Prof. Dr. R. Singer Wintersemester 2009/10 (1.12.2009, 4/Teil 1) Vorlesung Arbeitsrecht 4 Arbeitsvertrag I. Charakteristika: 1. Schuldrechtlicher Vertrag 2. Gegenseitiger Vertrag: 320 ff. BGB gelten, aber mit Modifikationen: a) 323 I: Rücktritt verdrängt durch Kündigung b) 326 I: Gegenleistungsgefahr trägt weitgehend Arbeitgeber, vgl. 615, 616 (Betriebsrisikolehre); dazu näher unten 8 (Leistungsstörungen). 3. Vertragstyp: Dienstvertrag; 611 ff. gelten; Ausnahme: 621, 627 675, 667 ff gelten nicht (Grund: AN nicht selbständig, nicht unentgeltlich) aber: 670 BGB anwendbar (prakt. Bedürfnis) Beispiel: unverschuldeter Unfall mit eigenem Pkw auf Betriebsfahrt; Aufwendungsersatzanspruch des AN gegen AG. 4. Dauerschuldverhältnis: 626 (Kündigung aus wichtigem Grund) II. Besondere Gestaltungsformen: 1. Betriebliche Übung: a) Definition: = gleichförmige, sich wiederholende Verhaltensweise des Arbeitgebers, aus denen die Arbeitnehmer schließen, dass ihnen eine Leistung auf Dauer gewährt werden soll Beispiel: Weihnachtsgratifikation, Arbeitsbefreiung am Rosenmontag b) Dogmatische Einordnung: aa) BAG: 133, 157 Anschein eines Rechtsbindungs- willens (Vertragstheorie) Folge: Beendigung erfordert Änderungskündigung 1
bb) Teil des Schrifttums: - durch freiwillige Wiederholung entsteht Vertrauenstatbesttand; Beseitigung für die Zukunft durch Beseitigung des Vertrauenstatbestandes; bei einmaligen Leistungen leichter als bei laufendem Entgelt (Singer, FS Canaris 2007, 1467). Fall 8: Betriebsübung Anspruch auf Weihnachtsgeld für das Jahr 2006 I. Rechtsgrundlage: Betriebliche Übung Voraussetzungen: 1. Wiederholte Verhaltensweise, aus der zu schließen ist, dass Arbeitgeber Leistung auf Dauer gewähren will Hier: mindestens dreimalige Gewährung ohne Vorbehalt (der Freiwilligkeit) Konsequenz: AN hat (nach BAG) vertraglichen Anspruch auf Zahlung von Weihnachtsgeld erworben (aa Schrifttum: nur Vertrauensschutz des AN; vgl. Singer, FS Canaris 2007, 1467). 2. Anspruch auf Weihnachtsgeld aufgehoben durch eine geänderte betriebliche Übung? a) BAG AP BGB 242 Betriebliche Übung Nr. 50: Änderung einer betrieblichen Übung durch eine abändernde gegenläufige - betriebliche Übung Voraussetzungen: - Erklärung des AG, die Zahlung der Gratifikation sei eine freiwillige Leistung, auf die zukünftig kein Rechtsanspruch bestehe (=Freiwilligkeitsvorbehalt), - wiederholte Handhabung der neuen Regelung über längeren Zeitraum (3 x Freiwilligkeitsvorbehalt) und - kein Widerspruch der AN arg.: konkludente Vertragsänderung; kein schutzwürdiger Vertrauenstatbestand der AN. 2
b) Nach Kritik im Schrifttum Änderung der Rspr. durch BAG NZA 2009, 601; arg.: aa) Vertraglicher Anspruch des Arbeitnehmers kann nur durch Kündigung oder Vertragsänderung verschlechtert oder beseitigt werden, nicht durch gegenläufige betriebliche Übung arg.: Anspruch aus betrieblicher Übung ist echter vertraglicher Anspruch, kein Anspruch minderer Rechtsbeständigkeit. bb) Vertragsänderung durch widerspruchslose Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses? (1) Angebot zur Vertragsänderung durch AG? Freiwilligkeitsvorbehalt in Lohnabrechnung: BAG zweifelt, ob verbindliches Angebot ( Rechtsbindungswille) u.u. lediglich Ankündigung einer möglichen Einstellung oder Einschränkung der Gratifikationszahlung oder bloße Äußerung einer Rechtsansicht (2) Annahme durch AN? (a) Schweigen auf ein verschlechterndes Angebot bedeutet regelmäßig keine Annahme arg.: Schweigen ist i.d.r. Nullum ; gesetzliche Erklärungsfiktionen (zb 108 Abs. 2 Satz 2, 177 Abs. 2 Satz 2) sind Sonderfälle und bedeuten meistens Ablehnung Zustimmung nur bei rechtlichem Vorteil ( 516 II 2), im kaufmännischen Verkehr ( 362 HGB) (b) Konkludente Annahme der Vertragsänderung durch widerspruchslose Fortsetzung der Tätigkeit nur anzunehmen, wenn sich Änderung unmittelbar im Arbeitsverhältnis auswirkt, nicht hingegen, solange deren Folgen nicht hervortreten (BAGE 98, 293; AP BGB 242 Ruhegehalt Nr. 101). Hier: Änderung hat sich nicht ausgewirkt, da B das Weihnachtsgeld für die Jahre 2002 bis 2005 weitergezahlt und nicht etwa gekürzt hat. (c) Widerspruchslose Fortsetzung der Tätigkeit darf auch wegen 308 Nr. 5 BGB nicht als Einverständnis mit geänderter Betriebsübung verstanden werden (aa) 308 Nr. 5 BGB: Bestimmungen in AGB, die Erklärung des Vertragspartners fingieren, sind unwirksam, es sei denn, dass - dem Vertragspartner eine angemessene Frist zur Abgabe einer ausdrücklichen Erklärung eingeräumt ist und - der Verwender sich verpflichtet, den Vertragspartner bei Beginn der Frist auf die vorgesehene Bedeutung seines Verhaltens besonders hinzuweisen. (bb) Ratio legis: der Grundsatz, wonach Schweigen in der Regel keine Willenserklärung ist, soll durch AGB nur in engen Grenzen änderbar sein 3
(cc) Dreimalige widerspruchslose Entgegennahme einer vom Arbeitgeber unter dem Vorbehalt der Freiwilligkeit gezahlten Gratifikation genügt nicht den Anforderungen des 308 Nr. 5 BGB; arg.: - kein besonderer Hinweis auf Bedeutung des Schweigens - Arbeitsvertragsparteien müssen im Arbeitsvertrag vereinbaren, dass Schweigen des Arbeitnehmers zu einem Änderungsangebot des Arbeitgebers als Annahme des Angebots gilt Ergebnis: gegenläufige Betriebsübung zu Lasten des AN erfordert also mindestens Einhaltung des 308 Nr. 5 BGB. Fallbezogen: keine Abänderung durch BÜ 3. Vertrauensschutz des AG wegen Änderung der Rechtslage? a) Arbeitsverhältnis besteht seit 1971. b) Vertrauen des B auf Wirksamwerden des Freiwilligkeitsvorbehalts aber nicht schutzwürdig arg.: AG hätte gegenüber AN unmissverständlich erklären müssen (und können), dass die bisherige betriebliche Übung einer vorbehaltlosen Zahlung beendet und durch eine Leistung ersetzt werden soll, auf die in Zukunft kein Rechtsanspruch mehr besteht. Gesamtergebnis: A hat einen Anspruch auf Weihnachtsgratifikation 2006. ---------------------------------------------------------------------------- 2. Arbeitsvertragliche Einheitsregelung: a) Tatbestand: einheitliche Regelung mit Belegschaft, z.b. Ruhegeldordnung, Versorgungsrichtlinien b) Dogmatische Konstruktion: Bezugnahme im Arbeitsvertrag ( 307 I 2 beachten!) 3. Gesamtzusage: auch einheitliche Regelung, aber: Wirksamwerden durch einseitige Zusage des Arbeitgebers (Rundschreiben, Anschlag am Schwarzen Brett) und Annahme des darin liegenden Angebots durch Arbeitnehmer gem. 151 BGB 4
4. Grundlage der Leistung: bei Betriebsübung, vertraglicher Einheitsregelung und Gesamtzusage: Vertrag a) Beseitigung der vertraglichen Bindung durch ablösende Betriebsvereinbarung? aa) bei kollektiver Begründung des Anspruchs (Betriebsübung, Einheitsregelung, Gesamtzusage) soll kollektive Beseitigung der Bindung zwar möglich sein, bb) aber Beseitigung der vertraglichen Bindung scheitert zumeist am Günstigkeitsprinzip (vgl. 4 I TVG) (1) dieses besagt, dass arbeitsvertragliche Regelungen, die günstiger sind als kollektive (TV, BV), vorrangig gelten (2) bei kollektiver Begründung der Regelung, die abgelöst werden soll, nimmt BAGE 53, 67 einen kollektiven Günstigkeitsvergleich vor und fragt, ob die vertraglichen Leistungen insgesamt günstiger sind als die kollektiv versprochenen nützt dies dem AG wenig, da er damit die beabsichtige Einsparung nicht erzielen kann. b) Konkludenter Widerrufsvorbehalt: - sehr großzügig BAG EzA 77 BetrVG 1972, Nr. 20: wurde Zuwendung nach Abstimmung mit dem Betriebsrat gewährt, muss AN dies als Widerrufsvorbehalt durch Betriebsvereinbarung verstehen. - das ist wohl nicht mehr mit dem Transparenzgebot des 307 I 2 BGB zu vereinbaren; seit BAG NJW 2005, 1820 muss Widerrufsvorbehalt klar und deutlich im Arbeitsvertrag vereinbart werden. 5