Beitrag: Wie gefährlich ist die Wärmedämmung? Brennende Fassaden

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1 Manuskript Beitrag: Wie gefährlich ist die Wärmedämmung? Brennende Fassaden Sendung vom 20. Juni 2017 von Jörg Göbel, Herbert Klar, Güven Purtul und Heiko Rahms Anmoderation: Die Opferzahlen nach dem Flammeninferno von London steigen und steigen. Mit 79 Toten rechnen die Behörden - bislang. Doch die Bergung der Leichen aus der Hochhausruine kann noch Wochen dauern, wenn sie überhaupt geschieht, und die Konsequenzen aus der Katastrophe sind noch nicht gezogen. Augenzeugen hatten berichtet, dass die Flammen auf die brennbare Fassadenverkleidung übergriffen und nach oben rasten. So etwas könne in Deutschland nicht passieren, versuchte die Bundesregierung zu beruhigen. Doch auch bei uns gibt es ein Risiko, wie unsere Autoren zeigen. Text: Todesfalle Grenfell Tower. In wenigen Minuten frisst sich ein Feuer vom vierten Stock bis ganz nach oben. Mindestens 79 Menschen sterben. Die Bürger in London geschockt. Sie fragen sich: Wie konnte sich das Feuer so rasend schnell ausbreiten? O-Ton Theresa May Premierministerin Großbritannien: Ich habe heute eine vollständige öffentliche Untersuchung angeordnet. Wir müssen wissen, was da passiert ist. Kann solch eine Brandkatastrophe auch in Deutschland passieren? Während in Großbritannien Untersuchungen laufen, hat die deutsche Bauministerin ganz schnell eine Antwort parat. Barbara Hendricks veröffentlicht einen Tag nach dem Unglück ein Merkblatt zu Brandschutz und Wärmedämmung in Deutschland. Und kommt zu dem Ergebnis: Bei Einhaltung der Brandschutzvorschriften kann es nach menschlichem Ermessen zu einer derartigen Katastrophe nicht kommen. O-Ton Kai Warnecke, Präsident Haus & Grund Deutschland: Ich finde dieses Merkblatt des Bundesbauministeriums und

2 Umweltministeriums ist fast schon zynisch. Hier zu sagen, wenn sich alle ordentlich verhalten, wird schon nichts passieren. Das setzt eigentlich die gesamte Denkweise des Brandschutzes außer Kraft. Hier sollte Frau Hendricks dringend umdenken, ob sie das Flugblatt weiter veröffentlichen möchte. Beim Unglück in London ist klar: Die Fassade brannte. Der Verdacht: Fassadenverkleidung und Wärmedämmung haben den dramatischen Verlauf des Feuers erst ermöglicht. Am Grenfell Tower sollen Aluminium-Verbundplatten mit brennbarem Kern verbaut worden sein. In Deutschland wurden mit Abstand am häufigsten Platten aus Polystyrol zur Fassadendämmung genutzt, auch bekannt als Styropor. Kostengünstiger als die feuerfesten Alternativen. Immer wieder kam es bei so gedämmten Häusern auch in Deutschland zu Bränden wie in Hamburg, November Am nächsten Tag wird klar: Im Lichtschacht des Altbaus setzte eine brennende Mülltonne die Dämmung in Brand. Das Feuer breitete sich sehr schnell nach oben aus. Acht Menschen erlitten eine Rauchvergiftung. O-Ton Brigitte Seibold, Nachbarin: Wir konnten das wirklich in dem Moment nicht fassen, wie so ein kleines Feuer - es sind ja auch, glaub ich, kleine Mülltonnen da, soweit wir sehen konnten - wie das so explosionsartig nach oben schnellen konnte. Das haben wir nicht begreifen können. Materialprüfanstalt Braunschweig, 2011: Die Ingenieure testen im Auftrag des NDR die Brennbarkeit einer üblich verwendeten Wärmedämmung mit Polystyrol. Das Ergebnis für die Prüfer: völlig überraschend. Denn das Polystyrol brennt viel schnell als erwartet, entwickelt extrem viel Rauch. Trotz dieser Erkenntnisse wurde weiterhin mit Polystyrol gedämmt. Diese Kunststoffdämmung ist bis heute zugelassen für Häuser bis zu einer Höhe von 22 Metern. Erst bei Hochhäusern darüber müssen nicht brennbare Dämmstoffe verwendet werden. O-Ton Wilfried Gräfling, Landesbranddirektor, Leiter Berliner Feuerwehr: Also bei den Gebäuden, wenn man sich das vorstellt, bis 22 Meter Höhe kann ich ja brennbares Dämmmaterial verwenden, dann halte ich das schon für kritisch. Es gibt die Regeln. Es ist erlaubt. Es gibt Vorschriften dazu. Ich persönlich halte es aber für nicht sinnvoll, wenn nicht sogar gefährlich, und deswegen sollte man das aus meiner Sicht überprüfen.

3 Denn Polystyrol ist immer wieder in Brand geraten. Unterschiedliche Gebäudearten waren betroffen. Die Feuerwehr Frankfurt am Main hat Brände in Deutschland zusammengetragen, die in Verbindung mit Polystyrol stehen. Die Liste ist nur ein Ausschnitt. Trotzdem sind seit 2001 etwa 100 Fälle zusammengekommen. Beispiel Delmenhorst, Juni 2011: Brennende Müllcontainer setzen die Dämmung in Brand. Das Feuer greift auf fünf Häuser über. 22 Wohnungen brennen aus. 200 Menschen müssen in Sicherheit gebracht werden. Beispiel Duisburg, Mai 2016: Über die gedämmte Fassade frisst sich der Brand vom Erdgeschoss bis ins 3. Obergeschoss. 28 Menschen werden verletzt. Eine Mutter und ihre zwei Söhne sterben. Heute klafft eine Lücke zwischen den Häusern. Das Mehrfamilienhaus wurde nach dem Brand abgerissen. Eine Nachbarin erinnert sich an den folgenschweren Brand. O-Ton Nadine Walter, Nachbarin: Wir hatten Gott sei Dank die Balkontür zu, sonst wäre der Qualm wahrscheinlich noch hier reingezogen und wir wären heute nicht mehr. Danach haben wir nur die Stichflamme gesehen und dann sind wir wie gesagt raus, weil wir Angst um unser eigenes Leben hatten. Behörden und Industrie halten Polystyrol für sicher, wenn die Bauvorschriften eingehalten werden. Die sehen sogenannte Brandriegel vor: Brandriegel bestehen aus nicht brennbarer Mineralwolle und sollen ein Feuer an der Fassade stoppen. Vorgeschrieben sind die meist gelben, umlaufenden Streifen bei Wohngebäuden, allerdings erst ab einer Höhe von sieben Metern. Bis 2016 waren die Brandriegel hier gelb in jeder zweiten Etage vorgeschrieben. Brandtests der Bauminister haben gezeigt, dass das nicht ausreicht. Daher müssen seit 2016 mehr Brandsperren verbaut werden. Ein zusätzlicher Brandriegel im Sockelbereich ist seitdem Pflicht. Dazu kommt ein weiterer Riegel unter dem Dach. Alles zusammen soll die Wärmedämmung feuersicher machen. O-Ton Reinhard Eberl-Pacan, Brandschutzingenieur: Diese Wärmedämmverbundsysteme werden in vielen Fällen von Baufirmen aufgebracht. Ich will den gar nicht zu nahe treten, aber ich denke, da ist in der Regel weder ein Architekt beteiligt und schon gar kein Brandschutzexperte. Das heißt, weder in der Planung wird Rücksicht genommen, ob diese Brandriegel, die da erforderlich sind, tatsächlich an den richtigen Stellen gesetzt werden, ob spezielle Gefahren auch richtig geschützt werden und zum anderen, es wird eben auch am Ende nicht abgenommen, tatsächlich von

4 irgendeiner neutralen Person, ob diese ganzen Wärmedämmverbundsysteme auch richtig entsprechend der Regeln umgesetzt worden ist. Zum Altbestand haben die Bauminister der Länder lediglich ein Merkblatt veröffentlicht und empfehlen: Für Brandquellen wie Mülltonen einen Mindestabstand von drei Metern und Putzschäden bedürfen immer einer zeitnahen und fachgerechten Beseitigung. Ein Hamburger Feuerwehrmann zeigt uns die Realität. O-Ton Dirk Hückmann, stellv. Vorsitzender Berufsverband Feuerwehr: Ja also diese Wertstofftonne, die hier in knapp 50 Zentimetern Entfernung von der Wand entfernt steht, entspricht so nicht der bestimmungsgemäßen Lagerung. Wir sehen auch hier vorne wieder eine Beschädigung in der Dämmung. Nur ein Beispiel von vielen. Hier kann ein Feuer leicht in die Dämmung eindringen. O-Ton Reinhard Ries, Leiter Feuerwehrchef Frankfurt am Main, : Wir sind der festen Überzeugung, dass man bei Bestandsbauten nachbessern muss und es mit einem Merkblatt alleine nicht getan ist. Deutscher Wärmeschutztag, heute in Berlin. Eine Lobbyveranstaltung. Es geht um Wärmedämmung und Verantwortung. Brandschutz ist auf dem Podium kein Thema. Wir fragen nach. O-Ton Thomas Bareiß, CDU, MdB, Beauftragter für Energiepolitik der Fraktion: Das was in London passiert ist, ist schrecklich und wir müssen, glaube ich, auch in Deutschland innehalten und schauen, was wir noch bei uns verbessern können. Und dazu zählt sicherlich die Frage, welche Dämmstoffe bei uns eingesetzt werden, wie sie eingesetzt werden und wie sie auch am besten gegen Brände geschützt werden. Ich glaube, das ist ein ganz, ganz wichtiger Anspruch der Politik und deshalb sollten wir durchaus unsere Standards noch einmal überprüfen. Die Stadtverwaltung Delmenhorst hat nach dem Hochhausbrand in London reagiert. Um solche Katastrophen zu verhindern, hat sie ab sofort die Verwendung von Polystyrol als Dämmmaterial an städtischen Gebäuden verboten. Feuerfeste Materialien gibt es längst - sie kosten nur mehr.

5 Abmoderation: Nur Gebäude über 22 Meter Höhe müssen also feuerfest gedämmt werden. Wie will die Politik den Bewohnern eines 21- Meter-Hauses erklären, dass ihre Sicherheit auch eine Kostenfrage ist? Überhaupt: Auf die Frage, warum denn nicht gleich und überall die nichtbrennbare Dämmung eingesetzt wird, haben unsere Reporter nur ausweichende Antworten bekommen. Zur Beachtung: Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt. Der vorliegende Abdruck ist nur zum privaten Gebrauch des Empfängers hergestellt. Jede andere Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtgesetzes ist ohne Zustimmung des Urheberberechtigten unzulässig und strafbar. Insbesondere darf er weder vervielfältigt, verarbeitet oder zu öffentlichen Wiedergaben benutzt werden. Die in den Beiträgen dargestellten Sachverhalte entsprechen dem Stand des jeweiligen Sendetermins.