Ansätze der Musiktherapie in der Betreuung von Frühgeborenen Literaturübersicht und Beobachtungen aus der Praxis

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Transkript:

Fakultät für Medizin Institut für Musiktherapie Ansätze der Musiktherapie in der Betreuung von Frühgeborenen Literaturübersicht und Beobachtungen aus der Praxis Diplomarbeit im Studiengang Musiktherapie am Institut für Musiktherapie, Fakultät für Medizin, Universität Witten/Herdecke Prüfer: Prof. Dr. David Aldridge Vorgelegt von Friederike Tirpitz Matrikel-Nummer: 99 40 03 Witten im Januar 2001

Literaturübersicht und Beobachtungen aus der Praxis Für meinen Vater, Ernst-Friedrich Tirpitz, der mir durch seine therapeutische Arbeit und sein tägliches Bemühen um eine menschliche Begegnung den Weg zur Musiktherapie gezeigt hat. Bei meinem Freund Jörg Haslbeck möchte ich mich für wissenschaftliche Anregungen, Computerhilfe, Korrekturlesen und liebenswerte Unterstützung bedanken. Sabine Metzing und Thomas Hirsch gilt mein Dank für das Korrekturlesen meiner Arbeit. 2

Inhalt Inhalt 1. VORBEMERKUNG...4 2. DIE SITUATION VON FRÜHGEBORENEN IM HINBLICK AUF DIE FEHLENDE INTRAUTERINE UMGEBUNG...5 2.1. DEFINITION UND VORKOMMEN...5 2.2. URSACHEN, DIE ZU EINER FRÜHGEBURT FÜHREN KÖNNEN...5 2.3. INTENSIVMEDIZINISCHE BEHANDLUNG VON FRÜHGEBORENEN...7 2.4. AUSWIRKUNGEN DER INTENSIVMEDIZINISCHEN THERAPIE...9 2.5. DIE WAHRNEHMUNG DES FETEN BZW. FRÜHGEBORENEN...15 2.6. DIE MUTTER-KIND-BEZIEHUNG UND IHRE BEDEUTUNG...19 2.7. THERAPEUTISCHE ANSÄTZE BEI FRÜHGEBORENEN...23 2.7.1. Sanfte Pflege bei Frühgeborenen...23 2.7.2. Kangarooing...26 3. MUSIKTHERAPEUTISCHE ANSÄTZE BEI FRÜHGEBORENEN IN LITERATUR UND PRAXIS...28 3.1. REZEPTIV AUDITIVE STIMULATION...28 3.1.1. Auditive Stimulation nach Monika Nöcker-Ribaupierre...28 3.1.2. Auditive Stimulation nach Schwartz & Ritchie...33 3.1.3. Auditive Stimulation nach Rosalie Rebollo Pratt...37 3.1.4. Auditive Stimulation nach Jayne M. Standley...40 3.2. AKTIVE MUSIKTHERAPIE...43 3.2.1. Multi-modale Stimulation & Aktive Musiktherapie nach Helen Shoemark...43 3.2.2. Multi-modale Stimulation & Aktive Musiktherapie nach Stephen Malloch...48 3.2.3. Aktive Musiktherapie nach Monica Bissegger...52 3.3. DISKUSSION UND KRITISCHE BETRACHTUNG DER BESCHRIEBENEN MUSIKTHERAPEUTISCHEN ANSÄTZE...55 4. SCHÖPFERISCHE MUSIKTHERAPIE NACH NORDOFF/ROBBINS UND IHRE ANWENDUNG BEI KOMATÖSEN PATIENTEN...63 4.1. DIE SCHÖPFERISCHE MUSIKTHERAPIE NACH NORDOFF/ROBBINS...63 4.2. SCHÖPFERISCHE MUSIKTHERAPIE MIT KOMATÖSEN PATIENTEN...64 4.2.1. Der komatöse Patient auf der Intensivstation...64 4.2.2. Formen der Kontaktaufnahme und Kommunikation durch Schöpferische Musiktherapie...66 4.2.3. Der Koma-Patient und das Frühgeborene eine vergleichbare Situation für Musiktherapie...69 5. SCHÖPFERISCHE MUSIKTHERAPIE & DAS FRÜHGEBORENE KIND WIE KÖNNTE EINE PRAKTISCHE UMSETZUNG AUSSEHEN?...71 6. ABSCHLIEßENDE GEDANKEN...79 7. BIBLIOGRAFIE...81 8. ERKLÄRUNG...83 3

Vorbemerkung 1. Vorbemerkung In meinem bisherigen Studium der Musiktherapie sind mir in den Einzel- und Gruppentherapien des öfteren ehemals frühgeborene Kinder mit diversen Behinderungen und Schwierigkeiten begegnet. Ich vermute, daß viele Probleme dieser Kinder ihre Wurzeln in der Frühgeburt haben und frage mich deshalb, ob es nicht schon zu diesem frühen Zeitpunkt möglich wäre, Hilfestellung und Therapie anzubieten. Ich möchte aus diesen Gründen die physische und psychische Situation von Frühgeborenen näher beleuchten, nach Defiziten und Beeinträchtigungen dieser zarten Geschöpfe suchen, Therapien aus der Literatur vorstellen und einen eigenen Ansatz für die schöpferische Musiktherapie entwickeln. Frühgeborene Kinder sind aber auch eine allgemeine Herausforderung, weil sie zeigen, wie früh individuelles Leben beginnt, wie früh Kommunikation beginnt und Beziehung eine wichtige Rolle im Leben eines Menschen spielen (Young, J., 1997, S.V). 4

Die Situation von Frühgeborenen 2. Die Situation von Frühgeborenen im Hinblick auf die fehlende intrauterine Umgebung 2.1. Definition und Vorkommen Als Frühgeborene bezeichnet man Kinder, die vor Ablauf der 36. Schwangerschaftswoche (SSW) oder mit einem Geburtsgewicht unter 2500g zur Welt kommen. In der BRD werden jährlich 40.000 Kinder zu früh geboren, d.h. 6% aller Säuglinge sind sogenannte Frühchen. Die Tendenz ist steigend, der Anteil extrem unreifer Kinder (Geburtsgewicht unter 1000g) nimmt zu (Kölner Seminar, 1996/97). Auf Grund des medizinischen Fortschritts können Frühgeborene teilweise schon ab der 23. Schwangerschaftswoche überleben (Standley, J.M., 1998). Auf der anderen Seite ist es aber möglich, eine Abtreibung nach Indikation bis zur 22. Schwangerschaftswoche durchzuführen - eine zeitliche Differenz, die mir aus ethischer Sichtweise sehr zu denken gibt. Wer soll und darf hier über Leben und Tod eines Menschen entscheiden?! 2.2. Ursachen, die zu einer Frühgeburt führen können In den meisten Fällen einer Frühgeburt läßt sich kein konkreter Auslöser für letztere finden, dennoch gibt es eine Reihe von Faktoren, die zu einer verfrühten Geburt führen können. Ich möchte an dieser Stelle darauf hinweisen, daß sehr viele Mütter von frühgeborenen Kindern unter Schuldgefühlen leiden und nach eigenem Fehlverhalten in der Schwangerschaft suchen. In ihrer Arbeit zur auditiven Stimulation nach Frühgeburt verweist Monika Nöcker-Ribaupierre (1995) auf die Ergebnisse von Cramer, die zeigen, daß beinahe alle Mütter Bedenken hatten, etwas Unverträgliches für das Kind getan zu haben. Leider reagieren einige Väter mit Schuldzuweisungen auf die schwierige Situation. Die Heilpädagogische Fakultät Köln führt in ihrem Seminar Frühgeburt und geistige Behinderung (1996/97, S.72) unter Leitung von Dr. Norbert Heinen folgendes Zitat zu dieser Thematik 5

Die Situation von Frühgeborenen an: Schuldzuweisungen sind keinesfalls selten. Wie zum Beispiel bei der Mutter des kleinen Dirk. Er kam sieben Wochen zu früh. Seine Mutter mußte sich immer wieder die Vorwürfe des Vaters anhören: Die Frühgeburt und damit die Behandlung des Babys auf der Neugeborenenintensivstation sei ihre Schuld. Sie mußte ja unbedingt noch vor Ostern die ganze Wohnung [...] putzen. Und prompt sei es danach zu den Wehen gekommen. Auf Grund dieser Tatsache möchte ich den Leser 1 bitten, vorsichtig mit folgenden Ursachen für Frühgeburt gegenüber betroffenen Müttern umzugehen. Das Kölner Seminar (1996/97, S.189-192) stellt folgende Ursachen zusammen: Biologisch-medizinische Ursachen :! Neurodegenerative Erkrankungen! Chronische Erbkrankheiten! Chromosomenanomalien! Infektionskrankheiten (z.b. Syphilis)! Drogenabusus (z.b. Nikotin, Alkohol etc.)! Blutgruppeninkompatibilität! Mehrlingsschwangerschaften! Vorausgegangene Fehlgeburt! Erstgebährende unter 16.bzw. über 30 Jahre! Fehlernährung Psychosoziale Auslöser :! Existenznot der Eltern! Geistige Unreife der Mutter! Familiärer und gesellschaftlicher Druck 1 Im weiteren Text wird nicht explizit zwischen weiblichen und männlichen Wortformen unterschieden. Dennoch wird, wenn nicht anders hervorgehoben, die so ausgeschlossene Geschlechtsform i.d.r. mit einbezogen. 6

Die Situation von Frühgeborenen 2.3. Intensivmedizinische Behandlung von Frühgeborenen Je eher ein Kind zur Welt kommt, desto weniger sind Körper und Organe ausgereift und desto eher können sich postnatale Komplikationen ergeben (Kölner Seminar, 1996/97, S. 76). Vor der Geburt übernimmt die Plazenta die Versorgung für Sauerstoff, Nahrung, Entgiftung, Wärme und Feuchtigkeit. Der Körper muß sich direkt nach der Geburt auf seinen eigenen Kreislauf umstellen, für Sauerstoff sorgen und die Entgiftung über Niere und Leber gewährleisten (Nöcker-Ribaupierre, M., 1995). Zum Zeitpunkt einer Frühgeburt sind die inneren Organe wie Herz, Nieren, Leber, Lungen und vor allen Dingen das Gehirn meist noch zu unreif, um diese Funktionen übernehmen zu können. Die Infektionsabwehr ist ebenfalls nicht ausreichend (Kölner Seminar, 1996/97). Ein Hauptproblem der Frühgeborenen stellen die noch nicht genügend ausgebildeten Lungen dar. Bei Atemschwierigkeiten wird zuerst versucht, das Sauerstoffangebot zu erhöhen. Wenn dies nicht ausreicht, muß das Kind künstlich beatmet werden. Allerdings können die Lungenbläschen durch den erhöhten Druck leicht Risse bekommen, was zu einer Schädigung der Lunge führen kann. Auch das Gehirn ist besonders gefährdet, da es noch keine automatische Durchblutungsregulierung besitzt. Nervenknoten werden leicht durch Unterdurchblutung zerstört. Größere Druckschwankungen können Gehirnblutungen auslösen. Die Ernährung der Frühgeborenen erfolgt meist über Infusionen, sollte aber so früh wie möglich durch eine Magensonde ergänzt bzw. ersetzt werden. In der Kölner Universitäts-Klinik wird enterale Milchnahrung verwendet und sobald es möglich erscheint, werden Stillversuche unternommen (Kölner Seminar, 1996/97). Ein weiteres Problem ist die Tatsache, daß Frühgeborene zu wenig Blut bilden, um dem Mehrbedarf durch Wachstum und Blutentnahmen 7

Die Situation von Frühgeborenen gerecht zu werden. Auch hier muß durch Blutübertragungen interveniert werden. Der Inkubator soll das Kind vor Abkühlung, Austrocknung der Haut, Bakterien und Viren schützen (Nöcker- Ribaupierre, M., 1995). Er bietet auf Grund seines gläsernen Designs eine gute Beobachtungsmöglichkeit für Pflegende, Ärzte, Therapeuten und Eltern. Extrem kleine frühgeborene Kinder liegen mindestens zwei Monate im Inkubator. Die Situation im Inkubator möchte ich durch folgende Fotografie illustrieren: Abbildung 1: Ein Frühgeborenes im Inkubator ( Julia Söhngen 2 ). Zur Veranschaulichung der Proportionen des Frühgeborenen beachte man das Wattestäbchen, das zur Mundpflege des Kindes benutzt wird. Es läßt sich erkennen, daß viele körperliche Bedürfnisse der Frühgeborenen aus der Unreife der Organe entstehen und daß versucht wird, die fehlenden Funktionen durch medizinische Maßnahmen zu ersetzen. Leider ist diese intensivmedizinische Behandlung nicht immer ohne Nebenwirkungen, was der folgende Abschnitt darlegen soll. 2 Die Abbildungen 1 (S.8) und 5 (S. 25) wurden von Julia Söhngen, BScN, im Rahmen ihres Studiums der Pfegewissenschaft an der Universität Witten/Herdecke gemacht. Sie hat die Mundpflege bei Frühgeborenen mittels Fotodokumentation erforscht und diese Bilder freundlicherweise zur Verfügung gestellt. 8

Die Situation von Frühgeborenen 2.4. Auswirkungen der intensivmedizinischen Therapie Der lange Aufenthalt im Inkubator wie auch die lange Zeit der künstlichen Beatmung verursachen häufig Spätfolgen. 30% der Menschen in den Zentren für Behinderte sind zu früh geborene Kinder (Kölner Seminar, 1996/97). Als Hauptursache für spätere Behinderungen werden Hirnblutungen angesehen. Nicht selten entstehen diese durch Druckschwankungen im Gehirn, die z.b. durch Streß ausgelöst werden können (Kölner Seminar, 1996/97). Die invasiven medizinischen Behandlungs- und Überwachungsmaßnahmen sowie die sensorisch wahrgenommene Umwelt der Intensivstation können die neurologische Entwicklung des Kindes negativ beeinflussen (Malloch, S., 2000). Leider wurde lange Zeit übersehen, was diese zarten Geschöpfe bereits wahrnehmen, sie wurden vielen Reizen, vor denen sie im Mutterleib bewahrt worden wären, zu früh und brutal ausgesetzt. Das ständige, helle Neonlicht auf der Intensivstation kann Netzhautschädigungen (Retinopathia praematuorum; ROP) verursachen. Jayne M. Standley spricht in ihrem Artikel Music Therapy Research with premature Infants auch von Erblindungsfolgen: Oxygen use can cause retrolental fobroplasia, a permamanent visual impairment (1998, S.132). Anschließend verweist sie auf bestimmte Medikamente, die zu Taubheit bei betroffenen Kinder führten. Das Kölner Seminar berichtet von Eßproblemen bei einigen Kindern, die mit der enteralen Ernährung und dem damit verbundenen mangelnden Schluck- und Saugverhalten in Verbindung gebracht werden (Kölner Seminar, 1996/97). Temperaturschwankungen, z. B. ausgelöst durch häufiges Öffnen der Durchgriffslöcher des Inkubators, eintönige Maschinengeräusche, ungedämpfte Außengeräusche und kurze, oft schmerzhafte Manipulationen z.b. durch Blutabnahme an der 9

Die Situation von Frühgeborenen Fingerkuppe lösen enormen Streß bei den Frühgeborenen aus (Noecker-Ribaupierre, M., 1995). Fred J. Schwartz und Ruthann Ritchie (1999. S.13) stellen in ihrem Artikel Music Listening in Neonatal Intensive Care Units einige Folgen von Streß bei Frühgeborenen zusammen:! Herzrhythmusprobleme! Erhöhter Sauerstoffverbrauch! Geringer Sauerstoffgehalt im Blut! Blutdruckschwankungen! Blutversorgungsprobleme im Gehirn! Eingeschränktes Wachstum! Körperliche Unruhe! Erhöhter Kalorienverbrauch Die Autoren führen Aussagen von Arnand & Hickey (1987) an, die besagen, daß Frühgeborene ihre Angst nicht kommunizieren können und dadurch der Streßhormonlevel noch mehr steigt. Das Übermaß an Reizüberflutung setzt die Kinder ständigem, kräftezehrenden Streß aus. Die dabei verpuffte Energie kann nun nicht mehr für die normale Entwicklung des Kindes verwendet werden. Schwartz und Ritchie (1999, S.13) zitieren an dieser Stelle Lynam, der von einem andauernden Lärmpegel von 50-88 db mit Spitzen von 110 db durch Öffnen des Inkubators spricht. Dieser Schallpegel ist mit leichtem Straßenverkehr bzw. Maschinengeräuschen vergleichbar. Ein Kleinkind ist in einem gewöhnlichen Zuhause im allgemeinen 40 db ausgesetzt. Auf der Neugeborenen- Intensivstation treten laute Geräusche in unvorhersehbarer Weise auf. Der Umgebungslärm wird überwiegend durch intensivmedizinische Geräte wie z.b. den Inkubator, Geräte zur Sauerstoffüberwachung, Pumpen und Alarmsignale der Monitore verursacht. Tätigkeiten des Personals einschließlich lautes Sprechen können ebenfalls als Lärmbelästigung empfunden werden. Der Mensch ist nicht in der Lage, sein Ohr wie das Auge mit seinen Lidern zu schließen und 10

Die Situation von Frühgeborenen auch der Inkubator bietet keine ausreichende auditive Dämpfung (Young, J., 1997, vgl. Abb.2). Abbildung 2: Umgebungslärm & Frühgeborenes (Young, J., 1997, S.35). 13% der Frühgeborenen erleiden einen Hörverlust im Vergleich zu 2% der termingerecht geborenen Kinder. Man nimmt an, daß der oben beschriebene Lärm als Ursache fungiert (Young, J., 1997). Tatsächlich werden Reize, die zu intensiv oder zu inkongruent sind, oder die sich in irgendeiner Weise zu rasch oder mit zu viel Fluktuation aufbauen, als aversiv erfahren (Stern, D., 1997, S.84). Da sich die frühgeborenen Kinder noch nicht an häufig auftretende Reize gewöhnen können, erschrecken sie bei jedem plötzlichen Geräusch von neuem, werden immer wieder aufgeweckt und sind somit der Überreizung gnadenlos ausgeliefert (Kölner Seminar, 1996/97, S.132). Es handelt sich überwiegend um emotionsleere, 11

Die Situation von Frühgeborenen bedrohliche, tote Maschinengeräusche. Ferner ist das Frühgeborene nicht in der Lage, den Ursprung des Geräusches zu orten, wodurch seine Möglichkeiten zur Integration multimodaler Aspekte des Umfeldes eingeschränkt werden (vgl. Young, J., 1997, S.37). Das termingerecht geborene Kind kann sich im Vergleich dazu in seinem Alltag mit Schreien, Wimmern und Umsichschlagen gegen die Überreizung wehren und dadurch auf Erlösung hoffen (Stern, D. 1997). Leider steht den wenigsten Frühgeborenen dieser Hilfeschrei zur Verfügung. Nicht auszudenken, welch ein Geschrei auf den Frühgeborenen-Intensivstationen herrschen würde, wenn diese mit ihrer Stimme protestieren würden. Die Kinder werden des weiteren durch den ständigen Lärm und das grelle Licht in ihrem Schlaf- und Wachrhythmus gestört. Die für die Entwicklung so wichtige REM-Phase im Schlaf wird nur selten erreicht (Schwartz & Ritchie, 1999). Standley (1998) beruft sich auf diverse Theorien, die besagen, daß die anhaltende Lärmbelästigung später zu Hyperaktivität, Lernschwierigkeiten und dem ADS (Aufmerksamkeits-Defizit-Syndrom, im Englischen attention deficit disorders) bei den betroffenen Kindern führen kann. Nöcker-Ribaupierre (1995) weist darauf hin, daß der Lärmpegel auf den Neugeborenenstationen die menschlichen Stimmen übertöne. Die taktile Erfahrung der Frühgeborenen sei überwiegend negativ. Die meisten Berührungen seien intensiv-routinemäßig und oft mit Schmerzen oder Belästigung verbunden. Gerade die Kleinsten müßten am häufigsten gestört werden. Bei Infusionen und Blutabnahmen reagierten alle Frühchen mit Abwehr und Weinen. Im Gegensatz dazu kämen soziale, liebevolle Kontakte nur unregelmäßig vor (Nöcker-Ribaupierre, M., 1995). Um zu erläutern, was dies zur Folge haben kann, zitiert sie Brazelton (1975), der berichtet, daß diese Kinder später oft Aversionen gegen menschlichen Kontakt hätten: Sie begegneten Versuchen, gehalten, geschaukelt, liebkost zu werden, oft mit Irritationen oder 12

Die Situation von Frühgeborenen Weinen. Sie seien weniger munter, kommunizierten, lächelten und reagierten weniger und seien leichter irritierbar als ausgetragene Kinder (Nöcker-Ribaupierre, M., 1995, S.24). Welche Auswirkungen diese Kontaktstörung auf die Mutter-Kind- Beziehung haben kann, werde ich unter Punkt 2.6. näher erläutern. Neben der Gefahr der Überreizung der Kinder besteht auf der anderen Seite die Gefahr der Reizarmut im Vergleich zur intrauterinen Welt. Das Kölner Seminar (1996/97) vergleicht den Aufenthalt im Inkubator, der den Bedürfnissen des Frühgeborenen nach menschlicher Nähe und Kontakt widerspricht, mit einer Isolationshaft. Eine Folge davon sei die sensorische Deprivation, d.h. eine Verarmung an taktilen, geruchlichen, auditiven und kinästhetischen [...] Reizen, welche dringend für eine gesunde körperliche und seelische Entwicklung notwendig sind (Kölner Seminar, 1996/97, S.133). Die Isolation im Inkubator habe weitreichende Folgen für die emotionale und seelische Entwicklung des Frühgeborenen. Durch die abrupte Trennung von der Mutter werde die Mutter-Kind-Bindung gestört, Urvertrauen könne nur selten aufgebaut werden (Kölner Seminar, 1996/97). Das postnatale Systemgleichgewicht, für dessen Aufbau das Neugeborene viel Energie verwendet, kann nur selten erreicht werden. Zu den Aufgaben dieser Homöostase des Kindes gehören nach Malloch (2000, S.3) drei Bereiche:! Entwicklung eines Schlaf-Wach-Rhythmus! Verarbeitung, Speicherung und Organisieren multipler Stimuli! Entwicklung einer reziproken Beziehung zur Bezugsperson und Umgebung Wie aus meinen bisherigen Beschreibungen der Intensivstationsverhältnisse ersichtlich wird, werden dem Kind diese Entwicklungsschritte kaum gelingen können. Ein gesunder Beziehungsaufbau wird selten angeboten, durch schmerzhafte 13

Die Situation von Frühgeborenen Manipulationen sowie ständigem Wechsel des Personals zusätzlich erschwert. Die hochentwickelte Technik der Frühgeborenenmedizin kann zwar immer jüngeren Frühchen zum Überleben verhelfen, doch scheint es schwierig zu sein, die Aufgabe einer kontaktnahen, psychosozialen und reizadäquaten Betreuung zu erfüllen. Die Frühgeborenen sind den sensorischen und neurologischen Beeinträchtigungen nicht gewachsen. Doch gerade diese erste Zeit ist von großer Bedeutung für die neurologische Entwicklung des Menschen. Helen Shoemark (1998) zitiert in ihrem Artikel Singing as the Foundation for Multi-modal Stimulation Miller, der diese Zeit als key time for early intervention (Schlüsselzeit für frühe Interventionen) bezeichnet. Auf der Suche nach einer angemessenen Umgebung mit entsprechenden Reizangeboten für diese sensiblen Geschöpfe, möchte ich die intrauterine Welt als Vorbild nehmen und auf die Frage eingehen, welchen Reizen der Fetus in diesem Alter ausgesetzt ist bzw. was er bereits wahr- und aufnehmen kann. 14

Die Situation von Frühgeborenen 2.5. Die Wahrnehmung des Feten bzw. Frühgeborenen Ich erläutere im Folgenden die Wahrnehmung des Feten und nicht direkt die des Frühgeborenen. Ich denke, daß durch die Auseinandersetzung mit der Wahrnehmung des Feten eine Annäherung an die Fähigkeiten der Frühgeborenen unter Berücksichtigung von Alter und Entwicklungsstufe möglich ist. Nach Bürgin (1984) entsteht als erster Sinn ab der 7. SSW die Hautsensibilität, von der Mundregion über den Rumpf zu den Extremitäten. Als zweites folgt der Gleichgewichtssinn, der bei einem 4 cm großen Embryo (ca. 16. SSW) bereits voll ausgereift ist (Bürgin, D., 1984). Als drittes ist der Hörsinn bzw. das kortische System vollendet. Die Cochlea (Teil des Innenohres) und die sensorischen Endorgane sind ab der 24.Woche voll entwickelt, bereits spätestens mit dem 4. Monat nimmt der Fetus den Rhythmus des Herzens der Mutter wahr (Kölner Seminar, 1996/97). Dies geschieht sowohl durch die Druck/Vibrationsrhythmik wie auch durch die rhythmische Akustik der Herzschlagfolge (Bürgin, D., 1984, S.34). Ab der 28. SSW reifen der Geschmackssinn, die Sehfähigkeit sowie die Empfindungen für Druck, Schmerz und Kälte aus (vgl. Abb.3). Abbildung 3: Pränatale Entwicklung der Sensorik (Bürgin, D., 1984, S.36). 15

Die Situation von Frühgeborenen Zusammenfassend läßt sich sagen: Zwischen dem 5. und 6. Schwangerschaftsmonat gibt der Fötus also Antworten auf taktile, kinästhetische, thermische, vestibuläre, Druck-, Schmerz-, Geschmacks- und Lichtreize (Bürgin, D., 1984, S.35). Der Fetus nimmt also nicht nur passiv Reize wahr, sondern er kommuniziert mit der Mutter oder der Umwelt und kann auf verschiedenste Reize reagieren, eine Voraussetzung, um lernen zu können (Bürgin, D., 1984, S.31). Da der Fokus meiner Diplomarbeit auf der auditiven Wahrnehmung des Frühgeborenen liegt, werde ich im Folgenden detaillierter auf den Hörsinn eingehen. Wann genau der Fetus hören oder auf akustische Reize reagieren kann, darüber sind sich die Autoren der mir vorliegenden Quellen nicht ganz einig. Im Gegensatz zu Bürgin (1984) berufen sich Schwartz & Ritchie (1999) auf Ultraschallstudien, die zeigen, daß der Fetus bereits in der 16. SSW auf outside sounds reagiert. Das Hören sei der erste Sinn, der sich entwickelt und der letzte Sinn, der geht. Insbesondere hohe Frequenzen würden intensiv wahrgenommen (unter 500 Hz nur Spitzen von 80-95dz). Der Fetus nehme laut der Autoren die Atmung, die Bewegungen, die Stimme beim Sprechen oder Singen und die Zirkulation des Blutes der Mutter über das Hörorgan wahr. Er hört ihren Herzschlag about 26 million times (Schwartz & Ritchie, 1999, S.14). Konstanz und Rhythmizität charakterisieren die mütterliche Quelle von Reizen, welche auf den Föten einströmen (Bürgin, D., 1984, S.35). Schwartz & Ritchie (1999) zitieren Studienergebnisse, die beschreiben, daß dieser konstante Rhythmus dem Ungeborenen bereits das Gefühl von Schutz, Geborgenheit, Sicherheit und verläßlicher Wiederkehr gibt. Der Fetus bzw. das Frühgeborene besitzen die angeborene Fähigkeit, diverse Informationen und Emotionen, die in nur einer Silbe oder einem Ton stecken können, wahrzunehmen. Gefühle wie Liebe, Fürsoge emotional wisdom 16

Die Situation von Frühgeborenen werden auf diesem Weg vermittelt (vgl. Schwartz & Ritchie, 1999, S.15). Die hohe emotionale Beteiligung an allem, was der Mensch hört, wird im allgemeinen durch die zahlreichen Verbindungen der zentralen Hörbahn mit dem limbischen System begründet (Gustorff & Hannich, 2000, S.55). Nöcker-Ribaupierre (1995, S.54) spricht von der Mutterstimme als dem Element der Mutter- Kind-Beziehung während der Schwangerschaft: Die Grundlage für die Beziehung Mensch- Umwelt, Kommunikation, Sprache schafft die Mutterstimme. Dieser kommunikative Prozeß trägt Studienergebnissen zufolge, die Schwartz & Ritchie (1999) zitieren, zur Förderung der Entwicklung von Körper, Geist und Seele bei. Ferner ist die auditive Wahrnehmung von großer Bedeutung für die Gehirnentwicklung, wie folgende Aussage von Devlin et al. (1997) zeigt, die sich bei Schwartz & Ritchie (1999) findet: Evidence points to the fact that learning extends back into the prenatal period, and that the sounds and rhythms in the womb may contain information important to the development of the fetal brain. Das synaptische Netzwerk im Gehirn des Feten entwickelt sich unter anderem durch auditives Lernen. Die Autoren bezeichnen diesen Zusammenhang von auditiver Erfahrung und neurologischer Entwicklung als Auditives Amphitheater : Since fetal hearing is probably the major component of this learningdependent synaptic pruting and sprouting, the fetus is participating in a second and third trimester auditory amphitheater that is perhaps more important than other classrooms (Schwartz & Ritchie, 1999, S.15). Rosalie Rebolle Pratt (1998) zitiert Rene Van de Carr (1985), der von späteren Entwicklungsvorsprüngen während der Schwangerschaft auditiv stimulierter Kinder gegenüber der Kontrollgruppe berichtet. Nach Behrendt stellt das Hören den Beginn unseres Bewußtseins dar: Hören ist Sein. (Gustorff & Hannich, 2000, S.55; Hervorh. durch Verf.). 17

Die Situation von Frühgeborenen Der Fetus nimmt nicht nur über sein Ohr Emotionen wahr, antwortet auf gewisse Eindrücke und lernt dadurch, sondern er entwickelt bereits im Uterus gewisse Vorlieben und kann sich unter Umständen als Kleinkind an damals gehörte Musik erinnern: [...]the toddler who had experienced musical stimuli while in the womb showed postnatal recognition of the same sounds and patterns (vgl. Pratt, R.R., 1998, S.7). Zusammenfassend kann gesagt werden, daß die sensorische und kognitive Entwicklung des Menschen bereits als Fetus beginnt. Nicht ohne Grund wird in Teilen Asiens und wurde schon in der Antike vor der Geburt angefangen, das neue Leben des Kindes zu zählen. Denn gerade über den Hörsinn werden essentielle Erfahrungen wie Geborgenheit, Liebe, Kontakt und Kommunikation vermittelt, sowie die Mutter-Kind-Beziehung aufgebaut. Ich hoffe, ich konnte darstellen, welcher Überreizung einerseits und welcher mangelnden Stimulation und damit verbundenen Isolation und Gefühlsarmut andererseits das Frühgeborene auf der Intensivstation ausgeliefert ist. Beide Formen der Disreizung haben Entwicklungsstörungen zur Folge. Die essentielle Mutter-Kind-Bindung wird abrupt abgebrochen, ein für beide Beteiligten traumatisches Erlebnis. 18

Die Situation von Frühgeborenen 2.6. Die Mutter-Kind-Beziehung und ihre Bedeutung Während der Schwangerschaft stellen Mutter und Kind [...] eine biologische Einheit dar (vgl. Nöcker-Ribaupierre, M., 1995, S.9). Schon Aristoteles betont, daß das werdende Kind vieles von der es tragenden Mutter annimmt, wie die Pflanze von dem Erdreich, in dem es wurzelt (vgl. Nöcker-Ribaupierre, M., 1995, S.8). Wie bereits unter Punkt 2.2. erläutert, wirkt sich der physische und psychische Zustand der Mutter auf das Wohlergehen des Feten aus. Die Autorin führt Aussagen an, die besagen, daß das ungeborene Kind ein unbewußtes Selbst besitzt, das mit der Mutter in der Lage ist, wahrzunehmen und zu kommunizieren (Nöcker-Ribaupierre, 1995). In der ersten Phase der Schwangerschaft, die bis zu den ersten für die Mutter spürbaren Regungen des Feten andauert, hat die Mutter dieses Gefühl des vollkommenen Verschmolzenseins (vgl. Nöcker-Ribaupierre, M., 1995, S.7). Erst in der zweiten Phase kommt es zur Wahrnehmung des Feten als ein von der eigenen Person unterschiedenes Wesen. Die narzißtische Liebe der Mutter wandelt sich zur Objektliebe für ihr Kind. Zu einem normalen Geburtstermin hat die Mutter diese Wandlung bereits vollzogen, kann ihr Kind als eigenständigen Menschen annehmen und lieben und die anatomische Trennung akzeptieren (Nöcker-Ribaupierre, M., 1995). Wie fühlt sich aber eine Mutter nach einer Frühgeburt? Muß sie nicht das Gefühl haben, um einen Teil ihres Körpers und ihrer Seele beraubt worden zu sein, als Schwangere versagt zu haben? Die Musiktherapeutin Nöcker-Ribaupierre, deren Ansatz ich unter 3.1.1. vorstellen werde, spricht in diesem Zusammenhang von dem Gefühl von Unwirklichkeit, als sei das Kind kein reales Wesen. [...] Die so entstandene entwirklichte Einstellung zu dem Kind kann so weit führen, daß die Mutter ihr Kind ablehnt (vgl. Nöcker-Ribaupierre, M., 1995, S.25). Der zu früh geborene Teil ihrer selbst wird als unreif und fehlerhaft angesehen. Ferner 19

Die Situation von Frühgeborenen können sowohl die von unserer Gesellschaft definierte Abnormalität des Kindes als auch die intensivmedizinische Umgebung mit ihren Maschinen und Schläuchen den Eltern die Zuwendung zu ihrem Baby erschweren. Viele Mütter stehen wie gelähmt vor dem Inkubator, wagen es nicht mit ihrem Kind zu sprechen oder es zu berühren. Die meisten Frauen plagen Schuldgefühle, Minderwertigkeitskomplexe, Sorgen und Ängste um ihr Kind, was den Aufbau einer Beziehung, einer aktiven und lebendigen Interaktion zu dem Frühgeborenen, ebenfalls behindert. Die Mütter können ihr Kind nicht direkt nach der Geburt in den Arm nehmen, es spüren und halten (Nöcker-Ribaupierre, M., 1995). Ferner kann das frühgeborene Kind selten oder nur wenig auf die Mutter reagieren und zu ihr in Kontakt treten. Später kann es sogar vorkommen, daß das Kind auf Grund der negativen taktilen Erfahrung der intensivmedizinischen Maßnahmen wie z.b. einer Blutabnahme auf die liebevolle, taktile Annäherung der Mutter mit Aversionen reagiert. Dieses Verhalten läßt wiederum die verunsicherte Mutter zurückschrecken. Ein Teufelskreis beginnt. Wie soll sich unter diesen Umständen die so wichtige Interaktionsform zwischen Mutter und Kind, eine extrauterine Beziehung entwickeln? Nach Stern (1997), einem Entwicklungspsychologen und Psychoanalytiker, erlernt das gesunde Kleinkind diesen individuellen Prozeß der sozialen Interaktion innerhalb der ersten sechs Monate seines Lebens. Der Kontakt ist von wechselseitiger Rückmeldung beider Seiten geprägt und erwächst aus der Motivation von Spiel, Spaß und Interesse auf rein interpersonaler Ebene. Das Kind kann in der Interaktion affektive Erfahrungen sammeln, die wiederum zur Kontaktsuche führen. Dieses erste Erleben von Kommunikation und Emotion beeinflußt in entscheidendem Maße die Erfahrungen, aus denen das Kleinkind lernt, mit anderen Menschen in Beziehung zu treten (vgl. Stern, D., 1997, S. 10). Es entwickelt sich nach einigen Monaten aus der 20

Die Situation von Frühgeborenen Interaktion zwischen Mutter und Kind eine Beziehung, in der das Kind zur Objektpermanenz, zu einer beständigen Repräsentation der Mutter, gefunden hat (Stern, D., 1997, S. 117). Sowohl das Kind als auch die Mutter oder jede andere Bezugsperson verfügen über ein Repertoire an typischen Wahrnehmungsfähigkeiten und Verhaltensweisen, die von innen heraus im Moment improvisiert werden. So wird vom Kleinkind bei fast allen Menschen der Welt ein typisches Sozialverhalten ausgelöst, das durch räumliche (z.b. übertriebene Mimik) und zeitliche (verlangsamt und gedehnt) Übertreibung gekennzeichnet ist und sich auf mehrere ausgewählte Ausdrucksformen beschränkt (vgl. Stern, D., 1997, S.22). Es kommt nicht darauf an, was gesagt wird, sondern wie es gesagt wird. Stern spricht in diesem Zusammenhang von vitality affects, durch die das Kind in dieser frühen Zeit für sein Leben lernt. Die Interaktion ist von Wiederholungen und sich immer wieder leicht modifizierenden Variationen geprägt. Ferner werden dem Kind im Dialog Pausen eingeräumt, in denen es reagieren kann. Die Bezugsperson hat dadurch die Möglichkeit, auf die Äußerungen des Kindes einzugehen, ihr Reizangebot der kindlichen Wahrnehmung, Aufmerksamkeit und Gefühlsstimmung anzupassen, es nachzuregeln oder falls notwendig zu beenden (Stern, D., 1997). Viele Bewegungen laufen in einer optimalen Interaktion synchron ab, der Affekt der beiden interagierenden Personen paßt sich an (Stern, D., 1997). Das Neugeborene ist mit einer Fülle von sensorischen und kognitiven Fähigkeiten ausgerüstet (vgl. Punkt 2.5.), sucht aktiv nach Reizen und versucht seine Umgebung kreativ mitzugestalten. Es möchte gehört und erwidert werden. Es ist ferner in der Lage eine Sinneswahrnehmung mit einer anderen zu verknüpfen und in Beziehung zu setzen. Soziale und kognitive Erfahrungen werden miteinander verbunden. Die psychische und physische Entwicklung 21

Die Situation von Frühgeborenen des Kindes vollzieht sich an Hand der sozialen Interaktion. Genau wie der Körper für sein Wachstum Nahrung braucht, so benötigt das Gehirn Stimulation als Zufuhr von Rohstoffen, deren die Reifung wahrnehmungsmäßiger, kognitiver und sensomotorischer Prozesse bedarf (Stern, D., 1997, S.68, Hervorh. im Orig.). Zusammenfassend kann festgehalten werden, daß eine intakte Interaktion zwischen Mutter, Vater oder einer anderen Bezugsperson und dem Kind von immanenter Bedeutung für das Wohlergehen und die Entwicklung sowohl des Feten als auch des Neugeborenen ist. Die Kinder lernen und entwickeln sich durch diese interpersonale, emotionale Kommunikation und werden für ihr Leben geprägt. Leider werden auf der Frühgeborenenstation hauptsächlich körperliche Bedürfnisse des frühgeborenen Kindes befriedigt. Das Angebot einer emotionalen und sozialen Form von Kommunikation, sei sie in Anlehnung an die intrauterine Beziehung oder die nach der Geburt entstehende Mutter-Kind- Interaktion gestaltet, wird außer Acht gelassen. Eine echte Begegnung von Mensch zu Mensch kommt äußerst selten vor. Zum Glück wird dieser Mißstand mittlerweile in einigen Krankenhäusern erkannt, die Suche nach ersten Therapieansätzen beginnt. Ich werde im Folgenden einen kurzen Überblick über Letztere geben. 22

Die Situation von Frühgeborenen 2.7. Therapeutische Ansätze bei Frühgeborenen 2.7.1. Sanfte Pflege bei Frühgeborenen Der therapeutische Ansatz der sanften Pflege läßt sich auf die Wiener Kinderärztin Dr. Marina Marcovich zurückführen, die im deutschsprachigen Raum als erste 1992 diesen neuen Weg der Betreuung ging. Es handelt sich bei dieser Art von Therapie um einen ganzheitlichen individuellen Ansatz. Frühgeborene sind nicht nur auf technische und pharmakologisch-therapeutische Schemata angewiesen, sondern benötigten ein hohes Maß an menschlicher Zuwendung und schonender Rücksichtsnahme (Marcovich, M., 1995). Zunächst wird versucht, die genannten Quellen der Überreizung auf der Frühgeborenenstation weitgehend zu beseitigen. Die Atmosphäre auf der Station soll so ruhig wie möglich gestaltet werden. Hektik und Lärm durch technische Geräte und Personal sollen wenn möglich vermieden werden. Die Ausrüstung der Stationen sollte unter diesem Aspekt modifiziert werden, Alarmsignale könnten z.b. durch Blinklichter ersetzt werden. Entsprechende Schilder helfen das Bewußtsein für die notwendige Ruhe des kleinen Patienten zu schärfen. Abbildung 4: Hinweise & Schilder sollen helfen, die Störungen möglichst gering zu halten (aus Young, J., 1997, S.41). 23

Die Situation von Frühgeborenen Flanelltücher über den Inkubatoren dienen z.b. des nachts zur Dämpfung und Abdunklung, um einen Tag-Nacht-Rhythmus für das Frühgeborene zu ermöglichen. Die medizinisch-technische Versorgung, wie unter anderem maschinelle Beatmung, Intubation, zentrale Gefäßzugänge etc., werden auf ein Minimum herabgesetzt, um unnötigen Streß mit den bereits genannten Folgen zu vermeiden. Anstelle dessen setzt Dr. Marcovich auf eine erhöhte Beobachtung und Überwachung der Kinder durch Pfleger, Ärzte und Eltern. Taktile und vestibuläre Stimulationen wie z.b. Schaukeln in im Inkubator angebrachten Hängematten, Massagen, spezielle Lagerung werden angeboten. Die Pflegemaßnahmen sollten in Ruhe und Zuwendung vollzogen werden (vgl. Abb.5). Dadurch, daß die Eltern in die Pflege ihrer Kinder integriert werden, wird die Eltern-Kind-Beziehung positiv beeinflußt. Einerseits können die Eltern auf diesem Weg ihrer Hilflosigkeit, Ohnmacht und Unsicherheit aktiv begegnen und entgegenwirken, andererseits erfährt das Kind ein Gefühl von menschlichem Kontakt, Fürsorge, Zuwendung und Geborgenheit (Kölner Seminar, 1996/97). Die Kinder werden so früh wie möglich oral ernährt, gestillt und mit ihren Eltern in Hautkontakt gebracht. Dieser körperliche Kontakt, bei dem die Kinder z.b. nackt auf der Brust der Mutter gelagert werden, nennt man Känguruh-Methode, auf die ich im nächsten Abschnitt näher eingehen werde (Kölner Seminar, 1996/97). 24

Die Situation von Frühgeborenen Abbildung 5: Sanfte Berührungen sind selbst bei elementarsten Pflegemaßnahmen essentiell ( Julia Söhngen). Nach einer Auswertung ergab sich, daß die Sterblichkeit der so betreuten Frühgeborenen auf 15% sank, verglichen mit etwa 25% an anderen Kliniken; die Kinder bekamen keine Lungen- und Augenschäden. Diese Ergebnisse zeigen, wie wichtig gerade bei den frühgeborenen Kindern eine individuelle, ganzheitliche, reizadäquate Betreuung mit viel menschlicher Zuwendung, Nähe und Begegnung zu sein scheint. 25

Die Situation von Frühgeborenen 2.7.2. Kangarooing Die sogenannte Känguruh-Methode, auch Kangarooing genannt, läßt sich auf die kolumbianischen Kinderärzte Rey und Martin zurückführen, die auf Grund der unzureichenden medizinischen Ausrüstung des Krankenhauses in Bogota (z.b. zu wenig Inkubatoren) 1979 versuchten, die Mutterwärme auszunutzen, um die Kinder vor Auskühlung zu schützen (vgl. Stening, W., 1996, S.32). Seit Mitte 1991 wird an der Universitäts-Kinderklinik Köln die modifizierte Känguruh-Methode angewandt, die im folgenden beschrieben wird. Sobald sich der Zustand des Frühgeborenen weitgehend stabilisiert hat, wird es eine bis mehrere Stunden täglich nackt, mit Tüchern am Rücken gewärmt, auf die Brust der Eltern gelegt. Die Umgebung sollte ruhig sein und die Zimmertemperatur 22 C betragen. Während der Känguruh-Sitzungen streichelt die Mutter das Kind, spricht mit ihm, schaukelt es und versucht eventuell es zu stillen (Kölner Seminar, 1996/97, S.143). Dieser Haut-zu-Haut- Kontakt kann als Stimulus diverser Sinne des Frühgeborenen betrachtet werden:! Hautsinn (durch direkten Kontakt und Streicheln)! Hörsinn (durch die Stimme und den Herzschlag der Eltern)! Geruchssinn (Körpergeruch, Geruch der Muttermilch)! Kinästhetischer Sinn (durch Bewegung der Eltern) Des weiteren kann durch den Körperkontakt die Eltern-Kind- Beziehung gefördert und das Selbstwertgefühl und Selbstvertrauen der Eltern gestärkt werden. Die Känguruh-Methode wirkt sich laut des Kölner Seminars positiv auf die Körpertemperatur und die Gewichtszunahme des Frühgeborenen aus, stabilisiert seine Atmung und seinen Herzrhythmus (Kölner Seminar, 1996/97). Interessant erscheint mir die Tatsache, daß sich nach einer Veränderung der mütterlichen Herzfrequenz die kindliche Herzfrequenz mit kurzer Verzögerung gleichsinnig verändert (Stening, W., 1996). Durch den innigen Kontakt und die 26

Die Situation von Frühgeborenen emotionale Interaktion kann sich zwischen Mutter und Kind eine Affektanpassung vollziehen (vgl. Stern unter Punkt 2.6). Negative Auswirkungen auf den körperlichen Zustand der Kinder sind mir aus keiner der genannten Quellen bekannt. Zusammenfassend kann festgehalten werden, daß sich die Känguruh-Methode an den intrauterinen Reizen orientiert und die Eltern-Kind-Kontaktaufnahme, taktile, vestibuläre und auditive Stimulation zu einem ganzheitlichen Betreuungskonzept zusammenfaßt. 27

Musiktherapeutische Ansätze 3. Musiktherapeutische Ansätze bei Frühgeborenen in Literatur und Praxis 3.1. Rezeptiv Auditive Stimulation 3.1.1. Auditive Stimulation nach Monika Nöcker- Ribaupierre Monika Nöcker-Ribaupierre entwickelte ihren Therapieansatz als Musiktherapeutin an der Universitätsklinik im Dr. v.haunerschen Kinderspital in München auf Grund eigener vergangener Betroffenheit als Mutter einer zu früh geborenen Tochter. Es handelt sich bei dieser Art von Therapie um eine rezeptiv musiktherapeutische Methode für das Kind und eine zunächst nicht therapeutisch intendierte Krisenintervention für die Mutter. Die psychische Auswirkung dieser Stimulation mit Mutterstimme ist zudem eine Möglichkeit, die Entwicklung von der durch die zu frühe Ent-Bindung gestörten Mutter-Kind-Dyade zu einer erneuten Ver-Bindung zu fördern (Nöcker-Ribaupierre, M., 1995, S.1). Nöcker-Ribaupierre entwickelte diesen therapeutischen Ansatz auf der Grundlage von Untersuchungen und Erkenntnissen aus Medizin, Entwicklungspsychologie, neueren psychoanalytischen Theorien und der Säuglingsforschung, die sie in ihrem Buch Auditive Stimulation nach Frühgeburt (1995) darstellt. Nöcker-Ribaupierre betrachtet die Frühgeburt als ein traumatisches und folgenschweres Ereignis der Trennung für Mutter und Kind. Es ist ihr wichtig, Mutter und Kind zu dieser frühen Zeit ihres gemeinsamen Lebens als eine Einheit zu behandeln. Sie führt einerseits die bereits beschriebenen Probleme der unphysiologischen Umgebung der Frühgeborenen auf der Intensivstation mit ihrer Form der Überreizung und Reizarmut an. Andererseits beschreibt sie die Probleme der Mütter, die oft an Angst, Schuldgefühlen, Minderwertigkeitskomplexen und Depressionen leiden. Auf der Suche nach einem adäquaten Reizangebot für den kleinen Patienten nimmt sie die intrauterine 28

Musiktherapeutische Ansätze Umgebung als Vorbild. Basierend auf dem bereits beschriebenen Hintergrundwissen der pränatalen Erfahrung der auditiven Wahrnehmung, betrachtet sie letztere nicht nur im entwicklungspsychologischen Sinn, sondern als ein Medium der Verbindung während der pränatalen Zeit zum Leben außerhalb des Uterus. [...] Als Grundlage für die Beziehung Mensch-Umwelt wird die durchgehend prägende akustische Erfahrung durch den mütterlichen Herzschlag angesehen. Die Mutterstimme, mit ihren musikalischen Parametern Klang, Melodie und Rhythmus, schafft die Basis für die Beziehung Mensch-Umwelt, für Kommunikation und Sprache: Die Mutterstimme als Ausdruck und Inhalt des präverbalen, nonverbalen Raumes [...] als Träger der pränatalen emotionalen Interaktion (vgl. Nöcker-Ribaupierre, M., 1995, S.133 & S.125). Monika Nöcker-Ribaupierre führt eine empirische Untersuchung mit quantitativer Auswertung sowohl von Kurzzeit- als auch von Langzeitbeobachtungen auditiv stimulierter Kinder durch. Ziel der Forschungsreihe ist, folgende Aspekte zu untersuchen :! Effekt der Mutterstimme auf die physiologische Aktivität und den transkutanen Sauerstoff- Patialdruck (tcpo 2 ) der stimulierten frühgeborenen Kinder (tcpo 2 als wichtiger Indikator für den Zustand von Atmung und Kreislauf, gleichmäßig hoher PO 2 -Wert wünschenswert, oft über Beatmungsgerät reguliert, niedriger und unregelmäßiger tcop 2 stark Streß erzeugend).! Entwicklung der stimulierten Kinder in den ersten 20 Monaten im Vergleich zur Kontrollgruppe nicht stimulierter Kinder.! Effekt für das Verhalten und Ergehen der Mutter. Nöcker-Ribaupierre beobachtet in der Kurzzeituntersuchung neun Frühgeborene im Alter von 26-30 Wochen mit einem Geburtsgewicht von 780-1270 g über einen Zeitraum von sechs bis zehn Wochen. Die Mutter bespricht und besingt eine Kassette für ihr Kind mit Geschichten, freien Texten, Gedichten, vorkomponierten oder eigenen Liedern, die ihm täglich 30 min. 29

Musiktherapeutische Ansätze vorgespielt wird. Dies soll zu einer Zeit ohne Versorgungs- und Pflegemaßnahmen geschehen, damit die Mutterstimme nicht mit unangenehmen Manipulationen in Verbindung gebracht wird. Vor, während und nach der auditiven Stimulation werden Aktivität und tcpo 2 beobachtet und ausgewertet. Die Studie führt zu folgenden Ergebnissen:! Ab der 26. SSW reagieren die Kinder sicht- und meßbar auf die auditive Stimulation.! Die Mutterstimme hat einen beruhigenden Effekt, die Aktivität der Frühgeborenen nimmt ab (die gewonnene Energie steht dem kleinen Körper nun für Wachstum und Reifung zur Verfügung).! Der tcpo 2 der Kinder steigt (positive Wirkung auf Atmung und Kreislauf). Abbildung 6: Durchschnittliche Aktivitäts- & tcpo 2 -Werte mit & ohne auditive Stimulation (vgl. Nöcker-Ribaupierre, M., 1995, S.73). 30

Musiktherapeutische Ansätze In der Langzeitbeobachtung werden 24 Kinder nach auditiver Stimulation mit 24 Kindern ohne Stimulation bis zum Alter von 20 Monaten verglichen. Die kleinen Patienten sind in der 24.-30. SSW geboren und ihr Geburtsgewicht beträgt 650-1270 g. Die Kinder werden fünf mal täglich 30 Minuten über einen Zeitraum von ca. sechs bis neun Wochen auditiv stimuliert und bis zum Alter von 20 Wochen in ihrem Kommunikationsverhalten, der sprachlichen und motorischen Entwicklung sowie an Hand der Ergebnisse des Griffiths-Test (Untersuchungsverfahren von Motorik, persönlichsozialem Verhalten, Hören und Sehen, Auge-Hand-Koordination und Leistung des Intellekts für die Entwicklung von Kindern bis zum Alter von 24 Monaten; vgl. Nöcker-Ribaupierre, M., 1995, S.85) mit der Kontrollgruppe verglichen. Die Langzeitbeobachtung führt zu folgenden Ergebnissen:! Die Beatmungszeit und der Klinikaufenthalt der stimulierten Kinder verkürzt sich im Vergleich zur Kontrollgruppe, das Ergebnis sei jedoch nicht signifikant.! Kommunikationsverhalten, motorische und sprachliche Entwicklung vollziehen sich in den ersten Lebensmonaten bei den auditiv stimulierten Kindern schneller, der Großteil der Unterschiede ist signifikant, die Entwicklungsdaten aller Frühgeborenen liegen hinter denen gesunder, reifer Kinder.! Bis zum Alter von 20 Monaten verschwindet der Entwicklungsvorsprung der stimulierten Kinder im Vergleich zur Kontrollgruppe. Bei der Befragung der Mütter der stimulierten Kinder im Vergleich zu den Müttern der Kontrollgruppe mit Hilfe von Fragebögen ergaben sich folgende Resultate (Nöcker-Ribaupierre, M., 1995):! 50% der stimulierten Kinder können im Vergleich zu 12,5% der Kontrollgruppe von ihren Müttern gestillt werden, was von der Autorin als signifikantes Ergebnis bezeichnet wird.! Die Mütter der stimulierten Kinder sind nach Fremdbeurteilung durch Familienmitglieder belastbarer und stabiler. 31

Musiktherapeutische Ansätze! Alle Mütter, die Tonbänder für ihre Kinder besprechen oder besingen, empfinden letzteres als Hilfe für sich als auch für ihre Kinder, als wohltuende Aktivität gegen das Gefühl des Ausgeliefertseins, als Einleitung eines Selbsthilfeprozesses, Zitat einer Mutter: [...] da kann ich ihm wenigstens meine Stimme dalassen, dann kann es mich hören, da kann es mich kennenlernen (vgl. Nöcker-Ribaupierre, M., 1995, S.66). Die auditive Stimulation nach Nöcker-Ribaupierre ist, obwohl zunächst nicht therapeutisch intendiert, zur Krisenintervention für die betroffenen Mütter geworden. Die Mutter kann ihr Kind über die auditive Wahrnehmung erreichen, lange bevor eine taktile Stimulation wie Berühren, Halten und Liebkosen aus medizinischen Gründen möglich erscheint. Die Arbeit von Nöcker-Ribaupierre zeigt, daß die auditive Stimulation mit Mutterstimme zur Verbesserung der physischen und psychischen Situation sowohl des Frühgeborenen als auch der Mutter führen kann. Überzeugend ist die unmittelbare Wirkung auf die Empfindlichkeit des Kindes, damit auf den klinischen Verlauf und seine Entwicklung innerhalb der ersten Monate. Die Entwicklung während der ersten Monate positiv zu beeinflussen, ist sowohl unter psychotherapeutischen Gesichtspunkten als auch in Hinblick der Bindungsforschung von großer Bedeutung (Nöcker- Ribaupierre, M., 1995, S.103). Sie betrachtet die Mutterstimme während der Schwangerschaft als das Element der Beziehung und Kommunikation und betont ihren psychologischen und emotionalen Inhalt. Die Mutterstimme ist eine entscheidende Basis für die Mutter-Kind-Beziehung, die Interaktion und die Entwicklung des Kindes. Sie dient nach der zu frühen Ent-Bindung als erneute Ver-Bindung, als eine Brücke vom intrauterinen zum extrauterinen Leben (Nöcker-Ribaupierre, M., 1995). 32

Musiktherapeutische Ansätze 3.1.2. Auditive Stimulation nach Schwartz & Ritchie Fred J. Schwartz (MD) und Ruthann Ritchie (MT-BC) begannen ihre Arbeit der auditiven Stimulation von Frühgeborenen im Januar 1998 am Piedmont Hospital in Atlanta auf einer Neonatal Intensiv Care Unit (NICU). Vor dem Hintergrund der bereits angeführten Problematik der negativen Folgen der intensivmedizinischen Behandlung, der Überreizung sowie der hohen Kosten des Krankenhausaufenthaltes und der Folgekosten für weitere Förderungen der Frühgeborenen, suchen auch sie nach einer adäquaten Umgebung mit passender Stimulation für die kleinen Patienten und nehmen die intrauterine Welt als Vorbild für ihre Studie. Ihr Ziel ist es, Gewicht, Kopfumfang (als Indikator für die Gehirngröße), Beatmungsnotwendigkeit und Krankenhausaufenthaltsdauer auditiv stimulierter Kinder mit der Kontrollgruppe nicht stimulierter Kinder zu vergleichen (Schwartz & Ritchie, 1999). Schwartz & Ritchie beobachten Frühgeborene ihres Krankenhauses mit einem Geburtsgewicht von 1800-2000g, einem Kopfumfang von 29-31cm und einem APGAR-Index von 7,3-7,5 eine Minute und 8,4-8,5 fünf Minuten nach der Geburt (APGAR: Atmung, Puls, Grundtonus, Aussehen, Reflexe/ Schematische Untersuchung jedes Neugeborenen/ <7Punkte: Depressionszustand). 21 Kinder werden mit Hilfe von CDs ca. alle 8 Stunden auditiv stimuliert, 25 Kinder dienen als Kontrollgruppe. Für jedes Kind wird ein CD-System von fünf CDs installiert und ein kleiner Computerlautsprecher im Inkubator angebracht. Das Pflegepersonal hat die Aufgabe, die auditive Stimulation auszulösen, zu beobachten und zu beenden (Schwartz & Ritchie, 1999). 33

Musiktherapeutische Ansätze Zu diesem Zweck haben die Autoren folgende Guidlines zusammengestellt (Schwartz & Ritchie, 1999):! Störe das Frühgeborene nicht im Schlaf, um mit der auditiven Stimulation zu beginnen.! Überprüfe vor Beginn der Intervention den Soundlevel des Lautsprechers (75-80dB).! Beobachte das Verhalten des Kindes während der Stimulation, halte es schriftlich fest.! Setze die Musik ein, um das Frühgeborene zu beruhigen, nicht zu aktivieren.! Halte die Dauer der Stimulation kurz. Folgende Physiologische Veränderungen sind während der Intervention erwünscht (Schwartz & Ritchie, 1999):! Wachsende Sauerstoffsättigung.! Abfallende Herzfrequenz.! Geringe Senkung des Blutdruckes. Die Pflegenden tragen die Verantwortung für Zeitauswahl, Frequenz und Dauer der auditiven Stimulation. Sie wählen die entsprechende CD aus und entscheiden individuell an Hand der Reaktion des Kindes die Art und Weise des auditiven Reizangebotes. In seltenen Fällen muß die auditive Stimulation auf Grund von negativen Reaktionen des Kindes, z.b. bei noch sehr unreifen Frühgeborenen, abgebrochen werden (Schwartz & Ritchie, 1999). Um die Gefahr der Überreizung möglichst zu vermeiden, suchen die Autoren nach einfacher Musik, die folgende Kriterien erfüllt:! Ruhiges Tempo.! Gedämpfte Lautstärke.! Sanfte, regelmäßige Rhythmik.! Einfache, sich wiederholende Melodien und Harmonik, die durch ihre Wiederkehr ein Gefühl von Regelmäßigkeit und Sicherheit vermitteln. 34