in der Praxis jedoch nicht nur mit den eigenen Maßnahmen, sondern mit dem gesamten Einwirkungskreis zu tun hat, ist das nicht so einfach. In jeder wirklichen Erziehung steht der Zögling inmitten seiner gewachsenen und wachsenden Beziehungen, dem Erziehungsfeld (geographische Region, historische Epoche, ethnische und geschlechtliche Zugehörigkeit, gesellschaftliche Klasse und politische Machtverhältnisse). Unmittelbar bestimmend sind besonders relevante Ausschnitte dieses Erziehungsfeldes: die Erziehungssituation, die sich immer auf den Zögling bezieht und aus dem Zögling, aus den personalen und dinglichen Positionen und aus den Beziehungen des Zöglings zu den übrigen Positionen und der Positionen untereinander besteht. Beispiel: Die Situation Lehrvortrag wird bestimmt durch die Anzahl der Hörer, begrenzt durch die dinglichen Positionen des Hörsaals und seiner Ausstattung. Die Beziehungen der Hörer zum Hörsaal und zu einander sind ruhend. Aktiv und thematisch sind nur die Beziehungen der Hörer zur dinglichen Position Lehrgegenstand und zur personalen Position Dozent. freie uni für alle Page 5
6 Die Beziehung des Zöglings zum Aneignungsgegenstand setzt sich zusammen aus der Wertschätzung, dem Aneignungswillen und dem Aneignungshandeln. Wertschätzung ist notwendig für den Willen, beides zusammen für das Handeln. Die dingliche Kernbeziehung des Zöglings und des Erziehers ist die Beziehung auf den Dritten Faktor. Die Analyse der Kernstruktur einer Erziehungssituation benötigt nur zwei personale Positionen: Der Zögling (jede Person, die sich den Dritten Faktor auf vermittelte Weise aneignet) und den Erzieher (jede Person, die auf diesen Aneignungsvorgang vermittelnden Einfluss nimmt). Alle Erziehungssituationen sind individuell. Zum theoretischen Verständnis benötigt man differenzierende Merkmale allgemeineren Charakters (relative Konstanten). Diese können thematisch (Beginn bis Ende oder Abbruch eines Aneignungsvorgangs) sein, methodisch (Geschlossenheit und Systematik der Einwirkungen), perspektivisch (Zielstrebigkeit des Zöglings bei der Aneignungstätigkeit), personal und institutionell (situative Stabilisierung auf Zeit). Der Erzieher muss die Erziehungssituation erkennen (welche Dynamiken herrschen vor), beurteilen (welche Möglichkeiten bieten sich) und ein Konzept entwickeln, die Situation so zu organisieren, dass ein stimmiges und konsequentes System der Einwirkungen zustande kommt. Situative Einwirkung ist Gestaltung der Situation, so dass im Blick des Zöglings und auch eines Beobachters die Situation einwirkt, und nicht der Erzieher. Ziel ist daher, dass möglichst viele der in einer Situation ablaufenden Aneignungs-Vermittlungs-Vorgänge protopädische Gestalt annehmen, die Erziehung sich also fast von selbst vollzieht. Dazu gehören die Herstellung einer Situation, die Inspektion (Analyse) und die Variation (von Umfang oder Gefüge). Makarenko ging davon aus, dass die Kriminalität der Jugendlichen, mit denen er arbeitete, nicht auf Mängel ihres Charakters oder ihrer Persönlichkeit zurückgeht, sondern auf Störungen ihrer sozialen Beziehungen. Daher sein Bemühen, eine neue Situation mit nunmehr integren Sozialbeziehungen unter dem Prinzip der kollektiven Selbstorganisation der Zöglinge herzustellen. Unter Perspektive versteht Makarenko die Verfasstheit des Zöglings als Freude auf Zukunft. Parallele pädagogische Einwirkung entsteht zb dadurch dass nicht dem Zögling, der sie verdient hat, sondern der gesamten Zöglingsgruppe eine Maßnahme (Anerkennung, Lob, Tadel oder Strafe) erteilt wird. So wird die Verantwortung geweckt und bestätigt, die in der Gruppe jeder für jeden zu tragen hat, die Zöglinge erziehen einander wechselseitig. Die situativen Kernbeziehungen: alpha (Erzieher Erzieher): Erzieherpluralität ist ein unumgängliches Merkmal beinahe jeder Erziehungssituation. Die Vermittlungstätigkeit ist auf den selben Zögling gerichtet, die Beziehung untereinander ist (egalitär oder hierarchisch) kollegial, Ziel ist, die Einwirkungen auf einander abzustimmen und zu optimieren, egal ob heterologisch (verschiedenartig) oder homologisch (einheitlich). Die Prinzipien der Stimmigkeit und Konsequenz sollten natürlich in jedem Fall beachtet werden, sonst droht die Gefahr, die Situation und den Zögling zu zerreißen. Institutionen dienen dazu, Vermittlungsaufgaben zu verallgemeinern (zb Fahrschulen). Zöglinge sind jedoch immer Individuen, die Erzieher müssen also das Prinzip der Institution (Verallgemeinerung, vorgeschriebene Entwicklungsziele) mit der pädagogischen Notwendigkeit der individuell gestalteten Vermittlung vereinen. Dazu brauchen sie Kompetenz und Eigenverantwortung. Im Alltag von Institutionen dominieren die egalitären alpha-beziehungen der in ihnen tätigen Berufserzieher. De facto stellen aber Laienerzieher die große Mehrheit (in den Familien). beta (Zögling Zögling): Zöglinge sind durch ein Verhältnis wechselseitiger Vermittlungen und Aneignungen miteinander verbunden. Der kluge Erzieher nutzt dies durch Formen des indirekten, situativen Einwirkens. Die Vermittlungs-Aneignungs-Vorgänge finden meist in protopädischer Form statt: durch mimetische, systemische und symbolische Aneignung sowie durch Erwartung und Sanktion. Nähern sich die Zöglinge situativ einander an, entsteht eine Zöglingsgruppe ( gemeinsame Aufgabenbewältigung als Königsweg der Sozialerziehung). gamma (Erzieher Zögling): Besitz und Nochnichtbesitz des Dritten Faktors unterscheidet und verbindet die beiden Subjekte miteinander. Die Zeitdifferenz in der Generationenfolge ist ein Naturverhältnis mit elementaren Bestimmungen, es besteht die Gefahr einer Herrschafts-Rebellions-Beziehung, der mit Disziplin im Hinblick auf den Dritten Faktor zu begegnen ist. Dies setzt den inneren Abstand des Erziehers von sich selbst voraus. Der Erzieher wirkt pädeutisch (methodisch und nicht-methodisch) und protopädisch. Makarenko betont, ernste Konflikte nicht vorzeitig auszugleichen (emotional zuzukleistern), sondern bis zur Zuspitzung ausreifen zu lassen, und sie dann (unter kalkuliertem Risiko) schlagartig aufzulösen und dauerhaft zu beseitigen. freie uni für alle Page 6
7 delta (Zögling Dritter Faktor): Die Dimension der Aneignung ist konstitutiv für die Erziehung überhaupt. Die Beziehung des Zöglings zum Aneignungsgegenstand setzt sich aus Wertschätzung (Aneignungswürdigkeit des Gegenstands), Aneignungswillen und Aneignungshandeln zusammen. epsilon (Erzieher Dritter Faktor): Die gegenständliche Kompetenz bezieht sich auf die zu vermittelnde Disposition. Ein gewisser innerer Abstand (kritische Distanz) kann dabei nicht schaden. Wichtig ist auch das Urteil des Erziehers über die Vermittlungswürdigkeit und die Vermittlungsmöglichkeit des Gegenstands. zeta (Erzieher beta): Das Einwirken des Erziehers auf die Beziehungen zwischen seinen Zöglingen benötigt Inspektion (Wahrnehmen und Beurteilen der Tätigkeiten der Zöglinge im Verhältnis zueinander, der zugrunde liegenden protopädischen und pädeutischen Strukturen sowie der Möglichkeiten ihrer Veränderung) und Intervention (mit dem Hauptziel der Veränderung der Zöglingstätigkeiten zugunsten erwünschter Aneignungen und verbesserter Kooperation der Zöglinge. Beispiel: Vater zweier beim Autorennen streitender Buben soll mitspielen und geregelte Umgangsformen vermitteln. eta (Erzieher delta): Diese Beziehung ist die wichtigste von allen, denn in ihr spielt sich alles ab, was unter den Begriff der Erziehung fällt, alle vermittelte Aneignung. Erst dann, wenn es den Beherrschten gelingt, für sich eine eigene Kulturalität und einen eigenen pädagogischen Zusammenhang in der Generationenabfolge herzustellen, sodass sich Klassenbewusstsein entwickelt, entsteht die historische Möglichkeit eines sei es revolutionären, sei es evolutionären Umbaus der gesellschaftlichen Verhältnisse. (S. 66) freie uni für alle Page 7
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