Arbeitsgemeinschaft zum Schuldrecht, allgemeiner Teil im SS 2006 Beatrice Brunner, Thomas Habbe, Henry Posselt
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1 Fall 6 b: Fragile. Gieslinde (G) bestellt bei dem Getränkehändler Siggi (S) für ihr Restaurant in der Brandenburger Straße in Potsdam drei Kisten Rotwein zum Preis von 100. G bittet S, dessen Geschäft sich ebenfalls in Potsdam in der Großbeerenstraße befindet, die Flaschen in ihr Restaurant zu liefern. S gibt Ware normalerweise nur in seinem Ladengeschäft aus, erklärt sich aber zur Lieferung bereit, weil er G nicht als Kundin verlieren will. Mit dem Transport beauftragt er seinen Angestellten Fritz (F). Auf dem Weg zu G kollidiert F mit einem anderen Fahrzeug, weil F infolge leichter Unachtsamkeit eine rote Ampel übersieht. Bei dem Unfall werden die drei Kisten Wein zerstört. Als G nach dem Verbleib des Weines fragt, klärt S die G über die Geschehnisse auf. G meint, der Unfall sei zwar tragisch, gehe sie aber nichts an und besteht auf die Lieferung. S ist erbost und denkt gar nicht daran, neuen Wein zu liefern. Er verlangt von G stattdessen Bezahlung der vereinbarten 100. Schließlich habe er den Transport ja nur auf Bitten der G übernommen. 1. Hat G einen Anspruch auf Lieferung von drei Kisten des vereinbarten Rotweins? 2. Hat S einen Anspruch auf Bezahlung der zerstörten Weinflaschen? Bearbeiter: Henry Posselt 1
2 In Betracht kommt ein Anspruch G gegen S auf Lieferung von drei Kisten Rotwein aus 433 Abs. 1 BGB. I. Anspruch entstanden Plus: G und S haben einen wirksamen Kaufvertrag geschlossen. II. Anspruch untergegangen In Betracht kommt ein Ausschluss gemäß 275 Abs. 1 Var. 2 BGB. Ob S noch leisten kann, hängt davon ab, ob es sich um eine Gattungs- oder Stückschuld handelt. 1) Gattungsschuld Ursprünglich handelte es sich um eine Gattungsschuld gemäß 243 Abs. 1, und S hat noch von dem vereinbarten Wein (gegenteilige Anhaltspunkte sind nicht ersichtlich). Bei der Gattungsschuld tritt nur Unmöglichkeit ein, falls die gesamte Gattung untergeht; S hat noch von dem vereinbarten Wein. Ferner ist auch keine Vorratsschuld zw. G und S vereinbart, die untergegangen sein könnte. S müsste daher noch leisten. 2) Stückschuld Aus der Gattungsschuld könnte aber durch Konkretisierung eine Stückschuld geworden sein, 243 Abs. 2 BGB. Konkretisierung tritt ein, wenn der Schuldner das seinerseits Erforderliche getan hat, 243 Abs. 2 BGB. Was S tun muss, hängt davon ab, ob es sich um eine Hol-, Bringoder Schickschuld handelt. a) Schickschuld Hier kommt eine Schickschuld in Betracht. Bei der Schickschuld liegt der Leistungsort beim Schuldner, der Erfolgsort hingegen beim Gläubiger. aa) bb) cc) Leistungsort Der Leistungs- oder Erfüllungsort ist der Ort, an dem der Schuldner die Leistungshandlungen vornehmen soll. Bei der Festlegung des Leistungsorts werden die Gefahren des Transports verteilt; das sind vor allem die Verlust- und die Verzögerungsgefahr. S hat sich zwar zur Lieferung bereit erklärt; da dies aber nur ausnahmsweise geschieht, kann hieraus nicht auf die Übernahme des Transportrisikos geschlossen werden, 133, 157 BGB. Es greift daher die Zweifelsregelung von 269 BGB. 269 BGB meint zwar die kleinste politische Einheit, also die Gemeinde und die Geschäfte von G und S befinden sich in Potsdam, also am gleichen Ort; allerdings gilt 269 BGB entsprechend für Leistungsstellen (hier die Geschäftssitze) innerhalb eines Ortes (so genanntes Platzgeschäft). Leistungsort ist das Geschäft des S. Erfolgsort Der Erfolgsort ist der Ort, an dem der Leistungserfolg (Erfüllung bei G) eintreten soll. G soll die Weinkisten in ihrem Restaurant übernehmen. Dort liegt der Erfolgsort. Zwischenergebnis S und G haben eine Schickschuld vereinbart. b) Das Erforderliche Getan Plus: Bei der Schickschuld muss der Schuldner die Ware aussondern und einer geeigneten Transportperson übergeben. S hat die Weinflaschen mittlerer Art und Güte ausgesondert und F, einer Transportperson, die mangels entgegenstehender Anhaltspunkte auch zuverlässig war, übergeben. Dass F Angestellter des S ist, hindert noch nicht die Bearbeiter: Henry Posselt 2
3 Annahme, dass F keine Transportperson sei. Externe Transportpersonen sind nicht erforderlich. c) Zwischenergebnis Konkretisierung nach 243 Abs. 2 ist eingetreten; aus der Gattungs- ist eine Stückschuld geworden. 3) Unmöglichkeit Plus: Bei einer Stückschuld tritt Unmöglichkeit gemäß 275 Abs. 1 Var. 2 BGB ein, wenn der Leistungsgegenstand untergeht; die drei Kisten, auf die sich die Schuld konkretisiert hat, gibt es nicht mehr. III. Ergebnis Der Lieferanspruch der G gegen S aus 433 Abs. 1 BGB ist gemäß 275 Abs. 1 Var. 2 BGB ausgeschlossen. Frage 2 In Betracht kommt ein Anspruch S gegen G auf Zahlung des Kaufpreises in Höhe von 100 aus 433 Abs. 2 BGB. I. Anspruch entstanden Plus: S und G haben einen Kaufvertrag geschlossen. II. Anspruch untergegangen In Betracht kommt ein Entfallen gemäß 326 Abs. 1 S. 1 BGB. 1) Synallagma Plus: Die Pflicht zur Zahlung des Kaufpreises steht beim Kaufvertrag im Synallagma mit der Verpflichtung zu Übergabe und Übereignung aus 433 Abs. 1 BGB. 2) Unmöglichkeit der anderen Hauptleistungspflicht Plus, siehe oben. 3) Kein Ausschluss Die Ausnahmeregelungen des 326 Abs. 2 sind vorliegend nicht einschlägig; da es sich um einen Kaufvertrag handelt, kommt aber ein Fortbestehen der Zahlungsverpflichtung wegen Gefahrübergangs beim Versendungskauf in Betracht, 447 Abs. 1 BGB. Nach 447 Abs. 1 BGB geht in den Fällen des Versendungskaufs (= Schickschuld) abweichend von 326 Abs. 1 BGB schon mit der Übergabe der Sache an die Transportperson die (Preis-)Gefahr auf den Käufer über. Liegen daher die Voraussetzungen des 447 Abs. 1 BGB vor, bleibt der Anspruch des S gegen G auf Zahlung des Kaufpreises erhalten, obwohl G den Wein nicht erhält. Ein Rücktritt der G nach 326 V BGB muss in diesem Fall wegen teleologischer Reduktion der Vorschrift ausgeschlossen sein, soll nicht die Gefahrtragungsregel des 447 Abs. 1 BGB völlig leer laufen. a) Anwendungsbereich Plus: 447 BGB gilt nicht für einen Verbrauchsgüterkauf, 474 Abs. 2 BGB. Beim Verbrauchsgüterkauf verkauft ein Unternehmer Waren an einen Verbraucher, 474 Abs. 1 BGB. Hier sind sowohl S als auch G Unternehmer im Sinne 14 BGB. Der Anwendungsbereich von 447 BGB ist eröffnet. Bearbeiter: Henry Posselt 3
4 b) Versendungskauf Plus: Gekaufte Ware soll an einen anderen Ort als den Erfüllungsort (Leistungsort im Sinne des 269, der hier bei S liegt) gesandt werden, Versendung an G (siehe oben). c) Auf Verlangen des Käufers Plus. G spricht Versendungsverlangen aus, ohne dass S jedoch dazu verpflichtet ist. d) Auslieferung der Ware an eine Transportperson Plus: 447 Abs. 1 BGB zählt zwar nur selbständige Transportpersonen auf; solange der Schuldner die Sache nicht eigenhändig transportiert, gilt 447 Abs. 1 BGB analog. Anderenfalls stünde der Verkäufer schlechter, wenn er überobligatorisch handelt und eigenes Personal einsetzt. 447 ist auch auf eigene Angestellte anwendbar ( sonstige Personen ). 447 BGB gilt nicht direkt. Nach dem Wortlaut kommen als sonstige Transportperson aus Angestellte des Verkäufers (hier S) in Betracht; 447 Abs. 1 BGB zählt aber nur selbständige Transportpersonen auf. Erfolgt die Versendung durch Gehilfen des Verkäufers, nimmt der Verkäufer damit im rechtlichen Sinne die Versendung selbst vor. Die entsprechende Anwendung von 447 BGB analog auf eigene Transportpersonen ist umstritten; dafür bspw. RG Z 96, S. 258 ff.; Larenz, Schuldrecht II/1 (1986), 42 II c, S. 103; MünchKomm/Westermann (2004) 447 BGB Rz. 14 ff., dagegen etwa Medicus, Bürgerliches Recht (2004), Rz Dagegen spricht, dass 446, 447 BGB den Gefahrübergang davon abhängig machen, dass die Ware den Machtbereich des Verkäufers verlässt, was bei einer eigenen Transportperson nicht der Fall ist. Andererseits passt das Argument des Überobligatorischen Tätigwerdens auch auf den Transport durch den Verkäufer in eigener Person, worauf 447 BGB nach ganz überwiegender Auffassung nicht anwendbar ist, anders etwa bspw. Oetker/Maultzsch, Vertragliche Schuldverhältnisse (2004), S Siehe zu dieser Problematik auch BB 1963, 290, 293; JuS 2003, 625, 628; RGZ 99, 56, 58. e) Zufälliger Untergang Die Ware ist zufällig untergegangen, wenn weder Schuldner noch Gläubiger den Untergang zu vertreten haben; hier kommt der Schuldner in Betracht. aa) bb) S selbst Minus: S hat weder vorsätzlich noch fahrlässig gehandelt; er hat auch weder eine Garantie noch ein Beschaffungsrisiko übernommen, 276 Abs. 1 BGB. Verantwortlichkeit für Dritte S könnte aber gemäß 278 BGB ein Verschulden des F wie eigenes Verschulden zu vertreten haben. (1) Erfüllungsgehilfe Plus: Ein Erfüllungsgehilfe ist u.a. eine Person, derer sich der Schuldner zur Erfüllung einer Verbindlichkeit bedient, vgl. 278 S. 1 BGB. Der Kaufvertrag verpflichtet S gemäß 241 Abs. 2 BGB, nach der Konkretisierung sorgfältig mit der für G bestimmten Ware umzugehen (bloße Nebenpflicht bei freiwilliger Übernahme der Versendung, vgl. Palandt/Putzo (2006) 447 BGB Rz. 6; diese Verpflichtung überträgt S dem F. Bearbeiter: Henry Posselt 4
5 S schuldet als Verkäufer nicht die Übersendung, denn diese ist bei einer Schickschuld keine Leistungspflicht und daher besteht Zweifel, ob der Erfüllungsgehilfe im Rahmen einer Verbindlichkeit des S handelt. Nach überzeugender Auffassung (Staudinger/Köhler, 447 Rdnr. 30) haftet der Verkäufer dann, wenn er den Transport selbst durchführt, weil selbständige Transportpersonen nicht zur Verfügung stehen, stets für ein Durchführungsverschulden nach 276, 278 BGB aus dem Gesichtspunkt einer fortdauernden Leistungstreuepflicht. Daher sei es unerheblich, dass der Verkäufer eigentlich den Transport der Sache nicht schulde. F ist demnach Erfüllungsgehilfe des S.; andere Ansichten/Ansätze: Palandt/Heinrichs (2006) 278 BGB Rz. 15; JuS 2003, 625, 629. (2) Verschulden des Erfüllungsgehilfen Plus: F hat im Sinne 276 Abs. 2 BGB fahrlässig gehandelt. (3) Sachlicher Zusammenhang Plus: Der Schuldner ist nur verantwortlich, wenn das Verhalten des Erfüllungsgehilfen in sachlichem Zusammenhang mit der ihm übertragenen Aufgabe steht; das ist immer dann der Fall, wenn die Einschaltung die Handlung des Erfüllungsgehilfen ermöglicht oder erleichtert. III. Ergebnis S hat den Untergang der Ware gemäß 278, 276 Abs. 2 BGB zu vertreten; ein zufälliger Untergang, an dem weder Schuldner noch Gläubiger beteiligt sind, liegt nicht vor. 447 Abs. 1 ist nicht vollständig erfüllt, ein Gefahrübergang hat nicht statt gefunden, so dass es bei der Regelung (dem Grundsatz) des 326 Abs. 1 S. 1 BGB bleibt. S hat keinen Anspruch auf Zahlung des Kaufpreises gegen G aus 433 Abs. 2 BGB. Geht die Gefahr gemäß 447 Abs. 1 BGB über, stellt sich wiederum die Frage nach einem Rücktritt gemäß 326 Abs. 5 BGB. Im Unterschied zum Fall Nr. 6a fehlt eine Regelung, die ein Unterlaufen der Gefahrtragungsregel verhindert. 323 Abs. 6 BGB gilt aber entsprechend. Bearbeiter: Henry Posselt 5
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