Soziale Grundrechte Arthur Brunner, MLaw Gerichtsschreiber am Bundesverwaltungsgericht Wissenschaftlicher Assistent von Prof. Dr. Andreas Glaser
Rechte von Kindern und Jugendlichen (Art. 11 Abs. 1 und Abs. 2 BV) Einige Vorbemerkungen Ausdrückliche Implementierung der Kinderrechtskonvention der UNO ins nationale Verfassungsrecht und besondere Betonung des Kindeswohls Vorrangig programmatischer Charakter von Art. 11 Abs. 1 BV Verhältnis der Bestimmung zu Art. 10 Abs. 2 BV? Verfahrensrechtliche Durchsetzung: Art. 11 Abs. 2 BV und was ist mit Elternrechten? (siehe Art. 13 und 14 BV) Seite 2
Rechte von Kindern und Jugendlichen (Art. 11 Abs. 1 und Abs. 2 BV) Persönlicher Schutzbereich Kinder und Jugendliche bis zur Volljährigkeit o Gem. Art. 14 ZGB und Art. 1 der Kinderrechtskonvention: Junge Menschen, die das 18. Altersjahr noch nicht vollendet haben Seite 3
Rechte von Kindern und Jugendlichen (Art. 11 Abs. 1 BV) Sachlicher Schutzbereich Schutzanspruch: Anspruch auf besonderen Schutz ihrer Unversehrtheit v.a. Art. 10 BV, justiziabel Förderungsanspruch: Anspruch Förderung ihrer Entwicklung Programmsatz, kein justiziables Recht Recht auf selbständige Ausübung der eigenen Rechte o In Bezug auf Grundrechte Art. 11 Abs. 2 BV o Sonstige Rechte Art. 19 Abs. 2 ZGB Seite 4
Fallbeispiel 1: Anhörung Minderjähriger im Asylund Wegweisungsverfahren (BVGE 2012/31) Sachverhalt: Asylgesuche eines mazedonischen Ehepaars mit drei Kindern nach Nichtverlängerung der Aufenthaltsbewilligung infolge wiederholter Delinquenz des Vaters Anhörungen zu den Asylgründen der Eltern, nicht aber der Kinder (gleichzeitig: Befragung zu Gründen, die gegen einen Wegweisungsvollzug sprechen) Rüge der Beschwerdeführer im Verfahren vor dem BVGer: Verletzung von Art. 12 KRK (Anhörungsrecht von Kindern) in Verbindung mit Art. 29 BV (Anspruch auf rechtliches Gehör) und Art. 29 AsylG, weil die in der Schweiz geborenen Kinder sich nicht zur verfügten Wegweisung äussern konnten Seite 5
Fallbeispiel 1: Anhörung Minderjähriger im Asylund Wegweisungsverfahren (BVGE 2012/31) Anwendbare Rechtsgrundlagen Art. 12 Abs. 1 und 2 KRK direkte Anwendbarkeit? Art. 11 Abs. 2 BV in Verbindung mit Art. 29 Abs. 2 BV (Ausübung des rechtlichen Gehörs in Bezug auf eine Verfügung betreffend den weiteren Aufenthalt in der Schweiz) [vom Gericht nicht geprüft] Seite 6
Fallbeispiel 1: Anhörung Minderjähriger im Asylund Wegweisungsverfahren (BVGE 2012/31) BVGer: «Der Standpunkt aller Beschwerdeführenden ist in casu durch die Ausführungen der Rechtsvertreterin genügend zum Ausdruck gekommen. Vorliegend deckt sich die Haltung der Kinder mit jener der Eltern. [ ] Im Sinne der Beschwerdeanträge verfolgen die Beschwerdeführenden alle dasselbe Ziel, nämlich die vorläufige Aufnahme hinsichtlich des weiteren Verbleibs in der Schweiz. Es ist somit davon auszugehen, dass die Eltern im schriftlichen Asylgesuch sowie anlässlich der mündlichen Befragungen auch den Standpunkt der Kinder vertraten.» (E. 5.2.3) Und was ist mit unbegleiteten minderjährigen Asylsuchenden? Siehe BVGE 2014/30 (= Urteil des BVGer E-1928/2014 vom 24. Juli 2014) Seite 7
Anspruch auf Grundschulunterricht (Art. 19 BV) Persönlicher Schutzbereich Alle Kinder und deren Eltern, die in der Schweiz wohnen, unabhängig von der Staatsangehörigkeit o o Auch Kinder mit Behinderungen, die dem normalen Grundschulunterricht nicht folgen können Auch ausländische Kinder mit ungeregeltem Aufenthalt in der Schweiz («sans-papiers») Seite 8
Anspruch auf Grundschulunterricht (Art. 19 BV) Sachlicher Schutzbereich Anspruch auf «ausreichenden» Unterricht: Schüler/Innen angemessen auf ein selbstverantwortliches Leben im modernen Alltag vorbereitende Ausbildung Anspruch auf «unentgeltlichen» Unterricht o aber: nur an öffentlichen Schulen Anspruch auf freien Zugang o o o Zugang zur Schule für alle Kinder, spiegelbildlich Grundschulobligatorium Art. 62 Abs. 2 Satz 2 BV, Zugang unabhängig von Glaubensrichtung (religiöse Neutralität der Schule) Erteilung am Wohnort der Schüler/Innen Seite 9
Anspruch auf Grundschulunterricht (Art. 19 BV) Einschränkung = Verletzung Einschränkungen sozialer Grundrechte als Mindeststandards und damit auch des Anspruchs auf ausreichenden und unentgeltlichen Grundschulunterricht grundsätzlich ausgeschlossen (BGE 129 I 35) Art. 36 BV im Wesentlichen auf Freiheitsrechte zugeschnitten Aber BGer.: Sinngemässe Anwendung von Art. 36 BV auf das Recht auf Grundschulunterricht Art. 19 BV konkretisierungsbedürftig und Konkretisierung schliesst zwangsläufig Einschränkungen ein Seite 10
Fallbeispiel 2: BGE 141 I 9 Sachverhalt: A.A. leidet an einer Autismus-Spektrum-Störung. Im Schuljahr 2007/2008 besuchte er die Einschulungsklasse und tritt zu Beginn des Schuljahres 2009/2010 in die Regelklasse ein, wobei die Eltern durch eine Vollzeit-Betreuung zur Integration beitragen. Ab 2012/2013 können die Eltern diesen Zusatzaufwand nicht mehr leisten. Die Schulpflege beschliesst deshalb, dass A.A. zwar weiterhin die Regelschulklasse besuchen kann, die Eltern jedoch den finanziellen Aufwand zu tragen haben, der über die gesetzlich maximal vorgesehenen 18 Wochenstunden Sonderbetreuung durch eine Assistenzlehrkraft hinausgeht. Diesen Beschluss fechten die Eltern an. Seite 11
Fallbeispiel 2: BGE 141 I 9 Rechtsgrundlagen Art. 19 und 62 Abs. 2 BV, konkretisiert durch Art. 62 Abs. 3 BV und Art. 20 Abs. 1 BehiG Art. 8 Abs. 2 und 4 BV Was bedeutet der Terminus «ausreichender Grundschulunterricht»? Der verfassungsrechtliche Anspruch auf ausreichenden Grundschulunterricht bemisst sich an den individuellen Bedürfnissen des Kindes (E. 3.2) bedeutet für Kinder mit Behinderung mitunter einen erhöhten finanziellen Aufwand (E. 4.2.2) Aber: kein Maximalanspruch, sondern ein Minimalanspruch gewährleistet ist nur ein «erfahrungsgemäss ausreichendes Bildungsangebot an öffentlichen Schulen. Ein darüber hinausgehendes Mass an individueller Betreuung, das theoretisch immer möglich wäre, kann mit Rücksicht auf das staatliche Leistungsvermögen nicht eingefordert werden» (E. 3.3) Seite 12
Fallbeispiel 2: BGE 141 I 9 Ausreichendes Grundschulangebot gegeben, wenn Kind trotz französischer Muttersprache eine deutschsprachige Grundschule im eigenen Dorf besuchen kann, es aber vorzieht, eine französischsprachige Grundschule im Nachbardorf zu besuchen (Übernahme der Mehrkosten durch die Eltern: BGE 122 I 236) Kind zur Vorbereitung des Gymnasiums in die ordentliche Sekundarschule geht, anstatt ins Untergymnasium (keine Übernahme der zusätzlichen Wegkosten: BGE 133 I 156) In casu: Für Kinder mit Behinderung ist grundsätzlich eine integrative Beschulung einer Sonderbeschulung vorzuziehen (E. 5.3) Es sprechen keine öffentlichen Interessen gegen die aus Sicht des Kindswohls optimale integrative Beschulung (Lernerfolg der Mitschüler gewährleistet, keine finanzielle Überbelastung) Seite 13