Wilfried Rudloff. Behindertenpolitik, Behinderungsbegriff und Behindertenbewegung
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- Eduard Pohl
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1 Wilfried Rudloff Behindertenpolitik, Behinderungsbegriff und Behindertenbewegung
2 Zwei (bayerische) Schlaglichter auf das Behindertenbild an der Wende zu den siebziger Jahren: 1. Der Fall Aumühle in Fürsteneck: die Vertreibung behinderter Kinder durch die Lokalbevölkerung, oder auch: Jagdszenen aus Niederbayern 2. Die Aktion Sonnenschein (Prof. Helbrügge) ein Modellversuch der gemeinsamen Beschulung von Kindern mit und ohne Behinderungen auf der Grundlage der Montessori-Pädagogik > einerseits: Aussonderung und soziale Distanz > andererseits: Integration und soziales Lernen
3 Gliederung des Vortrags: 1. Einleitung: Der Fall Aumühle und die Aktion Sonnenschein 2. Sozialpolitik und Behindertenpolitik von 1969 bis Die alte und die neue Behindertenbewegung 4. Erster Längsschnitt: Schule 5. Zweiter Längsschnitt: Umweltbarrieren 6. Dritter Längsschnitt: Wohnen
4 1.a) Sozialpolitik und Behindertenpolitik seit 1969: Expansion der Sozialleistungen > 1970 erstmals umfassenderes Programm der Bundesregierung zur Behindertenpolitik: Aktionsprogramm zur Förderung der Rehabilitation der Behinderten > Novellierung Bundessozialhilfegesetz (1974): Rechtsanspruch auf Eingliederungshilfe für alle Behinderten, ungeachtet der Art und Ursachen der Behinderung > Schwerbehindertengesetz (1974): von Kriegs- und Arbeitsopfern auf nunmehr alle Schwerbehinderte ausgedehnt (Einstellungs-Pflichtquote von 6%) > Rehabilitationsangleichungsgesetz (1974): Harmonisierung der Sozialleistungen und Koordination der Sozialleistungsträger im gegliederten System der Rehabilitation (unter nunmehriger Einbeziehung auch der Krankenkassen) > Sozialversicherungsschutz für Behinderte auch in Werkstätten, Heimen und Anstalten (1975)
5 1.b) Sozialpolitik und Behindertenpolitik seit 1977: Kürzung und Konsolidierung der Sozialleistungen Beispiele für Sparmaßnahmen unter dem Gebot des Haushaltsausgleichs (insbesondere 1983/84): - Kürzung des Übergangsgeldes bei Reha-Maßnahmen - Einschränkung der eben erst erfolgten Ausdehnung der unentgeltlichen Beförderung Schwerbehinderter - Einschränkung bei Heilmaßnahmen, insbesondere bei den präventiven Maßnahmen (Kuren)
6 2. Behindertenbewegung Auftakt der neuen Behindertenbewegung : Konfrontation statt Integration Das UNO-Jahr der Behinderten 1981 und die Stör- und Protestaktionen der Krüppelbewegung
7 2. Behindertenbewegung Auftakt der neuen Behindertenbewegung Konfrontation statt Integration Franz Christoph attackiert den Bundespräsidenten auf der Reha-Messe Titelbild der Krüppelzeitung 2/1981 (und der Bild -Zeitung)
8 2. Behindertenbewegung Formen der Selbstorganisation > Kriegsopferverbände seit 1946 bzw. 1950: Reichsbund und VdK als sozialpolitische Lobbyorganisationen > Elternverbände (z.b. Lebenshilfe für das behinderte Kind 1958): Initiierung lokaler Selbsthilfemaßnahmen und neuer Versorgungsangebote > Clubs der Behinderten und ihrer Freunde (seit 1968): Partnerschaftliches Engagement von Behinderten und Nichtbehinderten mit dem Ziel der Integration, Aktivierung und Emanzipation > Krüppelgruppen (seit 1979): Konfrontation statt Integration, Ablehnung der Zusammenarbeit mit Nichtbehinderten, Protest gegen Aussonderung, Fremdbestimmung und Anpassungszwang, stattdessen: Selbstbestimmung, Selbstberatung und Selbstorganisation
9 Der Begriff Behinderung verschleiert für uns die wahren gesellschaftlichen Zustände, während der Name Krüppel die Distanz zwischen uns und den sogenannten Nichtbehinderten klarer aufzeigt. Durch die Aussonderung in Heime, Sonderschulen oder Rehabilitationszentren werden wir möglichst unmündig und isoliert gehalten. Andererseits zerstört die Überbehütung im Elternhaus jede Möglichkeit der Selbstentfaltung. Daraus geht klar hervor, dass wir nicht nur behindert (wie z.b. durch Bordsteinkanten), sondern systematisch zerstört werden. (Krüppelzeitung 1980)
10 2. Behindertenbewegung Perspektivenschwenk in weiterer Perspektive: Autonomie, Selbstvertretung, Selbstbestimmung, peer-support als Leitziele 1982 auf Tagung in München erstmals Berührung mit der amerikanischen Independent-Living-Bewegung Seit den späten 80er Jahre Entstehung der Zentren für Selbstbestimmtes Leben (1990 Zusammenschluss in der ISL e.v. Interessenvertretung Selbstbestimmtes Lebens Deutschland) Ende 80er Jahre: erstmals Forderungen nach Anti-Diskriminierungsund Gleichstellungsgesetz
11 3. Längsschnitt Funktionsbereich Schule > Sechziger Jahre: Behinderte Kinder rücken ins Blickfeld Lebenshilfe, Contergan, Aktion Sorgenkind > Schulische Versorgung wird als unzureichend erkannt (geistig behinderte Kinder z.b. werden bis dahin als bildungsunfähig ausgeschult) > Kultusministerkonferenz lanciert Differenzierung und Ausbau der Sonderschulen (bis 1975 Verdreifachung der dort beschulten Kinder) ~ Befreiung Regelschulen von Ballastfällen ~ Dialektik von Förderung und Ausgrenzung: notwendige Schutzräume oder neue Gettos? > Integrationsdebatte (siebziger Jahre) Gesamtschulidee Vorbilder aus dem Ausland; skand. Normalisierungsprinzip Bildungsrat 1973: Kooperatives Schulzentrum Elterninitiativen und Modellversuche > Magere Bilanz zum Ende der 80er Jahre: ~ Widerstand der Kultusverwaltungen und der Sonderpädagogen ~ Anfang neunziger Jahre werden nur 4% der behinderten Kinder integrativ beschult
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13 4. Längsschnitt Umweltbarrieren: Allmählicher Perspektivenschwenk von den individuellen zu den gesellschaftlichen Ursachen der Behinderung: > Beispiele der planerischen Gedanken- und Rücksichtslosigkeit gegenüber Menschen mit Behinderungen: > Universitätsneugründungen > Deutsche Bahn > Behindertenbewegung und Barrierenabbau > Erste politische Initiativen zur behindertengerechten Bau- und Verkehrsplanung > Schwerpunktkatalog des Bundes 1973 > Beispiel München > Beispiele fortdauernde Nichtbeachtung
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15 5. Längsschnitt Funktionsbereich Wohnen > Nach 1945: Anstaltsverwahrung einzige Alternative zur Familie Geographisch und sozial abgelegene Großanstalten Strenge Reglementierung, kein Raum für Individualität, beengte Verhältnisse, ärmliche Ausstattung > Gettoisierung entspricht Vorurteilsstrukturen in der Bevölkerung > Bewusstseinswandel seit 70er Jahren: Heimkritik und mediale Skandalisierung der Anstaltsverwahrung Normalisierungsprinzip strahlt auf Wohnen aus > Alternativprojekte und Modellversuche: ambulante Hilfsdienste (1978: Vereinigung Integrationsförderung München) Wohngruppen, Wohngemeinschaften, betreutes Einzelwohnen > Modernisierung, Verkleinerung und Dezentralisierung der Großanstalten > Wie wohnen geistig Behinderte Mitte 90er Jahre in Berlin? 53% Familie, 24% Wohnheim, 17% klinische/pflegerische Einrichtung, 6% betreutes Wohnen
16 Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit!
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