Nackenschmerzen ein natürlicher Bestandteil unseres Lebens?
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- Swen Grosser
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1 FACHBEITRAG Nackenschmerzen ein natürlicher Bestandteil unseres Lebens? Über Schmerzphänomene des Halswirbelsäulenbereichs und die Sensibilität therapeutischer Konzepte Von Thomas Sepp, Leitender Physiotherapeut im ZAP 3 Halswirbelsäulenbeschwerden und Beschwerden, die von der Halswirbelsäule (HWS) ausgehen, gehören zu den am häufigsten behandelten Krankheitsbildern in der Physiotherapie. Das Hauptsymptom von HWS-Läsionen (Schädigung, Verletzung oder Störung einer anatomischen Struktur oder physiologischen Funktion) ist der Nackenschmerz. Waren es vor fast dreißig Jahren nur jeder siebte bis zehnte Patient, der in meiner Behandlung über Nackenschmerzen klagte, so hat sich dies in den letzten Jahren massiv verändert. Heute klagt fast jeder zweite bis dritte Patient ungeachtet der gestellten Hauptdiagnose über zum Teil massive Schmerzen im Nackenbereich (Binder 2007). Die Häufung, die Komplexität und die unzureichende wissenschaftliche Fundierung von Diagnose- und Therapieverfahren dieses Phänomens soll im Folgenden erörtert werden. Unzureichende wissenschaftliche Fundierung des Phänomens Nackenschmerz Die Ursachen für die Entwicklung von Nackenschmerzen sind bis heute nur unzureichend erforscht. Es existieren zwar eine Reihe von Untersuchungen, die Risikofaktoren für Nackenschmerzen identifizieren. Doch interessanterweise führt eine Reduktion bzw. Modifikation dieser Risikofaktoren nicht unbedingt zu einer Verbesserung oder einem geringeren Auftreten des Krankheitsbildes (Diemer/Sutor 2010). Fortgeleiteter Schmerz - HWS Problematiken können auf andere Strukturen wie z.b. Schulter, Ellenbogen oder Hand ausstrahlen. Risikofaktoren für die Entstehung von Nackenschmerzen nach (Hogg-Johnson 2008, Croft 2001, Vingaard 2000) sind: Alter (Hochzeit im mittleren Lebensalter Jahre) Passives und aktives Rauchen Schlechter Allgemeiner Gesundheitszustand Psychische Erkrankungen Muskoloskeletale Schmerzen (z.b. Rückenschmerz) Frühere Traumen Weibliches Geschlecht Repetitive oder statische Arbeitsbelastungen Während man lange Zeit davon ausging, dass der Verlauf von Nackenschmerzen gutartig und selbstlimitierend sei, zeigen diverse neuere Untersuchungen, dass dies oftmals nicht der Fall ist. Weit über ein Drittel der Patienten berichten von wiederkehrenden Symptomen, 9 Prozent von einer Verschlechterung (Cote 2004). Nach einer Untersuchung von Caroll (2008), beträgt der Anteil von Patienten mit wiederkehrenden Schmerzen 85 Prozent. Häufig werden Nackenschmerzen von Rückenschmerzen und depressiven Verstimmungen begleitet. Dies ist ein Indiz dafür, dass Nackenschmerzen nicht als isoliertes Geschehen betrachtet werden dürfen. 62 RC Premium 2/2015
2 Durch die anatomische Nähe zu vielen gelenkigen Verbindungen gestaltet sich die klinische Untersuchung der HWS als sehr schwierig. Zu nennen seien hier die Gelenke zwischen den Wirbelkörpern (die Facettgelenke der HWS), sowie die Muskulatur, die von den einzelnen Nerven, die aus den Wirbelsegmenten austreten, innerviert wird. Weiterhin erschweren das Schultereckgelenk (Akromioclavikular Gelenk/AC- Gelenk), das Brustbein-Schlüsselbein- Gelenk (Sternoclavicular Gelenk/ SC- Gelenk), das eigentliche Schultergelenk (Glenohumeralgelenk (GHG), sowie das Gelenk zwischen Schulterblatt und den Rippen (Scapula-Thorakale Gelenk) und auch das Kiefergelenk die Befunderhebung. Je näher die anatomische Lage eines Gelenkes zum Zentralen Nervensystem, desto wahrscheinlicher ist es, dass es sich um einen fortgeleiteten Schmerz (referred pain) der Halswirbelsäule handelt. Des Weiteren können innere Organe wie z.b. Magen und Leber, Schmerzen auf die HWS projizieren. Während bei Beschwerden der Lendenwirbelsäule meist nur eine anatomische Struktur den Schmerz verursacht (Schwarzer 1994), können bei HWS-Beschwerden gleich mehrere Strukturen in Frage kommen, z.b. die Bandscheiben und/oder das Facettgelenk (Bogduk 1993). Diese Faktoren erfordern vom behandelnden Therapeuten nicht nur ein ausreichendes theoretisches Wissen, sondern auch eine entsprechend große Erfahrung. Kategorisierung der Nackenschmerzen nach wissenschaftlichen Grundlagen Der spezifische Nackenschmerz Krankheitsbilder die der Kategorie Spezifischen Nackenschmerz angehören, sind für den Therapeuten immer ein Alarmzeichen und bedürfen einer eingehenden Untersuchung durch den Facharzt (Binder 2007). Hierzu zählen: Entzündungen der Nervenwurzel, ausgelöst durch ein Beschleunigungstrauma (früher Schleudertrauma), ein Bandscheibenprolaps oder eine Degeneration der Wirbelgelenke Kompression des Rückenmarks durch z.b. segmentale Instabilität Tumore Manifestierte Osteoporose Entzündliche Erkrankungen Angeborene Fehlbildungen Frakturen Im Gegensatz zur Lendenwirbelsäule zeichnet sich die HWS häufiger durch besonders gefährliche, weil lebensbedrohliche Pathologien aus (Sizer 2007). Diese wären: Frakturen Durchblutungsstörungen Hochzervikale Instabilitäten des C1/C2 Atlas und Axis Der unspezifische Nackenschmerz Hierunter versteht man einfache mechanische Nackenschmerzen. Ob diese einer anatomischen Struktur wie dem Facettgelenk oder der Bandscheibe zugeordnet werden können, wird zurzeit in der aktuellen Literatur stark diskutiert. Eine Form des unspezifischen Nackenscherzes ist der periphere Nackenschmerz. Bei Bewegungsprüfung und Provokationstests durch den Therapeuten, können die Beschwerden ausgelöst werden. In Kombination mit einem bildgebenden Verfahren wird hier eine Diagnosestellung ermöglicht. Der zentrale Nackenschmerz Bei der Patientengruppe mit zentralen Nackenschmerzen ist weniger ein klar definiertes Beschwerdebild in der Anamnese zu erkennen, vielmehr spielen psychosoziale Einflussfaktoren, schwerwiegende psychosoziale Erkrankungen eine Rolle. Während die Patientengruppe mit peripheren Beschwerden durch einfache Informationen in Kombination mit
3 Globale Stabilisatoren der HWS (M. Trapezius) Grafik: Praxis der medizinischen Trainingstherapie II von Frank Diemer und Volker Sutor einem aktiven Behandlungsansatz sehr gute Chancen auf eine Verbesserung der Schmerzsymptomatik hat, sollen bei der Gruppe mit zentralen Nackenschmerzen neben aktiven Maßnahmen auch verhaltenstherapeutische Behandlungskonzepte zur Anwendung kommen. Ursachen für Nackenschmerz und therapeutische Grundsätze Einer der am häufigsten auftretenden Gründe für periphere Nackenschmerzen ist die Instabilität der HWS. Die Hauptfunktion der HWS ist es, zum einen den Kopf im Raum zu orientieren und sie gegen auftretende Kräfte zu stabilisieren. Dafür benötigt die HWS eine außergewöhnliche Mobilität wie Stabilität in Statik und Dynamik (Falla et al. 2006) Bis in die 1990er Jahre vertraten diverse Autoren die Meinung, dass ein Großteil der Stabilität durch die Band- und Knorpelstrukturen der HWS gewährleistet würden (White et al. 1990). Mittlerweile jedoch hat sich Dank des größeren Verständnisses von den stabilisierenden Strukturen der HWS die Erkenntnis durchgesetzt, dass die muskuläre Absicherung von bedeutender Wichtigkeit ist. Wang et al. (2006) konnte eindrucksvoll die schwerwiegenden Folgen für die HWS bei Verlust der muskulären Sicherung nachweisen. Physio- und Sporttherapeuten sowie Mediziner haben in den letzten Jahren mit sehr viel Engagement motorische Testverfahren und Trainingsprogramme entwickelt. Diese sichern den Patienten nicht nur ein abwechslungsreiches Trainingsprogramm, sondern auch klinische Behandlungserfolge bei akuten und chronischen Nackenschmerzen (Revel et al / Yilines 2007). Der Muskulatur kommt dabei eine zentrale Bedeutung zu. Die Muskulatur und ihre Rolle im stabilisierenden System der HWS Stabilität ist ein dynamischer Prozess, der in Abhängigkeit von der funktionellen Anforderung statische Positionen und dynamische Bewegungen ermöglicht (Hodges et al. 2004). Wir Physiotherapeuten messen den lokalen Muskeln der HWS die größte Bedeutung in puncto Stabilität bei. In der Sport- und Trainingstherapie werden jedoch sinnvoller Weise sowohl lokale als auch globale Muskelgruppen gemeinsam trainiert. Die globalen Stabilisatoren besitzen dafür eine außergewöhnlich hohe Sensibilität und können als propriozeptive (Koordinations-) Organe bezeichnet werden. Damit steht außer Frage, dass nur ein perfektes Zusammenspiel zwischen lokalen und globalen Muskeln die bereits erwähnte Funktion von Dynamik und Stabilität gewährleisten kann. Muskuläre Dysfunktion und ihre Folgen Muskuläre Dysfunktionen führen zur Verfettung, zu Umwandlung von Muskelfasern sowie zum Abbau der Muskulatur. Die Muskeln zeigen eine geringere Aktivität, schlechtere Kraftwerte und eine Verschlechterung der Tiefensensibilität. Man beobachtet erhöhte EMG- Aktivitäten bei deutlichem Kraftverlust. Hypertone Muskeln also Muskeln mit zu hoher Muskelspannung sind eben niemals stark und leistungsfähig. Stattdessen kommt es über kurz oder lang immer zu einer Instabilität der HWS, die zu verschiedensten Veränderungen von Band- und Kapselstrukturen oder der Bandscheiben führt. Verschiedene Tests wie z.b. der Sharp Purser Test, dienen dem Physiotherapeuten zur Feststellung einer klinischen Instabilität. Als Folge ständiger (Mikro-)Traumatisierungen durch Instabilität kann letztlich eine Bandscheibenvorwölbung oder ein Bandscheibenvorfall resultieren. Damit werden auch Nervenstrukturen geschädigt, was wiederum eine ungünstig veränderte Ansteuerung der Muskulatur nach sich zieht. Als Folge kommt es zu einer Veränderung des motorischen 64 RC Premium 2/2015
4 Dysfunktion lokale/globale Muskulatur Bewegungsprogrammes in Form von unökonomischen Bewegungen, was zu einer weiteren Belastung der knöchernen und passiven Strukturen führt. Und damit ist der Patient in einem klassischen Circulus Vitiosus (Teufelskreis). Überlastung passiver Strukturen Schmerzchronifizierung Auswirkung Dysfunktion lokaler und globaler Muskulatur Mikrotraumatisierung Band/Kapsel Bandscheibe Verletzung neurale Strukturen Konsequenzen für die Therapie Instabilitätspatienten mit multiplen Veränderungen am lokalen und globalen Muskelsystem bedürfen, nach derzeitigen wissenschaftlichen Erkenntnissen, eines breiten Spektrums verschiedenster Interventionsmethoden. Diese muss der Physiotherapeut kennen und erfolgreich am Patienten einsetzen (Falla et al. 2006). Bewegungsprogramm mit geringer Qualität und zeitverzögert Eine Kombination aus sogenannten weichen und harten Trainingsmethoden wird für positive Anpassungserscheinungen der Strukturen immer
5 Test und Behandlung der lokalen Muskulatur mittels Biofeedback Dynamische Stabilisation der Nacken und Kopfrotatoren Statische Stabilisation der HWS Extensoren Sharp-Purser Test zur Diagnose einer Instabilität des zweiten Halswirbels (Axis) wichtiger (Yilinen 2007). Meist erscheint bei der segmentalen Instabilität der Weg von wenig hin zu größerer Belastung am sinnvollsten. Eine überwiegend für den Patienten aktive Behandlungsmethode ist der Schlüssel zu einem guten Behandlungsergebnis. Patienten mit einer ausgeprägten Angst und einem hohen Vermeidungsverhalten sollten besonders intensiv aufgeklärt werden, da Angst zur Verminderung von Aktivitäten führt. Passive Hilfsmittel wie die Halskrause sollten nur in Ausnahmefällen und akut nur innerhalb der ersten 48 Stunden empfohlen werden. Das längere Tragen der Halskrause führt nachweislich zu schlechteren Nachbehandlungsergebnissen (Kongsted et al. 2007/Dehner 2006). Auch bei der HWS gilt der Grundsatz: Niemals still halten, sondern gezielte Bewegung und Kräftigung. Aber es gibt auch für den Nackenschmerzpatienten keine Standardübungen. Das Trainingsprogramm muss individuell auf den Patienten abgestimmt werden. Eine enge Absprache und Kontrolle zumindest in den ersten Wochen der Therapie ist von höchster Wichtigkeit. Dabei hängt der Erfolg maßgeblich vom Fachwissen, der Erfahrung und des Einfühlungsvermögens des/der Therapeuten/in ab. Um unsere HWS Patientinnen und Patienten in jeder Situation angepasst beraten und behandeln zu können, hat unser gesamtes ZAP 3 Physioteam im Februar 2015 an einer qualifizierten Fortbildung zum Thema Klinische Untersuchung und Behandlung der HWS und des Schultergürtels der FOMT teilgenommen. 66 RC Premium 2/2015
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