Übersicht. Justiz im Allgemeinen (1/4) Bundesgericht/Verfahrensgarantien. Staatsrecht II Vorlesung vom 18. Mai 2010
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1 Bundesgericht/Verfahrensgarantien Vorlesung vom 18. Mai 2010 Frühjahrssemester 2010 Prof. Christine Kaufmann Übersicht Die Justiz im Allgemeinen Stellung und Organisation des BGer Kompetenzen des Bundesgerichts Verfahrensgarantien 2 Justiz im Allgemeinen (1/4) Begriff der Justiz Justiz = richterliche Gewalt Staatsorgane, deren Hauptfunktion die Rechtsprechung ist 3 Frühlingssemester 2010 Seite 1 von 10
2 Justiz im Allgemeinen (2/4) Richterliche Unabhängigkeit Bindung an die generell-abstrakten Normen Unabhängigkeit Gegenüber anderen Staatsorganen Gegenüber höheren Gerichten Gegenüber sozialen Mächten Gegenüber Prozessparteien Innere Freiheit des Richters 4 Justiz im Allgemeinen (3/4) Gerichtsorganisation Arten von Gerichten Ordentliche Gerichte Spezialgerichte Ausnahmegerichte (durch BV 30 I verboten) Internationale Strafgerichte Instanzenzug Grundsatz: Ohne Kläger kein Richter Höhere Gerichte werden deshalb nur auf Grund eines Rechtsmittels tätig 5 Justiz im Allgemeinen (4/4) Bestellung der Richter Wählbarkeitsvoraussetzungen Unvereinbarkeitsbestimmungen Ziel: Umsetzung der subjektiven Gewaltenteilung Personelle Unvereinbarkeit mit Exekutive und Legislative Wahlorgan Häufigste Varianten: Volk, Parlament oder Exekutive Selten: Selbsterneuerung durch die obersten Richter Amtsdauer Optimal für Gewaltenteilung: Keine Wiederwahlmöglichkeit Optimal für Unabhängigkeit: Wahl auf Lebenszeit 6 Frühlingssemester 2010 Seite 2 von 10
3 BGer: Stellung und Organisation (1/6) Verfassungsrechtliche Stellung BV 188 I: Bundesgericht als oberste Recht sprechende Behörde des Bundes Bundesstraf- und Bundesverwaltungsgericht untergeordnet Militärjustiz ist eigenständiger Gerichtszweig BV 191c: Richterliche Unabhängigkeit BV 188 III: Selbstverwaltungsrecht BV 144: Personelle Gewaltenteilung 7 BGer: Stellung und Organisation (2/6) Wahl der Bundesrichter Wählbarkeit (BV 143) Unvereinbarkeit (BV 144) Wahlorgan (BV 168 I i.v.m. 157 I lit. a) Wahlpraxis: Freiwilliger Parteienproporz 8 BGer: Stellung und Organisation (3/6) Amtsdauer Sechs Jahre (BV 145) Wiederwahl ist zulässig (und üblich) Organisation des Bundesgerichts Anzahl der Richterinnen und Richter (BGG 1) Regelung der exakten Richterzahl in einer Verordnung der Bundesversammlung Derzeit: 38 ordentliche und 19 nebenamtliche Richter sowie 138 Gerichtsschreiber 9 Frühlingssemester 2010 Seite 3 von 10
4 BGer: Stellung und Organisation (4/6) (Fortsetzung: Organisation) Gesamtgericht (BGG 15) Präsidium (BGG 14) Abteilungen (BGG 18) Nach rechtlichen Sachgebieten Über Zusammensetzung und Präsidium der Abteilungen beschliesst das Gesamtgericht 10 BGer: Stellung und Organisation (5/6) Verhandlungen des Bundesgerichts Besetzung (BGG 20) In der Regel Besetzung mit drei Richtern In einigen Ausnahmefällen fünf Richter Abstimmungen (BGG 21) Verfahren und Öffentlichkeit (BGG 57 ff.) Nur ausnahmsweise mündliche Beratung Ansonsten: Entscheid durch Aktenzirkulation Parteivertreter (BGG 40) Prozesssprache (BGG 54) 11 BGer: Stellung und Organisation (6/6) Rechtliche Stellung der Richter Wohnort in der Schweiz erforderlich (BGG 12) Keine disziplinarische Verantwortlichkeit 12 Frühlingssemester 2010 Seite 4 von 10
5 Bundesgericht: Kompetenzen (1/2) Rechtsprechungskompetenzen Zivilsachen: Beschwerde in Zivilsachen (BGG 72 ff.) Strafsachen: Beschwerde in Strafsachen (BGG 78 ff.) Öffentlich-rechtliche Angelegenheiten Rechtsmittel: Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten (BGG 82 ff.) und subsidiäre Verfassungsbeschwerde (BGG 113 ff.) In Spezialfällen: Klage nach BGG Bundesgericht: Kompetenzen (2/2) Rechtsetzungskompetenzen Kompetenz zum Erlass von gewissen Verordnungen Vor allem betreffend interne Organisation und Verfahren Verwaltungskompetenzen Insbesondere: Bestellung der Abteilungen und Organisation des Gerichtsbetriebes Zweck: Sicherstellung der Unabhängigkeit der Justiz 14 Verfahrensgarantien: Funktion Individualrechtliche Funktion Verfahrensrechte als Grundrechte Schutz der betroffenen Personen Rechtsstaatliche Funktion Verbesserung der Wahrheitsfindung im Prozess Stärkere Legitimation der Justiz 15 Frühlingssemester 2010 Seite 5 von 10
6 Allgemeine Verfahrensgarantien (1/4) Anspruch auf gleiche und gerechte Behandlung (BV 29 I) Verfahrensrechtliche Auffangnorm Gilt umfassend für alle Gerichts- und Verwaltungsverfahren Erfordernisse der Waffengleichheit und der Unparteilichkeit der entscheidenden Behörde werden (u.a.) auf BV 29 I abgestützt 16 Allgemeine Verfahrensgarantien (2/4) Verbot der formellen Rechtsverweigerung (BV 29 I) Verbot der Verweigerung oder Verzögerung eines Rechtsanwendungsaktes Verbot des überspitzten Formalismus 17 Allgemeine Verfahrensgarantien (3/4) Anspruch auf rechtliches Gehör (BV 29 II) Gilt für alle Rechtsanwendungsverfahren Aber nur für die am Verfahren beteiligten Parteien Umfasst insbesondere: Recht auf Anhörung, Akteneinsicht, Stellungnahme, Mitwirkung an der Beweiserhebung, persönliche Teilnahme am Verfahren, Begründung des Entscheids Einschränkungen sind in gewissen Fällen zulässig Bei Verletzung des Anspruchs: Meist Wiederholung des Verfahrens, selten Heilung in späterem Stadium möglich 18 Frühlingssemester 2010 Seite 6 von 10
7 Allgemeine Verfahrensgarantien (4/4) Anspruch auf unentgeltliche Rechtspflege (BV 29 III) Nach BGer grundsätzlich nur für natürliche, nicht für juristische Personen Zwei Ansprüche Unentgeltliche Prozessführung Unentgeltlicher Rechtsbeistand Voraussetzungen Bedürftigkeit des Rechtssuchenden Keine Aussichtslosigkeit des Prozesses Für Rechtsbeistand zusätzlich: Notwendigkeit der Verbeiständung Bloss vorläufiger Erlass der Kosten 19 Rechtsweggarantie (BV 29a) Anspruch auf Beurteilung von Rechtsstreitigkeiten durch ein Gericht Gesetz kann Ausnahmen vorsehen Anspruch bezieht sich auf Prüfung von Rechtsfragen, nicht von Ermessensfragen Anspruch gilt auch für juristische Personen Geht weiter als die Ansprüche der EMRK 20 Garantien im gerichtlichen Verfahren (1/3) Grundlagen: BV 30, EMRK 6 I Abgrenzungen Zu BV 29: BV 29 betrifft alle Verfahren, BV 30 nur die gerichtlichen Zu BV 29a: BV 29a regelt den Zugang zu Gerichten, BV 30 kommt zur Anwendung, wenn der Zugang besteht. 21 Frühlingssemester 2010 Seite 7 von 10
8 Garantien im gerichtlichen Verfahren (2/3) Anspruch auf ein durch Gesetz geschaffenes, zuständiges, unabhängiges und unparteiisches Gericht (BV 30 I, EMRK 6 I) Spezialgerichte zulässig, Ausnahmegerichte unzulässig Gewährleistung der richterlichen Unabhängigkeit auch in BV 191c Für Befangenheit genügt der Anschein von Befangenheit EMRK 6 I: Weite Interpretation der Begriffe zivilrechtlich und strafrechtlich durch den EGMR 22 Garantien im gerichtlichen Verfahren (3/3) Garantie des Wohnsitzrichters (BV 30 II) Anspruch jeder Person, dass Zivilklage gegen sie an ihrem Wohnsitz erhoben werden muss Ausnahmen durch Gesetz oder Staatsvertrag sind zulässig Grundsatz der Öffentlichkeit gerichtlicher Verfahren (BV 30 III, EMRK 6 I) Urteilsberatung und Urteilsabstimmung nicht erfasst Ob sich auch Dritte auf BV 30 III berufen können, ist umstritten 23 Garantien bei Freiheitsentzug (1/2) Rechtsgrundlagen: BV 31, EMRK 5 Schutz vor ungerechtfertigtem Freiheitsentzug Freiheitsentzug (inkl. Grüne und Haftdauer) muss im Gesetz selbst vorgesehen sein (BV 31 I) EMRK 5 I lit. a-f: Abschliessende Liste Recht auf unverzügliche Information über die Gründe der Verhaftung (BV 31 II) Gründe für Freiheitsentzug Information über die Rechte Unterrichtung in verständlicher Sprache Unverzügliche Unterrichtung 24 Frühlingssemester 2010 Seite 8 von 10
9 Garantien bei Freiheitsentzug (2/2) Spezielle Garantien in Untersuchungshaft (BV 31 III) Schadenersatzanspruch bei unrechtmässigem Freiheitsentzug (EMRK 5 V) Anspruch auf Anrufung des Gerichts beim Entzug der Freiheit (ausserhalb der Untersuchungshaft; BV 31 IV) 25 Strafverfahren (1/2) Rechtsgrundlagen: BV 32, EMRK 6 II und III BV 32 zählt die Garantien nicht lückenlos auf Die Grundsätze nulla poena sine lege und ne bis in idem sowie das Rückwirkungsverbot fehlen Die EMRK ist insoweit teilweise detaillierter als die BV Garantien in BV 32 Unschuldsvermutung (BV 32 I) Beweislastregel (Schuld muss bewiesen werden, nicht Unschuld) Beweiswürdigungsregel ( in dubio pro reo ) 26 Strafverfahren (2/2) (Fortsetzung: Garantien in BV 32) Anspruch auf Unterrichtung (BV 32 II Satz 1) Über die tatsächlichen Vorwürfe Über ihre rechtliche Qualifikation Verteidigungsrechte (BV 32 II Satz 2) Insbesondere: Recht auf (grundsätzlich selbst bezahlte) Verteidigung, freier Kontakt mit dem Verteidiger, Befragung der Zeugen Aussageverweigerung Rechtsmittelgarantie für Verurteilte (BV 32 III) 27 Frühlingssemester 2010 Seite 9 von 10
10 Einschränkungen und Heilung Einschränkungen der Verfahrensgarantien Lehre: Ein Teil der Verfahrensgarantien ist einschränkbar, ein anderer Teil ist es nicht Bei den einschränkbaren Teilen: Sinngemässe Anwendung von BV 36 Heilung Bei Verstoss gegen die Verfahrensgarantien muss ein Verfahren eigentlich wiederholt werden Die Praxis lässt jedoch in gewissen Fällen die Heilung zu Kritik in der Lehre: Rechtsmittelinstanz geht verloren 28 Frühlingssemester 2010 Seite 10 von 10
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