Basiswissen Kinder- und Jugendpsychiatrie und Entwicklungspsychopathologie. Persönlichkeitsstörungen
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1 Basiswissen Kinder- und Jugendpsychiatrie und Entwicklungspsychopathologie Persönlichkeitsstörungen Dr. Marc Allroggen 31. Mai 2011
2 Persönlichkeit eine Definition (Fiedler, 1995) Summe von charakteristischen Verhaltensweisen und Interaktionsmustern, mit denen der Mensch gesellschaftlich kulturellen Anforderungen und Erwartungen zu entsprechen versucht und seine zwischenmenschlichen Beziehungen auf der Suche nach einer persönlichen Identität mit Sinn zu füllen versucht.
3 Persönlichkeitsstörungen Definition (ICD-10) Eine Persönlichkeitsstörung ist gekennzeichnet durch rigide und wenig angepasste Verhaltensweisen, die eine hohe zeitliche Stabilität aufweisen, die situationsübergreifend auftreten, die zu persönlichem Leid oder gestörter sozialer Funktionsfähigkeit führen. Es handelt sich um ein tief verwurzeltes, anhaltendes Verhaltensmuster mit starren Reaktionen auf unterschiedliche persönliche und soziale Lebenslagen. Betroffen sind Wahrnehmen, Denken, Fühlen und Beziehungen zu anderen. Die Störung beginnt in der Kindheit oder Adoleszenz und dauert bis ins Erwachsenenalter an. Das Stellen der Diagnose einer Persönlichkeitsstörung vor dem Alter von 16 oder 17 Jahren ist wahrscheinlich unangemessen.
4 Persönlichkeitsstörungen Diagnostische Kriterien (ICD-10) 1. Die charakteristischen und dauerhaften inneren Erfahrungsund Verhaltensmuster der Betroffenen weichen insgesamt deutlich von kulturell erwarteten und akzeptierten Vorgaben ab. Diese Abweichung äußert sich in mehreren Bereichen: Kognition, Affektivität, Impulskontrolle und/oder Beziehungsgestaltung 2. Die Abweichung ist so ausgeprägt, dass das daraus resultierende Verhalten in vielen persönlichen und sozialen Situationen unflexibel, unangepasst oder unzweckmäßig ist. 3. Es bestehen persönlicher Leidensdruck oder nachteiliger Einfluss auf die soziale Umwelt. 4. Die Abweichung ist stabil und hat im späten Kindesalter oder der Adoleszenz begonnen. 5. Die Abweichung kann nicht durch das Vorliegen oder die Folge einer anderen psychischen Störung erklärt werden. 6. Eine organische Erkrankung, Verletzung oder deutliche Funktionsstörung des Gehirns müssen als mögliche Ursache ausgeschlossen werden.
5 Häufigkeit von Persönlichkeitsstörungen (nach Schmeck et al., 2009) Allgemeinbevölkerung Klinische Stichprobe Irgendeine PS (Erwachsene) Irgendeine PS (Jugendliche) 5 10 % Bis 50 % % % Paranoide PS 0,4 2,4 % % Schizoide PS 0,5 0,9 % 1,8 % Dissoziale PS 1,5 3,7 % 1,6 18,2 % Emotional-instabile PS 1,3 1,8 % % Histrionische PS 2,1 3 % 4,3 % Zwanghafte PS 1,7 6,4 % 3,6 9 % Selbstunsichere PS 0,4 1,3 % 11 15,2 % Abhängige PS 1,6 6,7 % 4,6 20 %
6 Persönlichkeitsstörungen Cluster A (DSM-IV) Paranoide Persönlichkeitsstörung (ICD-10: F60.1) Empfindlichkeit bei Rückschlägen, Misstrauen, querulatorisches Verhalten, Selbstbezogenheit Vorläufersymptome: Angststörungen Schizoide Persönlichkeitsstörung (ICD-10: F60.2) sozialer Rückzug, emotionale Distanziertheit, übermäßige Inanspruchnahme durch Phantasien, wenig Gespür für soziale Normen Vorläufersymptome: Sprachentwicklungsverzögerung, ausgeprägte Phantasien, Einzelgänger Schizotype Störung (ICD-10: F21) exzentrisches Verhalten, Misstrauen, Wahrnehmungsstörungen, umständliches Denken und Sprechen Vorläufersymptome: Desorganisierte und unkonventionelle verbale Antworten, Probleme in der Aufmerksamkeit, Störungen der Exekutivfunktionen
7 Persönlichkeitsstörungen Cluster C (DSM-IV) Zwanghafte Persönlichkeitsstörung (ICD-10: F60.5) Perfektionismus, Rigidität, übermäßige Gewissenhaftigkeit und Befolgung sozialer Konventionen, ständige Beschäftigung mit Details und Ordnung Vorläufersymptome: Angststörungen Vermeidende Persönlichkeitsstörung (ICD-10: F60.6) dauerndes Gefühl von Besorgtheit, Unsicherheit, Anspannung, Ängste vor sozialen Kontakten und Zurückweisung Vorläufersymptome: Soziale Phobie Abhängige Persönlichkeitsstörung (ICD-10: F60.7) Trennungsängste, Delegation von Entscheidungsverantwortung, Unsicherheit bei Entscheidungen, Ängste, auch angemessene Forderungen zu formulieren Vorläufersymptome:?
8 Persönlichkeitsstörungen Cluster B (DSM-IV) Borderline Persönlichkeitsstörung (ICD-10: F60.31) Instabilität in zwischenmenschlichen Beziehungen, im Selbstbild und in den Affekten, Impulsivität Vorläufersymptome: interpersonelle Schwierigkeiten, Impulsivität, exzessive Angst, gestörte Realitätsüberprüfung und Selbstwahrnehmung, emotionale Instabilität, selbstverletzendes Verhalten, Aufmerksamkeitsstörungen, Störungen des Sozialverhaltens, posttraumatische Störungen Histrionische Persönlichkeitsstörung (ICD-10: F60.4) oberflächliche und labile Affektivität, theatralisches Verhalten, Suggestibilität, Verlangen nach Anerkennung und äußeren Reizen Vorläufersymptome:?
9 Persönlichkeitsstörungen Cluster B (DSM-IV) Narzisstische Persönlichkeitsstörung (ICD-10: F60.80) Gefühl der Großartigkeit, Bedürfnis nach Bewunderung, Mangel an Empathie Vorläufersymptome: aggressives und delinquentes Verhalten Dissoziale Persönlichkeitsstörung (ICD-10: F60.2) Missachtung sozialer Normen und Regeln, geringe Frustrationstoleranz, Reizbarkeit, fehlendes Schuldbewusstsein Vorläufersymptome: Störungen des Sozialverhaltens
10 Borderline Persönlichkeitsstörung Diagnostische Kriterien gemäß DSM-IV Eine tiefgreifende Muster von Instabilität in zwischenmenschlichen Beziehungen, im Selbstbild und in den Affekten sowie von deutlicher Impulsivität. 5 der folgenden 9 Kriterien müssen erfüllt werden: 1. Verzweifeltes Bemühen, tatsächliches oder vermutetes Verlassenwerden zu vermeiden 2. Ein Muster instabiler, aber intensiver zwischenmenschlicher Beziehungen, das durch einen Wechsel zwischen den Extremen Idealisierung und Entwertung gekennzeichnet ist 3. Identitätsstörung: ausgeprägte und andauernde Instabilität des Selbstbildes oder der Selbstwahrnehmung 4. Impulsivität in mindest zwei potenziell selbstschädigenden Bereichen (Geldausgaben, Sexualität, Substanzmissbrauch, rücksichtloses Fahren, Fressanfälle)
11 Borderline Persönlichkeitsstörung Diagnostische Kriterien gemäß DSM-IV 5. Wiederholte suizidale Handlungen, Selbstmordandeutungen oder -drohungen oder Selbstverletzungsverhalten 6. Affektive Instabilität infolge einer ausgeprägten Reaktivität der Stimmung (z. B. hochgradige episodische Dysphorie, Reizbarkeit oder Angst, wobei diese Verstimmung gewöhnlich einige Stunden und nur selten mehr als einige Tage andauern) 7. Chronisches Gefühle von Leere 8. Unangemessene, heftige Wut oder Schwierigkeiten, die Wut zu kontrollieren (z. B. häufige Wutausbrüche, andauernde Wut, wiederholte körperliche Auseinandersetzungen) 9. Vorübergehende, durch Belastungen ausgelöste paranoide Vorstellungen oder schwere dissoziative Symptome
12 Borderline Persönlichkeitsstörung Symptomatik im Jugendalter unzureichender Affektkontrolle mit ausgeprägten Stimmungsschwankungen und überschießenden, situationsunangemessenen affektiven Reaktionen mangelnde Differenzierungsfähigkeit zwischen Affekten Konflikte zwischen Bedürfnis nach Autonomie und Wünschen nach Nähe (Wechsel zwischen extremen Bindungswünschen und abrupten Beziehungsabbrüchen) impulsives Verhalten (promiskuitives Verhalten, suizidale und selbstverletzende Handlungen, exzessiver Alkohol- und Drogenkonsum) Dissoziative Symptomatik Identitätsdiffusion / Störungen der Geschlechtsidentität
13 Persönlichkeitsstörungen - Risikofaktoren (Tacket et al., 2009) genetische Ursachen, angeborene Temperamentsfaktoren (Torgersen et al., 2000) pränatale Alkohol- und Drogenexposition (Mick et al., 2002) Ungünstige frühe psychosoziale Lebensumstände wie körperliche Misshandlung oder sexueller Missbrauch (Johnson et al., 1999), Vernachlässigung oder dysfunktionale familiäre Kommunikationsstrukturen (James et al., 1996) Niedriger soziökonomischer Status, alleinerziehende Eltern, elterliche Erkrankungen, Substanzmissbrauch Eltern, kriminelles Verhalten der Eltern
14 Persönlichkeitsstörungen Entstehungsmodell (Beauchaine et al., 2009)
15 Persönlichkeitsstörungen - Entstehungsmodell Als ursächlich für die Entstehung von PS kann die Interaktion von psychosozialen Belastungsfaktoren wie Vernachlässigung, Misshandlung, sexueller Missbrauch und einer unempathischen Erziehungshaltung (Cohen et al., 2005; Guzder et al., 1996; Johnson et al., 2001) mit genetisch bedingten Temperamentsfaktoren (Paris, 2003) angesehen werden. Aufgrund daraus resultierender dysfunktionaler Bewältigungsmechanismen (z. B. Störungen der Affektregulation, der Impulskontrolle und der Beziehungsfähigkeit) können Entwicklungsaufgaben und Krisen nicht mehr bewältigt werden, so dass es zu Störungen in der Selbstregulation, aber auch der Regulation von Beziehungen kommt. Bei einer anhaltenden Überforderung kommt es dann aufgrund der eingeschränkten Handlungs- und Verarbeitungsmöglichkeiten zu immer rigideren Reaktionen auf Belastungen, so dass sich eine PS manifestieren kann (Schmeck & Schlüter-Müller, 2009).
16 Persönlichkeitsstörungen Entwicklungsperspektive und Kontroverse Beginn der Störung in der Kindheit aber Manifestation der Symptomatik erst in der späten Adoleszenz oder im frühen Erwachsenenalter Oft schwere und beeinträchtigende Symptomatik aber schwierige Abgrenzung von anderen psychischen Störungen und vorübergehenden Krisen Geringe Stabilität der kategorialen Diagnose aber oft anhaltende Schwierigkeiten in der Beziehungsgestaltung und häufig langfristige Folgen aufgrund der fehlenden Bewältigung von Entwicklungsaufgaben
17 Aus: Gunderson, 2009
18 Carlson et al., 2009
19 Borderline Persönlichkeitsstörung - Komorbidität Essstörungen (Bulimie, BED) Alkohol- und Drogenmissbrauch Affektive Störungen, insbesondere Depressionen Posttraumatische Belastungsstörungen
20 Therapie Allgemeine Prinzipien Probleme in der Beziehungsgestaltung und beim Aufrechterhalten von Beziehungen: Tragfähige therapeutische Beziehung Tiefgreifende Problematik, viele Bereiche umfassend: Langfristig angelegte Behandlung Oft bunte, wechselnde Symptomatik: Klarer Behandlungsfokus Neigung zu Krisen, erhebliche Widerstände, Identitätsdiffusion: Aktiver und strukturierender Ansatz
21 Borderline Persönlichkeitsstörung - Behandlungsziele 1. Verbesserung der Emotionsregulation, Spannungstoleranz und Impulsivität 2. Verarbeitung traumatischer Beziehungserfahrung 3. Alltagsbewältigung (stationär)
22 Borderline Persönlichkeitsstörung - Behandlungsansätze Psychoedukation Vermittlung von Stärken und Schwächen des Persönlichkeitsstils, Vermittlung von Modellen zur Entstehung der Störung, Vermittlung der subjektiven Sinnhaftigkeit der Symptomatik aus der Lebensgeschichte heraus und der aktuellen Dysfunktionalität der Symptomatik Behaviorale Ansätze (z. B. Dialektisch-behaviorale Therapie DBT) (Linehan, 1989) Vermittlung von Fertigkeiten zur Stresstoleranz und Spannungsreduktion, zur Affektreduktion, zur Verbesserung der sozialen Kompetenz und der inneren Achtsamkeit (frühzeitiges Wahrnehmen inneren Erlebens)
23 Borderline Persönlichkeitsstörung - Behandlungsansätze Psychodynamische Ansätze (Übertragungsfokussierte Psychotherapie TFP) (Clarkin et al., 2001) Bearbeitung der Schwierigkeiten der Patienten als unbewusste Wiederholung im Hier und Jetzt der therapeutischen Beziehung, d. h. frühe, traumatisierende Beziehungserfahrungen werden in der therapeutischen Beziehung wiederbelebt und könne so bearbeitet werden (Übertragungsanalyse) Mentalisierungs-basierte Therapie MBT (Fonagy & Target, 2006) Die MBT zielt in ihren Interventionen primär auf Affekte, weniger auf das Verhalten, die möglichst bewusstseinsnah sind. Der Patient soll dabei unterstützt werden, eigene und damit auch fremde Affekte besser wahrzunehmen.
24 Danke für Ihre Aufmerksamkeit
25
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