Evangelische Heilige: Huldrych Zwingli - der radikale Mystiker
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- Rüdiger Kruse
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1 Evangelisch-reformierte Kirchgemeinde Zürich Unterstrass Roland Wuillemin Pfarrer Dr. theol. Turnerstrasse Zürich Telefon Evangelische Heilige: Huldrych Zwingli - der radikale Mystiker Kirche Unterstrass, 21. Juli 2013 Roland Wuillemin, Pfarrer (Der Gottesdienst wurde frei gehalten. Dieser Text ist eine Transkription der Tonaufnahme und darum in seinem Charakter als Rede erhalten.) Einleitung: Als ich vor über 10 Jahren nach Zürich kam, war ich ein bisschen überrascht. Von Zwingli wird hier nicht sehr positiv gesprochen. Wen man jemandem sagt, er sei ein Zwinglianer, dann ist das meistens kein Kompliment. Es ist wirklich überraschend, wie wenig man Zwingli kennt in Zürich! Er ist fast nur noch zur Negativfolie geworden. Ich weiss nicht, ob ich heute Morgen daran etwas ändern kann. Ich kann auch nicht als Zwingli-Spezialist auftreten. Ich möchte Ihnen einfach ein paar Gedanken aus einem besonderes Blickwinkel mitteilen. Beim Lesen von Zwinglitexten ist mir aufgefallen, dass Zwingli auch so etwas wie eine mystische Seite hat: Zwingli als Mystiker! Bibeltext: aus Apostelgeschichte 17,22ff Predigt des Paulus auf dem Areopag: "Der Gott, der die Welt geschaffen hat und alles, was darin ist, wohnt nicht in Tempeln, die von Menschenhand gemacht sind, er lässt sich auch nicht von Menschenhänden dienen, als ob er etwas nötig hätte; er ist es ja, der allen Leben und Atem und überhaupt alles gibt. Gott ist jedem einzelnen unter uns nicht fern. In ihm nämlich leben, weben und sind wir, wie auch einige eurer Dichter gesagt haben: Ja, wir sind von seinem Geschlecht."
2 Predigt: Wir haben in der Lesung diesen Text aus der Apostelgeschichte gehört. Lukas berichtet davon, wie Paulus auf dem Areopag in Athen zu den Menschen spricht. Ich habe diesen Text ausgewählt, weil ich eine nahe Verwandtschaft sehe mit dem, was ich bei Zwingli gefunden habe. Lukas verwendet hier die Figur des Paulus um zu sagen, was ihm wichtig ist. Vielleicht erweist sich Lukas damit als Zwinglianer, sozusagen als Frühzwinglianer! Der lukanische Paulus kennt ein paar Sätze aus der griechischen Philosophie und zitiert sie: "In ihm nämlich leben, weben und sind wir, wie auch einige eurer Dichter gesagt haben: Ja, wir sind von göttlichem Geschlecht." Ja, die lieben Griechen! Da sind wir bereits bei Zwingli. Auch Zwingli schätze die Griechen sehr. Er hat sich sehr mit der antiken Philosophie beschäftigt. In seinen Schriften wird neben der Bibel auch immer wieder auf Plato und andere Griechen verwiesen. Ja, Zwingli war ein Mensch der Renaissance, viel mehr als zum Beispiel Luther. Zwingli war ja in Italien und hat dort die Ambience der Renaissance mitbekommen. Ja, was ist denn nun die Mystik bei Zwingli? Es kumuliert für mich in diesem Satz: (Zwingli, die Vorsehung, 1530) Man findet diesen Satz in einer der Hauptschriften von Zwingli, die lateinisch geschrieben ist, mit dem deutschen Titel "Die Vorsehung". Ja, das ist überraschend, ein Satz wie dieser von einem Reformator! Gott wird hier als das Sein selbst vorgestellt: Alles was ist, lebt in Gott und durch Gott. Es gibt eigentlich gar nichts, was nicht Gott ist. Ich denke dieser Satz ist eine zentrale Aussage auch bei vielen anderen Mystikern. Gott ist die alles bestimmende Wirklichkeit. Es gibt keinen Winkel dieser Welt, der nicht vom Göttlichen durchdrungen ist. Gott selbst ist das Sein, das allem die Existenz gibt. Das kommt mir in diesem Satz von Zwingli entgegen. Ähnliche Aussagen finden wir zum Beispiel bei Seuse: Gott hat kein WO, er ist ganz in ALLEM. (Heinrich Seuse ) Nach diesem Satz muss man sich nicht fragen, wo Gott denn eigentlich sei. Denn er ist als Ganzes in allem da. Man muss Gott nicht suchen, weil er immer schon da ist. Auch ein anderer Satz von Seuse finde ich sehr schön: Ich schwimme in der Gottheit, wie ein Adler in der Luft. Wir sind ganz von Gott umgeben. Ich fliege wie ein Adler in Gott selbst. Unten, oben, rechts, links - überall ist Gott. Er trägt uns auf unserem Flug durchs Leben. Wenn wir weitergehen, kommen wir zu Meister Eckhart. Ich glaube, er hat eine ähnliche Theologie: Manche einfältigen Leute wähnen, sie sollten Gott so sehen, als stünde er dort und sie hier. Dem ist nicht so. Gott und ich, wir sind eins. (Meister Eckhart ) Ja, dieser Satz geht noch weiter als das Bild von Seuse. Gott selbst macht unser Wesen aus. Die Grenzen zwischen uns und Gott verschwinden in diesem Satz. Seite 2 von 5
3 Nicht vergebens hatte die damalige Kirche Mühe mit solchen Aussagen. Meister Eckhart ist dann früh genug gestorben, so dass die Kirche sein Ableben nicht mit einem Ketzerprozess selbst in die Hand nehmen konnte... Ja, Gott ist nicht etwas ausserhalb von uns. Er ist nicht dort und wir hier. Nach Meister Eckhart sind das einfältige Leute, die solches glauben. Nein, Gott ist das Sein selbst, mitten in uns. Zurück zu Zwingli. Wenn wir diesen Satz von Zwingli wieder anschauen, dann spüren Sie sicher die Verwandtschaft. Hier sind wirklich Gedanken der Mystik aufgenommen. Gott als Wirklichkeit, die alles umfasst. Wir sind in Gott, wie ein Tropfen Wasser im Meer. Und darum habe ich für mich mal das Experiment gemacht und Zwingli das Gewandt des Mystikers angezogen. Macht das Sinn? Erklärt das andere Ideen und Gedanken von Zwingli? Ja, ich glaube, es gibt da Dinge, die sich klären, wenn man Zwingli von diesem Satz her versteht. Bei vielen Religionen wird unterschieden zwischen heilig und profan. Das ist fast das Lebenselixier von vielen religiösen Traditionen: dass es eine Grenze gibt, zwischen dem, was heilig und profan ist. Eine Grenze zwischen dem, was Kirche und Welt ist. Zwingli hat diese Grenze aufgehoben, zusammen mit anderen Mystikern. Die Trennungen sind weg. Kirche und Welt sind nicht zwei verschiedene Dinge. Sie fliessen zusammen. Arbeit und Gottesdienst sind nicht zwei verschiedene Dinge. Sie sind zwei Aspekte desselben. Sonntag und Werktag kann man nicht mehr trennen. Pfarrer und Gemeindeglieder kann man nicht mehr trennen. Priester und Laien: es ist dasselbe. Ja, ich glaube die Zürcher Reformation lebt von dieser Aufhebung von heilig und profan. Für mich ist das der Schlüssel geworden, um die Reformation in Zürich zu verstehen. Das Heilige wird nicht mehr nur in der Kirche, in einem Raum gesehen. Sondern es wird alles heilig, weil das Göttliche alles durchdringt. (Kleine Nebenbemerkung: in der Geschichte des evangelischen Glaubens hat das dann manchmal auch dazu geführt, dass nichts mehr heilig ist. Wenn alles heilig ist, ist dann manchmal der Schritt zur Säkularisierung nicht mehr weit.) Ja, wenn alles vom Göttliches durchdrungen ist, dann braucht es in der Kirche auch keine Heiligenbilder mehr. Die Bilder in der Kirche wollten ja zur Zeit Zwinglis etwas Heiliges in der Kirche verkörpern. Wenn man den Satz Zwinglis ernst nimmt, dann gibt es keine Heiligen und Unheilgen mehr. Und dann muss man die Bilder rausstellen. Die Bilder versuchten, das Heilige zu lokaliseren. Aber das kann man gar nicht, weil das Göttliche überall ist. Zwingli hat die Musik in der Kirche abgeschafft. Wahrscheinlich war das ein Fehlentscheid. Aber vom Satz Zwinglis her machte es damals Sinn. Die Musik war ein Mittel, um eine heilige Sphäre zu erzeugen. Um den Unterschied zwischen heilig und profan musikalisch darzustellen. Aber wenn man den Satz Zwinglis ernst Seite 3 von 5
4 nimmt, dann kann man das gar nicht. Heilige Gesänge sind nicht heiliger als alle andere Musik. Weil Gott in jedem Ton mitschwingt. In diesem Sinn gibt es keine Kirchenmusik. Es gibt keine religiöse Musik. Es gibt nur Musik. Und die ist - wie alles andere auch - heilig. Ja, Gott erklingt in jedem Ton. Und darum braucht es keine heilige Musik. Auch wenn wir zum Abendmahl kommen. Von diesem Satz her ist der Streit zwischen Zwingli und Luther verständlich. Luther wollte daran festhalten, dass das Brot im Abendmahl der Leib Christi ist. Für Zwingli war es ein Symbol. Von Satz Zwinglis her ist es klar, dass man kein Stück Brot als besonders heilig, als Leib Christi bezeichnen kann. Denn der Leib Christ, das Göttliche, ist in jedem Stück Brot. Auch in dem, das wir im Fondue drehen... Der Kelch des Abendmahls enthält für Zwingli nicht mehr das Blut Christi, als das Glas, aus dem wir am Abend einen Schluck Wein trinken. Nein, nach Zwingli ist in jedem Schluck Wein die Glut Gottes drin. Darum braucht man beim Abendmahl nicht eine Sonderwelt zu zelebrieren. Sondern man macht einfach das, was man immer macht: man teilt ein Stück Brot und trinkt einen Schluck Wein. Dieses ganz Alltägliche ist heilig. Weil Gott in allem ist, was geschieht. In jedem Stück Brot, das wir teilen, ist Gott da, auch wenn es nicht in der Kirche geschieht. Das Heilige kann auch nicht durch gute Taten herbeigebracht werden. Die Reformation hat einige gute Taten hervorgebracht. Zum Beispiel wurde in Zürich während der Reformation der Sozialstaat erfunden: Die Armen mussten nicht mehr Betteln, um zu Essen zu kriegen, sondern sie hatten ein Recht, verpflegt zu werden. Der sogenannte Mushafen: Da wurde täglich das Essen ausgegeben. Damit sollte nicht das Heilige zelebriert werden, sondern einfach ernst damit gemacht werden, dass Gott in allen Menschen wohnt und darum Hunger etwas Unmenschliches, dass heisst Ungöttliches ist. Die guten Werke sind nicht etwas, um mehr Heiligkeit zu erlangen, sondern die Heiligkeit des Menschen, die einfach gegeben ist, ruft sie hervor. Die Zürcher Reformation war eine Bewegung der Reduktion. Man hat vieles weggelassen, man hat die Kirchen leer geräumt, hat viele Rituale aufgegeben, die Kloster aufgehoben. Eine Spiritualität der radikalen Reduktion! Auch hier gibt es eine starke Verwandtschaft mit vielen Mystikern. Mystik heisst ja leer werden. All das loslassen, was einem sonst so wichtig erscheint. Mit leeren Händen da stehen. Eine ganz schlichte, leer geräumte reformierte Kirche ist Mystik in Architektur umgesetzt. Ist jetzt Zwingli wirklich ein Mystiker? Passt dieses Gewandt für ihn? Ganz sicher kann ich es nicht sagen. Ich habe ja nicht mit ihm sprechen können. Es gibt sicher Aspekte von Zwingli, die nicht in diese Schublade passen. Aber ich finde, es gibt einen Blick frei auf Zwingli, der bedenkenswert ist. Zum Schluss möchte ich Ihnen noch kurz darlegen, was das für mich selbst bedeutet, für mein Erleben, meine Spiritualität: Seite 4 von 5
5 Ich erlebe unsere heutige Zeit, auch mich selbst, oft so, dass ich nicht recht weiss, wo Gott ist. Die Selbstverständlichkeit des Religiösen von früher ist verlorengegangen. Viele Menschen möchten glauben, aber sie wissen nicht so recht wie. Was glauben wir eigentlich? Wer ist Gott für uns? Für mich ist dieser Satz von Zwingli eine grosse Hilfe. Dieser Satz gibt mir nicht ein Bekenntnis und nicht ein Katechismus in die Hand. Dieser Satz ermutigt mich wahrzunehmen, dass ich Gott gar nicht mehr suchen muss. Weil er immer schon da ist. Dass in meiner Sehnsucht, die ich manchmal spüre, mehr von Gott da ist, als in festen Antworten. Ja, das ist für mich eine grosse Befreiung: Gott ist immer schon da. Im meinem Schicksal, auf meinem Lebensweg, auf dem Lebensweg alles Menschen. Er ist da, in allem, was ich gut kann. Aber auch in dem, was weniger gut ist. Er ist da, auch in meiner Verletzlichkeit, in meiner Bedürftigkeit. Ja, Gott durchringt alles. Er ist das Sein aller Dinge. Und da komme ich dann auf die Frage, auf die viele Mystiker kommen: Wenn Gott in allem Sein ist, ist er dann auch im Leid? Ist Gott auch in den Waffen, mit denen sie sich in Syrien bekriegen? Ist Gott auch in den Folterkellern? Dieser Satz führt dann auch in eine Tiefe, wo noch weniger Antworten sind, sondern noch mehr Fragen. Dieser Satz ist aber für mich vor allem Ermutigung. Es gibt keinen Ort dieser Welt, der gottlos ist. Es gibt keine Situation, die nicht durchdrungen wäre, vom Göttlichen. Ja, nach diesem Satz ist Gott nicht etwas Fremdes. Er ist der Atem in uns. Er ist unser Pulsschlag. Er ist alles in allem. In ihm leben, weben und sind wir, wie es Lukas ausdrückt. Amen Gebet Gott du bist uns nahe. Manchmal suchen wir dich im Himmel. Und dann merken wir, dass du mitten unter uns bist: In der Hand, die uns stützt, im Herzen, das uns liebt. Gott, manchmal können wir nicht beten. Doch dann spüren wir, dass unsere Sehnsucht ein Gebet ist. Gott, manchmal fehlen uns die Worte, um den Glauben an dich auszudrücken. Und dann merken wir, dass Du die Stille bist hinter allen Worten. Gott, manchmal suchen wir dich in Kirchen und Tempeln. Und dann merken wir, dass du schon da bist: Im Lächeln eines Kindes, in jedem Herz, das schlägt. Gott, hilf uns immer wieder, dich nicht im Jenseits zu suchen, sondern zu spüren, dass du da bist, mitten unter uns. Amen Seite 5 von 5
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