Meine Kritik am Verständnis des Schamaffektes bei Wurmser betrifft drei Aspekte: 1. der eigentliche Schamaffekt ist für Wurmser theoretisch und
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- Max Giese
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1 Meine Kritik am Verständnis des Schamaffektes bei Wurmser betrifft drei Aspekte: 1. der eigentliche Schamaffekt ist für Wurmser theoretisch und klinisch durch Negativität gekennzeichnet. Der Schüchternheit liegt zwar ein positiver Wert zu Grunde, der bewahrt und dem Zugriff anderer entzogen werden soll; Scham ist aber an Verachtung - auf Seite in des Objektpoles - gebunden. Diese Sichtweise erscheint zu eng. Sie berücksichtigt nicht in das Erleben des Schamaffektes in einer Situation der Belobigung, und sie macht es schwer, die Weiterentwicklung eines Schamerlebnisses in Richtung von Intimität und Vertrautheit zu konzeptualisieren. 2. im Verständnis von Wurmser setzt der Schamaffekt zu seiner Manifestation das Über-Ich voraus; es ist der Objektpol - oder das Über-Ich -, von dem der verachtungsvolle Blick auf das Schamsubjekt ausgeht. Ich werde versuchen zu zeigen, dass das Über-Ich nicht Voraussetzung, sondern Ergebnis des Schamerlebens ist. Im von mir vorgeschlagenen Verständnis ist das Über-Ich konfigurational Ausdruck angeeigneter Reflexivität; aus einer beurteilenden Außenbeziehung ist eine urteilende Selbstbeziehung geworden. Inhaltlich ist es bestimmt durch lebensgeschichtlich angeeignete Identifizierungen. Es entwickelt sich aus Erlebnissen des Getrennt Seins und des Andersseins. An das basale Gefühl der Scham schließt als affektive Interpretation dieses Bruches, dieser Nichtübereinstimmung ein schwer aushaltbares Verworfenheitserleben an, das den affektiven Kern des Über-Ichs bildet. 3. eine ausgesprochene Stärke der Arbeiten von Wurmser, insbesondere seines Schambuches, ist die große Nähe zur klinischen Realität. Gleichzeitig könnte die Fülle klinischer Beispiele und Belege auch einen Schwachpunkt überdecken. Ein intrinsisches
2 Verständnis des Schamaffektes selbst nämlich wird so nicht recht deutlich. Welche Subjekt Objekt Relationen führt zur Herausbildung der Möglichkeit dieses Affektes? Wurmser untersucht den logisch und zeitlich nachgeordneten Schritt der Phänomenologie der Subjekt Objekt Konfigurationen, wenn die Scham ihre Wirkung bereits entfalten kann. Damit ist er einer Position nahe, die voraussetzt, dass jeder wüsste, was unter Scham zu verstehen sei. Bei diesem Vorgehen gerinnt Affekt gewissermaßen zu einer Entität, die dann in ihrer Verbundenheit zu anderen Entitäten untersucht werden kann. Der intrinsische Aufbau der Scham, ihre Rückbezüglichkeit, werde daher keiner Analyse unterzogen, er ist und bleibt vorgegeben. Das ist durchaus vereinbar mit der klassischen Tradition der Psychoanalyse, in der Wurmser steht, und ihrer biografischen naturalistischen Vorgehensweise, in und mit den Phänomenen der Reflexivität - wie Bewusstheit, selbst Bewusstheit, das selbst als Figur des Rückbezuges - schwer zu konzeptualisieren sind. Als klinisches Phänomen hat Scham für Wurmser eine größere Nähe zur Selbstentwertung als zur Reflexivität, und konsequent hat er sich in seiner nachfolgenden großen Arbeit mit Problemen der Über-Ich Analyse schwer beeinträchtigter Patientinnen und Patienten beschäftigt. Das Schamverständnis von Helen Block Lewis: basiert auf experimentellen Studien, auf einer phänomenologischen Analyse des Schamaffektes. Ihre Arbeit führt sie an Ansetzten von Max Wertheimer. Diese Untersuchungen führten zur Identifizierung verschiedener Wahrnehmungsstile und wurden zum Konzept der Feldabhängigkeit und Feldunabhängigkeit ausgearbeitet: Menschen mit einem Feld unabhängigen Wahrnehmungsstil orientieren die
3 Position ihres Körper im Raum unabhängig von optischen Wahrnehmungen; Feld abhängige Personen dagegen bringen die Position ihres Körpers in Übereinstimmung mit optisch wahrnehmbaren geometrischen Linien. Feld abhängige Menschen neigen eher zu Schamreaktionen, Feld unabhängigen Menschen eher zum Erleben von Schuld. Scham und Schuld entsprechen unterschiedlicher Über-Ich Funktionen, die sich entlang unterschiedlicher Identifikationswege entwickeln. Helen Merrel Lynd: in ihrer Analyse des Schamaffektes betont sie das Element der Plötzlichkeit, der Überraschung, dass der Manifestation von Scham innewohne. Dabei macht sie deutlich, dass es sich hierbei nicht nur um ein Zeitphänomen handelt, sondern um ein dynamisches Überraschungsmoment, ähnlich wie beim Witz. Es würde nämlich schlagartig eine Inkongruenz deutlich werden zwischen einem als selbstverständlich beachteten Bild der eigenen Person und anderen ihrer Aspekte. In diesem Zusammenhang der Erschütterung bisheriger Selbstverständlichkeiten gehöre eine Bedrohung der Fähigkeit, anderen Vertrauen zu können. Weiteres Kennzeichen des Schamaffektes ist auch in ihrem Verständnis die Schwierigkeit seiner Mitteilbarkeit, die gelegentlich zur Unmöglichkeit würde. Das Schamsubjekt sei nämlich in einem Zustand der Verwirrtheit, auch wenn dessen Dauer meistens zu kurz sei, dass er nicht weiter auffiel. Die Herausbildung der Fähigkeit zur Reflexivität ist an die Entwicklung der Symbolisierungsfähigkeit gebunden. In der letzten Zeit hat sich insbesondere Lichtenberg in seinen Bemühungen, Ergebnisse der Kleinkindforschung mit Positionen der klassischen
4 Psychoanalyse zu verbinden, mit der Entwicklung der Abbildungsfähigkeit bis hin zur Herausbildung von Repräsentanzen beschäftigt. Abbildungen entstehen aus einem handelnden Umgang mit den Dingen, wobei das Kind zunächst nicht zwischen einem Objekt und seinen Aktivitäten mit diesem Objekt unterscheidet und dieses nur dann etwas gilt, wenn es sinnlich motorisch verfügbar ist. Zunehmend ist das Objekt jedoch in seinem Bild präsent, das zusammengesetztes aus einer ganzen Summe von Merkmalen, zu denen Geruch, Klang, Farbe, Geschmack und Aktivitätsmuster gehören. Als ersten Indikator diese Entwicklungslinie interpretiert Lichtenberg die Fremdenangst, die Reaktion des acht oder 10 Monate alten Kleinkindes auf eine Nichtmutter Person. Es reagiert mit Verwirrung auf die Differenz zwischen erwartetem und vorgefundenem Bild und, das ist das neue dieses Schrittes - den Unterschiede konnte es ja vorher schon wahrnehmen - es betont sie, es arbeitet sie affektiv heraus. Implikationen dieser Betonung von Differenzen werden uns nach einigen Zwischenschritten ausführlich beschäftigen, und zwar im Zusammenhang mit der Funktion des Schamaffektes, der Sexualität des kleinen Kindes und in der Entwicklung der Selbstrepräsentanzen. Die Thematik der Entwicklung der Abbildungsfähigkeit und der uns ihr erwachsenden Repräsentanzenbildung ist er für die eigene Fragestellung an dieser Stelle deshalb von Wichtigkeit, weil die Nähe des Schamaffektes zum Gesichtssinn einige Klärungen erforderlich macht. Schamsituationen werden in der Regel visualisiert vorgestellt, der Sich-Schämende befindet sich - Real oder mental - in einer Situation, in der er den Blicken anderer ausgesetzt ist. Schon Freud hatte, wie oben dargestellt wurde, eine Verbindung des Schamaffektes zum Gesichtssinn unterstellt, indem er davon ausging, der Schamaffekt Linie der Abwehr
5 exhibitionistischer Wünsche. Auch Wurmser lokalisiert den Schamaffekt in das sinnliche Umfeld des Sehens, indem er zwei neue Begriffe eingeführt: Theatophilie und Delophilie, dem Wunsch zu sehen und dem Wunsch, durch sich zeigen zu faszinieren.
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