Renate Hartwig Autorin und Publizistin. Haus- und Facharztverträge und die Fallen im Kleingedruckten!
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- Judith Zimmermann
- vor 6 Jahren
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1 Renate Hartwig Autorin und Publizistin Haus- und Facharztverträge und die Fallen im Kleingedruckten! Im Jahr 2011 bekam ich fast 5000 Vollmachten von AOK Mitgliedern aus Bayern, damit sollte ich recherchieren, wie sie Spielball zwischen Ärzten, deren Funktionäre und den Kassen wurden. Die Klärung geht nur mit Rechtsanwälten. Bis heute sind Klagen wegen diesen Verträgen in den bayerischen Sozialgerichten anhängig. Hier ein Fallbeispiel über ein Ehepaar mit 2 erwachsenen Söhnen, alle vier selbst versichert, die durch massive Werbung ihrer Ärztin sich in den Hausarztvertrag eingeschrieben haben. Über viele Jahre waren sie in ein und derselben Kasse. An einen Kassenwechsel hat niemand gedacht. Bis die Hausärztin der ganzen Familie einen solchen Wechsel dringend ans Herz legte. Argumentativ wurden alle Schubladen gezogen. Ohne den Vertrag sei die ärztliche Versorgung nicht mehr aufrecht zu erhalten. Die AOK wurde innerhalb Wochen nach Vertragsabschluss zum Hausarztvertrag bei der Ärzteschaft von der schlechtesten zur Vorzeigekasse. Es lag natürlich am Honorar, was die plötzlichen Lobhudelei der Ärzte antrieb. Wenn Patienten die Argumente, dem Vertrag beizutreten, nicht überzeugten, wurden die Ärzte mitunter auch aggressiv und warnten, dass dies eine Verletzung des Vertrauensverhältnisses wäre. Sätze wie: Wenn Sie jetzt nicht unterschreiben, können Sie sich einen neuen Hausarzt suchen! sind keine Einzelfälle. So wurden allein in Bayern rasant 2,7 Millionen goldene Skalps in den Hausarztvertrag eingeschrieben r.hartwig@t-online.de
2 Seite 2 September 10, 2014 Familie B. wurde massiv bedrängt, gelockt mit besserer Versorgung, keine Wartezeiten. Mit dem Wegfall der Praxisgebühr wurde der Joker Ersparnis angesprochen. Vor allem musste es schnell gehen. Um das höhere Honorar im Folgequartal auf dem Konto der Ärztin sichtbar zu machen, mussten Termine eingehalten werden. An einem Freitag kam bei Familie B. sogar ein Anruf der AOK man warte auf die Unterlagen zum Kassenwechsel damit die Einschreibung in den Vertrag vollzogen werden kann! Frau Doktor hat dies bei der Kasse angekündigt. Natürlich war es möglich, der Kasse auch, die unterschriebenen Unterlagen vorab per Fax zu übermitteln! Gewinner in diesem Vertragspoker sind die Ärzte durch das mehr an Honorar pro Patient und Quartal und in dem Fallbeispiel die AOK Bayern. Denn alle Familienmitglieder der Familie B. sind Chroniker und deshalb als Geldfluss aus dem Gesundheitsfonds für die Kasse lukrativ. Die AOK wollte natürlich durch diesen Vertrag auch ein Mehr an Gewinn. Das klappte in Bayern auf der einen Seite durch die Werbung der Ärzte für die AOK, die in der Umsetzung, durchaus vergleichbar mit einer Drückerkolonne war. Aber die Kasse brauchte auch bessere Mitglieder. Zum Hintergrund: Seit 2009 gibt es in Deutschland den Gesundheitsfonds. Die Finanzierung der Krankenkassen wurde komplett renoviert. Kassen mit älteren und kränkeren Mitgliedern bekommen seitdem mehr Geld. Goldene Skalps sind also die, die eine Krankheit haben, die vom Gesundheitsfonds gut bezahlt wird. Die niedergelassenen Ärzte müssen dazu Diagnosen codieren. Das hat nichts mit den Ziffern der Abrechnung für die Kassenärztliche Vereinigung zu tun. Der Hausarzt übermittelt codierte Diagnosen, nach deren Schweregrad sich richtet, wie viel Geld die Krankenkasse für diesen Patienten aus dem Gesundheitsfonds bekommt.
3 Seite 3 September 10, 2014 Auch die Diagnose «Diabetes» allein ist noch nicht sonderlich gewinnbringend. Lukrativ für die Kassen wird es dagegen, wenn ein Diabetes mellitus zum Beispiel mit unterschiedlichen Komplikationen codiert wird. «In die Tiefe codieren» wird das genannt. Nach dem Prinzip «Eine Hand wäscht die andere, selbst wenn sie dreckig ist» erlebte ich, wie mit einer Selbstverständlichkeit sehr wohlwollend codiert worden ist. Nicht nur ein Arzt berichtete mir, dass genau an solchen Möglichkeiten wie Codieren oder über Programme wie das Disease-Management-Programm (DMP) von Ärzteseite je nach Honorarsituation Druck auf die Kassen ausgeübt, aber auch Dankbarkeit gegenüber den Kassen gezeigt werden kann. Beim DMP geht es um Behandlungsprogramme für chronisch Kranke, die auch Chronikerprogramme genannt werden. Es geht um die organisierte Steuerung von chronisch kranken Patienten und kommt aus den USA. Wichtig dabei ist: Es geht auch hier hauptsächlich um den Geldfluss. Die Kassen bekommen für jeden DMP- eingeschriebenen Patienten ein sattes Mehr aus dem Gesundheitsfonds. Ärzte können eine Einschreibepauschale von 25 Euro und eine Folgedokumentpauschale von 15 Euro pro Quartal abrechnen. Da gibt es Ärzte, die sagten mir, sie machten in ihrer Praxis viel DMP, weil Kleinvieh auch Mist mache. Und schon wird ein neues Fass aufgemacht, auf dem groß als Priorität Geldfluss steht! Patienten bekommen nach der Diagnose, ein Chroniker zu sein, von ihren Kassen Briefe, sich unbedingt in das DMP-Programm einschreiben zu lassen. Es sei wichtig wegen ihrer chronischen Erkrankung, und die Kasse wolle sie doch bestens begleitet wissen. Wirklich? Fehlt da nicht noch ein Satz?
4 Seite 4 September 10, 2014 Lieber Patient, du bist für mich, deine Krankenkasse, ein Ventil am großen Geldtopf Gesundheitsfonds. Also bitte schnellstens einschreiben, damit sich dieses Ventil öffnet. Und nun steht er da, der chronisch Erkrankte mit seinem Diabetes, seiner koronaren Herzkrankheit, seinem Asthma, seiner obstruktiven Lungenerkrankung, als Spielball im Honorarkrieg zwischen dem Arzt und der Kasse. Der Druck von Ärzteseite entsteht gegenüber den Kassen, wenn Ärzte sich weigern, beim DMP mitzumachen und Chroniker einzuschreiben. Erlebt habe ich, wie Ärztefunktionäre vor Honorarverhandlungen die Ärzte zu solchen kollektiven Verweigerungsmaßnahmen, übrigens erfolgreich, geraten haben. Kleiner Einblick aus einem solchen Brief an die Ärzteschaft gefällig? (..) Es ist z. B. ein großer Unterschied, ob Sie nur die Diagnose Diabetes oder ob Sie die Diagnose Diabetes mit Retinopathie codieren. Wir werden die AOK erst dann unterstützen, wenn ein Hausarztvertrag nach 73b neu mit uns unterzeichnet ist. [ ] Eine Zusammenarbeit mit der AOK wird es erst nach Abschluss eines Hausarztvertrages geben. [ ]» Nach der Vertragsunterzeichnung klang es in dem Rundschreiben der Funktionäre an alle Hausärztinnen und Hausärzte, völlig anders. Jetzt wurde dieselbe AOK als Retter der Hausärzteschaft bejubelt. Auszug: Liebe Kolleginnen und Kollegen, die AOK Bayern sichert das Überleben der Hausarzt-Praxen! Die AOK hat mit uns folgenden Vertrag geschlossen: Quartal 1/2009 [ ] wir können Ihnen nur empfehlen, alle bisher noch nicht eingeschriebenen AOK-Patienten noch im Quartal 1/2009 einzuschreiben. Als Gegenleistung für das Entgegenkommen
5 Seite 5 September 10, 2014 der AOK bitten wir Sie nochmals, eine entsprechende Codierung bei den AOK-Patienten vorzunehmen. Nur eine AOK, die entsprechende Zuweisungen über den Risikostrukturausgleich erhält, kann diesen Vertrag auf Dauer bedienen. (..) Wir werden diesen Vertrag den Ersatzkassen und den Betriebskrankenkassen mit der Bitte um Unterschrift zuleiten. Sollten sich diese verweigern, sähen wir keine Möglichkeit mehr, deren Versicherte auf Dauer außer im Notfall zu behandeln. [ ] So gesehen, kann das Codiersystem im Gegenzug ein Dank vonseiten der Ärzteschaft für gute Honorierung sein. Natürlich verlassen sich Kassen nicht darauf und haken teilweise sehr intensiv in den Praxen nach. Nicht vergessen, egal, was hier an Fakten dokumentiert wird, es geht immer darum, den Geldfluss am Laufen zu halten. Der kranke Patient ist bei dem gekauften Arzt und den Kassen das Produkt, ohne den es (wohl dummerweise) nicht funktioniert. Renate Hartwig 8.September 2014
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