Partielle Differentialgleichungen



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Kapitel 2 Erste Eigenschaften von Lösungen Wir wenden uns nun der mathematischen Seite der Gleichungen zu. In diesem Kapitel stellen wir einige elementar beweisbare Aussagen über Lösungen verschiedener Gleichungen zusammen. Sie sollen ein erstes Gefühl für die Gleichungen vermitteln. Insbesondere werden wir die Problematik der Randbedingungen kennenlernen. 2.1 Notation und partielle Integration Eines der wichtigsten Hilfsmittel in der Theorie der partiellen Differentialgleichungen ist der Gauß sche 1 Satz. Wir geben ihn hier in einer Formulierung an, die meist partielle Integration genannt wird. In Abschnitt 3.1 werden wir uns eingehender mit diesem Satz beschäftigen. Theorem 2.1 (Partielle Integration). Sei R n eine offene, beschränkte Teilmenge mit C 1 -Rand und äußerer Normalen ν : R n. Für Funktionen u,w C 1 (,R) gilt dann u w = uw + uwν. (2.1) Beide Seiten in Gleichung (2.1) sind Vektoren im R n. Die Integrale sind wohldefiniert, da alle Integranden stetig sind auf dem Abschluss der Integrationsgebiete, die Integrationsgebiete sind beschränkt. Wir schreiben u C 1 (,R), wenn u in stetig differenzierbar ist, also u C 1 (,R), und wenn zudem die Funktion u als stetige Funktion auf ganz fortgesetzt werden kann. Notation für Integrale: Für Funktionen f : R n R m schreiben wir für das Lebesgue 2 -Integral über eines der äquivalenten Symbole 1 C.F. Gauß, 1777 1855 2 H.L. Lebesgue, 1875 1941 B. Schweizer, Partielle Differentialgleichungen, DOI 1.17/978-3-642-4638-6_2, Springer-Verlag Berlin Heidelberg 214 21

22 2 Erste Eigenschaften von Lösungen f = f dl n = f (x)dl n (x) = f (x)dx. Dabei hat die erste Schreibweise den Vorteil, dass wir uns auf die wesentliche Information konzentrieren. Die Schreibweise mit dem Symbol L n für das n- dimensionale Lebesgue-Maß ist unmissverständlich und wird verwendet, wenn der verwendete Integrationsbegriff nicht offensichtlich ist. In den letzten beiden Formen wird eine Laufvariable x verwendet; dies ist nützlich, wenn die x-abhängigkeit des Integranden deutlich gemacht werden soll. Als Laufvariable kann dabei auch eine andere Variable als x verwendet werden. Für das Integral über eine (n 1)-dimensionale Fläche Σ schreiben wir eines der äquivalenten Symbole f = f dh n 1 = f (x)dh n 1 (x) = f (x)ds(x). Σ Σ Σ Σ Wieder konzentriert sich die erste Schreibweise auf das Wesentliche, könnte allerdings missverstanden werden. Eine (n 1)-dimensionale Mannigfaltigkeit Σ ist eine Lebesgue-Nullmenge, daher verschwindet das L n -Integral über eine beliebige Funktion f. In den anderen Schreibweisen wird deutlich angezeigt, dass ein Flächenintegral gemeint ist. Dabei ist bei der Verwendung des (n 1)- dimensionalen Hausdorff 3 -Maßes H n 1 die Dimension angegeben und das Integral ist unmissverständlich. Für eine Wiederholung der Definitionen verweisen wir auf Abschnitt 3.1. Varianten der partiellen Integration: Für die i-te Koordinate, i = 1,..., n, lautet die Aussage aus (2.1) u i w = i uw + uwν i. Insbesondere erhalten wir für die konstante Funktion w 1 die Relation i u = uν i. Falls u C 1 (,R n ) vektorwertig ist, so können wir diese Formel auf die Komponenten u i anwenden und über i summieren. Mit divu = u = n i=1 iu i finden wir u = u ν. (2.2) Dies ist der klassische Gaußsche Satz, wie wir ihn in der Ableitung von (1.1) bereits verwendet haben. Wir haben ihn aus (2.1) abgeleitet, es lässt sich aber auch leicht umgekehrt (mit Hilfe der Produktregel) aus (2.2) die partielle Integrationsformel (2.1) herleiten. 3 F. Hausdorff, 1868 1942

2.2 Harmonische Funktionen 23 2.2 Harmonische Funktionen Einfache harmonische Funktionen Wir betrachten zunächst kurz harmonische Funktionen im Eindimensionalen, also in R n mit n = 1. Zusammenhängende Gebiete R sind offene Intervalle, wir schreiben = I = (a, b). Sei nun u eine zweimal stetig differenzierbare Funktion auf dem Intervall I, die eine Lösung der Laplace-Gleichung ist: u C 2 (I,R), u =. Dann ist die Ableitung u = x u = u : I R konstant, also ist u affin linear, u(x) = cx+d für Zahlen c,d R. Die Randwerte von u, also u(a) und u(b), bestimmen die Werte von c und d. Wir sehen insbesondere, dass zu beliebigen Randwerten u(a) und u(b) genau eine harmonische Funktion u mit diesen Randwerten existiert. Im Zweidimensionalen ist die Menge der Lösungen sehr viel interessanter als im Eindimensionalen, wo sich die Laplace-Gleichung auf eine gewöhnliche Differentialgleichung reduziert. Im Zweidimensionalen ist eine einfache nichttriviale harmonische Funktion gegeben durch u(x) = u(x 1,x 2 ) = 1 2 x2 1 1 2 x2 2. (2.3) Berechnen wir zur Überprüfung u. Es gilt 1 u(x) = x 1 und 2 u(x) = x 2, also 1 2u(x) = 1 und 2 2 u(x) = 1, und damit u =. Man kann sich in diesem Beispiel den Graphen von u gut vorstellen, er beschreibt eine Sattelfläche (siehe Abbildung 2.1). Für die beiden Richtungen e 1 = (1,) und e 2 = (,1) sind die zweiten Ableitungen 1 2u und 2 2 u ein Maß für die Krümmung der Fläche in diesen Richtungen. Die zweiten Ableitungen sind betragsmäßig gleich, haben aber unterschiedliches Vorzeichen. Die gemittelten zweiten Ableitungen verschwinden. Die spezifische Funktion aus (2.3) sollte nicht den (falschen) Eindruck erwecken, dass es wenige harmonische Funktionen gibt. Im Gegenteil: im Zweidimensionalen sind alle Realteile u = Re( f ) von holomorphen Funktionen f harmonisch. Mittelwerteigenschaft der Laplace-Gleichung Im Folgenden sei n 1 beliebig und R n offen. Die offene Kugel mit Radius r > und Mittelpunkt x bezeichnen wir mit B r (x). Mittelwerte über eine Teilmenge Σ R n bezeichnen wir mit Σ u := 1 Σ Σ u, wobei Σ := 1. (2.4) Σ

24 2 Erste Eigenschaften von Lösungen In dieser Definition kann Σ eine messbare Teilmenge des R n sein; in diesem Fall sind alle Integrale bezüglich des n-dimensionalen Lebesgue-Maßes L n. Wir lassen aber auch zu, dass Σ eine (n 1)-dimensionale Mannigfaltigkeit ist; in diesem Fall sind beide Integrale Oberflächenintegrale, also Integrale bezüglich H n 1. Unabhängig von der Menge Σ R n und dem Integrationsmaß gilt eine Skalierungsinvarianz. Wir betrachten dazu Σ mit Dimension n 1 und die um einen Faktor r > gestreckte Menge rσ = {rx x Σ} R n. Dann gilt rσ uds = 1 u(y)dh n 1 1 (y) = rσ rσ r n 1 Σ = u(rx) ds(x). Σ Σ u(rx)r n 1 dh n 1 (x) Dabei haben wir in der zweiten Gleichung die Skalierungseigenschaft des (n 1)- dimensionalen Maßes und die Transformationsformel verwendet. Letztere folgt für Flächen aus der Definition der Flächenintegrale und der Transformationsformel für Volumina, wir verweisen hierzu auf Abschnitt 3.1. Theorem 2.2 (Mittelwertformel für harmonische Funktionen). Sei u C 2 (,R) mit u = in. Dann gilt u(x) = u (2.5) B r (x) für jede Kugel B r (x) mit B r (x). Beweis. Für festes x bezeichnen wir den Mittelwert auf der rechten Seite mit Φ(r). Mit der Transformationsformel parametrisieren wir die Oberfläche der r- Kugel über der Oberfläche der Einheitskugel und schreiben Φ(r) := u(y)ds(y) = u(x + rz)ds(z). B r (x) B 1 () In der zweiten Schreibweise hängt der Definitionsbereich nicht von r ab und wir können nach den Sätzen über parameterabhängige Integrale differenzieren. Es gilt Φ (r) = r Φ(r) = u(x + rz) z ds(z) = u(y) y x ds(y) B 1 () B r (x) r = u(y) ν(y)ds(y). B r (x) Wir schreiben diese Formel mit der Abkürzung w := u und verwenden den Gaußschen Satz (2.2) für w, B r (x) Φ (r) = w(y) ν(y)ds(y) = w = u =, B r (x) B r (x) B r (x) wobei wir in der letzten Gleichung ausgenutzt haben, dass u harmonisch ist. Da die Ableitung verschwindet, ist Φ konstant. Die Stetigkeit von u liefert Φ(r) u(x)

2.2 Harmonische Funktionen 25 für r, denn Mittelwerte von u in der Nähe von x sind beliebig wenig von u(x) entfernt. Wir schließen Φ(r) = u(x) für alle erlaubten r >, also die Behauptung. Korollar 2.3 (Mittelwertformel mit Volumenintegral). Sei u C 2 (,R) mit u = in und B r (x). Sei weiterhin ϕ : [,r] R eine integrierbare Gewichtsfunktion mit B r () ϕ( x )dx = 1. Dann gilt u(x) = u(y)ϕ( y x )dy. (2.6) B r (x) Beweis. Wir berechnen das Volumenintegral in Polarkoordinaten, siehe Übungsaufgabe 3.1 zur Zwiebelintegration. Wir schreiben B r (x) y = x + sz, parametrisieren also y mit einem Radius s [,r] und einer Winkelvariablen z B 1 (). Damit gilt r u(y) ϕ( y x )dy = u(x + sz)ϕ(s)ds(z)s n 1 ds B r (x) = r B 1 () u(x) B 1 () ϕ(s)s n 1 ds = u(x) B r () ϕ( y )dy = u(x), wobei wir die Zwiebelintegration in der ersten und der dritten Gleichheit verwendet haben und die Mittelwertformel für Sphären aus (2.5) in der zweiten Gleichheit. Damit ist die gewichtete Mittelwertformel (2.6) gezeigt. Wir sehen, dass harmonische Funktionen in jedem Punkt des Gebietes mit ihrem Mittelwert in einer Umgebung übereinstimmen. Es gilt auch die Umkehrung, die Mittelwerteigenschaft charakterisiert also harmonische Funktionen. Theorem 2.4 (Charakterisierung harmonischer Funktionen). Sei R n und u C 2 () mit u(x) = u (2.7) B r (x) für alle Kugeln B r (x). Dann ist u harmonisch. Beweis. Für einen Widerspruchsbeweis nehmen wir an, es gelte u(x) für ein x. Ohne Einschränkung betrachten wir den Fall u(x) >. Wegen der Stetigkeit der zweiten Ableitungen von u finden wir einen Radius R >, so dass in B R (x) die Ungleichung u > gilt. Wie oben definieren wir Φ durch die rechte Seite von (2.7). Nach Voraussetzung (2.7) ist Φ unabhängig vom Radius, also Φ. Andererseits finden wir mit der Rechnung des Beweises von Theorem 2.2 B r (x) Φ (r) = u. Die rechte Seite ist nach Wahl von x und R positiv für alle r < R. Dies liefert den gesuchten Widerspruch. B r (x)

z z 26 2 Erste Eigenschaften von Lösungen Regularität Aus der Mittelwertformel werden wir eine erstaunliche Regularitätsaussage erhalten: Harmonische Funktionen sind unendlich oft differenzierbar. Im Folgenden sei immer R n und B r (x). Wir wählen ϕ Cc ([,r),r). Die Tatsache, dass ϕ einen kompakten Träger in [,r) besitzen soll, bedeutet für den rechten Rand, dass ein ε > existiert mit ϕ(s) = für alle s > r ε. Da der linke Randpunkt s = Teil des Intervalls [,r) ist, kann die Funktion ϕ Cc ([,r),r) einen Wert ungleich ϕ() im Punkt s = besitzen. Mit der Funktion ϕ können wir eine radialsymmetrische Gewichtsfunktion definieren, ψ : R n R, ψ(y) = ϕ( y ), wobei wir ϕ(s) = setzen für s > r. Damit die Funktion ψ beliebig oft differenzierbar ist, ψ C (R n ), fordern wir ϕ(s) = 1 für alle s ε und ein ε >. Um das Integral zu normieren fordern wir weiterhin 1 (!) = R n ψ = r B s () ϕ( y )dh n 1 (y)ds = B 1 () r s n 1 ϕ(s)ds. Theorem 2.5. Harmonische Funktionen u C 2 (,R) sind von der Klasse C (). 4 1 2.8.6.4 2.2 4 2 2 1 y 1 2 2 1 x 1 2 1 y 1 2 2 1 x 1 2 Abb. 2.1 Links: Eine Sattelfläche, u(x,y) = y 2 x 2. Rechts: Eine Lipschitz-stetige radialsymmetrische Gewichtsfunktion. Beweis. Wir benutzen die Mittelwertformel mit einer Gewichtsfunktion ψ C (R n ) mit Träger in B r () und schreiben (2.6) als u(x) = u(y)ψ(x y)dy. B r (x) Wir behaupten, dass für jede natürliche Zahl k N die Funktion u von der Ordnung C k ist, und dass für einen beliebigen Multiindex α N n mit α = k die Relation

2.2 Harmonische Funktionen 27 D α u(x) = u(y)d α ψ(x y)dy (2.8) B r (x) gilt. Ableitungen des Integrals wirken also nur auf die Gewichtsfunktion. Wir führen den Beweis mit einer Induktion über k. Für k = ist nichts zu zeigen, (2.8) ist in diesem Fall genau die Mittelwerteigenschaft. Wir zeigen nun den Induktionsschritt von k auf k + 1. Dafür sei α N n ein Multiindex mit α = k und i = 1,..., n ein beliebiger Richtungsindex, Gleichung (2.8) gelte als Induktionsvoraussetzung. Der Punkt x sei fixiert. Wir können annehmen, dass die Gewichtsfunktion so gewählt ist, dass B 2r (x) gilt. Wir bilden nun den Differenzenquotienten in die i-te Einheitsrichtung e i und berechnen für h R mit h < r den Differenzenquotienten D α u(x + he i ) D α u(x) h ( = 1 h = B 2r (x) B r (x) u(y)d α ψ(x + he i y)dy B r (x+he i ) B r (x) u(y) Dα ψ(x + he i y) D α ψ(x y) dy h u(y) i D α ψ(x y)dy u(y)d α ψ(x y)dy für h. Im letzten Schritt haben wir verwendet, dass die Funktion D α ψ(x y) nach x differenzierbar ist und dass sie für y B r (x) verschwindet. Die Konvergenz des Differenzenquotienten liefert, dass die Funktion D α u in Richtung e i differenzierbar ist. Zudem erhalten wir die behauptete Formel (2.8) für die Ableitung in Richtung α + e i. Damit ist die Induktionsbehauptung für k + 1 bewiesen. Die Regularitätsaussage aus Theorem 2.5 ist überraschend: Mit der Relation u = haben wir zwar Informationen über zweite Ableitungen von u, aber zunächst keine Information über höhere Ableitungen. Noch erstaunlicher wird das Ergebnis, wenn wir bedenken, dass Informationen über die Summe n i=1 i 2 u im Allgemeinen keine Information über den einzelnen Summanden liefert. ) Maximumprinzip für die Laplace-Gleichung Theorem 2.6 (Maximumprinzip). Sei R n offen und beschränkt, u C 2 () C ( ) sei harmonisch in. Dann gilt Schwaches Maximumprinzip. Die Funktion u nimmt ihr Maximum am Rand an, max u = maxu. (2.9)

28 2 Erste Eigenschaften von Lösungen Starkes Maximumprinzip. Falls zusammenhängend ist und u sein Maximum im Inneren annimmt, u(x ) = max u für ein x, so ist u konstant, also u maxu. (2.1) Beweis. Wir stellen zunächst fest, dass (2.9) aus (2.1) folgt. Für einen Widerspruchsbeweis nehmen wir an, dass u ein inneres Maximum in x besitzt mit u(x ) > max u. Eigenschaft (2.1) impliziert, dass u auf der Zusammenhangskomponente konstant ist. Da u stetig ist, nimmt dann u sein Maximum u(x ) auch auf dem Rand an, ein Widerspruch. Wir beweisen nun (2.1). Sei dazu M := max u der Maximalwert der stetigen Funktion u. Wir betrachten die Menge Q := {x u(x) = M} der Punkte, in denen das Maximum angenommen wird. Diese Menge ist in relativ abgeschlossen, denn u ist stetig (für eine Folge Q x k x gilt u(x) = lim k u(x k ) = M, also x Q). Wir behaupten, dass Q auch offen ist. Ist dies gezeigt, so folgt, dass Q eine Zusammenhangskomponente von ist, also nach Voraussetzung Q =. Damit ist auch u M auf gezeigt. Um die Offenheit von Q zu nachzuweisen, betrachten wir einen beliebigen Punkt x Q. Theorem 2.2 und die Definition von M implizieren, dass für B r (x ) u = u(x ) = M und u M in. B r (x ) Diese Eigenschaften implizieren u M auf jeder Kugel B r (x ). Um dies einzusehen nehmen wir das Gegenteil an, dass also die Funktion u in einem Punkt x B r (x ) einen Wert kleiner als M hat. Wegen der Stetigkeit von u hat für einen entsprechenden Radius r r dann der Mittelwert von u über B r (x ) einen Wert kleiner als M, ein Widerspruch. Damit ist u = M in einer Umgebung von x gezeigt, die Menge Q enthält also mit dem Punkt x auch noch eine Umgebung. Dies zeigt die Offenheit von Q. Die Aussagen aus Satz 2.6 gelten analog für Minima. Für einen Beweis genügt es, für eine harmonische Funktion u die harmonische Funktion u zu betrachten. Eindeutigkeit bei der Poisson-Gleichung Theorem 2.7 (Eindeutigkeit). Sei R n offen und beschränkt, g C ( ) und f C () seien gegeben. Dann gibt es höchstens eine Lösung u C 2 () C ( ) der Poisson-Gleichung u = f in, u = g auf.

2.2 Harmonische Funktionen 29 Beweis. Seien u 1 und u 2 zwei Lösungen. Dann erfüllt die Differenz w := u 1 u 2 die Gleichungen w = u 1 u 2 = f + f = auf, w = u 1 u 2 = g g = auf. Da w C 2 () C ( ) harmonisch ist, können wir das Maximumprinzip aus Satz 2.6 anwenden. Die Funktion w nimmt ihr Maximum auf dem Rand an, es gilt also w in. Da auch das Minimum am Rand angenommen wird, gilt zudem w, also insgesamt w. Wir haben damit die Eindeutigkeit u 1 = u 2 erhalten. Satz 2.7 deutet an, welche Daten in der Poisson-Gleichung vorgeschrieben werden müssen: eine rechte Seite f und die Randwerte g. Bemerkung zur Annahme von Randwerten. Im klassischen Lösungsbegriff werden immer zwei Regularitätsannahmen gefordert. Die Forderung u C 2 () erlaubt die klassische Berechnung von u in. Die Forderung u C ( ) erlaubt die sinnvolle Bestimmung von Randwerten der Funktion. Um die Problematik zu illustrieren, betrachten wir die Funktion { für x (,1) u : [,1] R, u(x) = 1 für x {,1} zu = (,1). Diese unstetige Funktion ist Lösung der Gleichungen u = in, u = 1 auf. Dennoch ist die Funktion u keine sinnvolle Lösung des Randwertproblems. Wir stellen insbesondere fest, dass ohne die Forderung u C ( ) die Eindeutigkeitsaussage nicht gilt. Das Dirichlet-Prinzip In vielen physikalisch motivierten Systemen lässt sich der Variablen u eine Energie zuordnen. Wir nehmen hier einen rein mathematischen Standpunkt ein und betrachten, für u : R, das Dirichlet 4 -Energiefunktional A(u) := u 2. (2.11) Da wir Randbedingungen festlegen möchten, betrachten wir für stetiges g : R Funktionen der Klasse 4 P.G.L. Dirichlet, 185 1859 X := { u C 2 () C 1 ( ) u = g auf }. (2.12)

3 2 Erste Eigenschaften von Lösungen Theorem 2.8 (Dirichlet-Prinzip). Sei offen und u X eine Funktion mit Dann ist u harmonisch in. A(u) = inf v X A(v). Das Dirichlet-Prinzip kann ein Verfahren liefern, um harmonische Funktionen zu vorgegebenen Randbedingungen zu finden. Zur Warnung sei dazu bemerkt, dass es auch zu glatt berandeten Gebieten Funktionen g C ( ) gibt, die keine stetige Fortsetzung mit quadratintegrablen Ableitungen besitzen (siehe Übungen 6.3 und 3.16). Beweis. Wir wählen eine Funktion w C 2 () mit kompaktem Träger in und ε >. Zu den Variationen εw betrachten wir die Vergleichsfunktionen u ε := u+εw. Es gilt u ε X und wegen der Minimalität von u A(u ε) A(u) = 1 (u + εw) (u + εw) u 2 ε ε = 2 u w + ε w 2 2 u w = 2 ( u) w im Limes ε. Bei der partiellen Integration in der letzten Gleichung verschwindet der Randterm, weil w einen kompakten Träger hat. Da wir als Variationsrichtung anstelle von w auch w verwenden können, gilt ( u)w =. Da w eine beliebige Funktion war, schließen wir u =. 2.3 Erste zeitabhängige Gleichungen Maximumprinzip für die Wärmeleitungsgleichung Wieder sei R n offen und beschränkt, für das zeitabhängige Problem geben wir uns zusätzlich mit einer Zahl T (, ] ein Zeitintervall (,T ) vor. Diese Daten definieren den Raum-Zeit Zylinder T := (,T ) R n R. Lösungen u = u(x,t) sind Abbildungen u : T R. Der Mantel des Zylinders ist Γ T := [,T ], hier werden wir Randbedingungen stellen, der Boden des Zylinders ist Γ := {}, hier werden wir Anfangsbedingungen stellen. Als parabolischen Rand des Zylinders bezeichnet man die Vereinigung dieser beiden Mengen, Γ := Γ T Γ. Wenn u wieder die Temperatur in einem Körper bezeichnet, so erwarten wir, dass u nicht größer werden kann als die maximale Temperatur auf Γ. Tatsächlich werden wir genau diese Aussage im nachfolgenden parabolischen Maximumprinzip nachweisen. Als mathematische Motivation für das Maximumprinzip führen wir noch vor der Präsentation des Satzes eine geometrische Überlegung durch. Dazu sei u : T R eine Lösung der Wärmeleitungsgleichung und u sei maximal in einem inneren Punkt

2.3 Erste zeitabhängige Gleichungen 31 (x,t) T. Dann hat die Funktion u(.,t) : R im Punkt x ein Maximum und erfüllt daher die notwendige Bedingung u(x, t). Die Evolutionsgleichung liefert in diesem Punkt also t u(x,t) = u(x,t). Wir schließen, dass der Wert von u im Maximum jedenfalls nicht zunehmen kann. Diese Überlegung legt nahe, dass keine Maxima in T entstehen können. t u x 1 x 2 x Abb. 2.2 Links: Ein Raum-Zeit Zylinder. Rechts: Die Funktion u(.,t) für einen festen Zeitpunkt t >. Im räumlichen Maximum (einem Maximum von u(.,t) in ) gilt t u. Theorem 2.9 (Parabolisches Maximumprinzip). Sei R n offen und beschränkt, T = (,T ) ein Raum-Zeit Zylinder und Γ der parabolische Rand. Die Funktion u C 2 ( T ) C ( T ) sei eine Lösung der Wärmeleitungsgleichung Dann gilt das schwache Maximumprinzip t u = u in T. (2.13) max T u maxu. (2.14) Γ Beweis. Wir führen die Abkürzung M := max Γ u für den Maximalwert auf dem parabolischen Rand ein. Ohne Einschränkung können wir M = 1 annehmen, dies kann durch Addition einer konstanten Funktion zu u erreicht werden. Für einen Widerspruchsbeweis nehmen wir an, dass (2.14) nicht gilt. Dann finden wir eine Zahl ε > und einen Punkt (x,t ) T mit u(x,t ) = M +ε = 1+ε. Wir wollen nun aus der Funktion u eine Funktion v C 2 ( T ) C ( T ) konstruieren, die ebenfalls ein inneres Maximum hat, für die ein inneres Maximum aber sofort zu einem Widerspruch führt. Für eine kleine Zahl λ > setzen wir v(x,t) := e λ(t t) u(x,t). Dabei soll λ so gewählt sein, dass e λt 1 + ε/2. Insbesondere gelten für v dann die Bedingungen v Γ e λt max Γ u 1 + ε 2,

32 2 Erste Eigenschaften von Lösungen v(x,t ) = e λ(t t ) u(x,t ) = 1 + ε. Wir schließen, dass v genau wie u ein inneres Maximum haben muss. Es gibt also einen Punkt (x 1,t 1 ) (,t ], für den v(x 1,t 1 ) = max [,t ] v 1 + ε. In diesem Maximum (x 1,t 1 ) gelten die geometrischen Bedingungen der Maximalität, t v(x 1,t 1 ) und v(x 1,t 1 ). Andererseits löst die Funktion v auf T eine modifizierte Wärmeleitungsgleichung; die Produktregel liefert t v = λe λ(t t) u + e λ(t t) t u = λv + v. Diese Gleichung ist im Widerspruch zu den geometrischen Bedingungen im Maximum, t v(x 1,t 1 ) = λv(x 1,t 1 ) + v(x 1,t 1 ) λv(x 1,t 1 ) <. Dieser Widerspruch beweist den Satz. Die analoge Aussage gilt auch für Minima, wie sich durch Anwendung des Satzes auf u beweisen lässt. Wie schon bei der Poisson-Gleichung liefert das Maximumprinzip auch im instationären Fall eine Eindeutigkeitsaussage. Korollar 2.1 (Eindeutigkeit). Es seien R n und T = (,T ) wie in Theorem 2.9, f C ( T ), u C ( ) und g C ( [,T ]). Dann gibt es höchstens eine Lösung u C 2 ( T ) C ( T ) der inhomogenen Wärmeleitungsgleichung t u u = f in T, zu den Randdaten u = g auf [,T ] und den Anfangsdaten u(.,) = u auf. Beweis. Seien u 1 und u 2 zwei Lösungen der Gleichung, wir betrachten die Differenz w = u 1 u 2. Die Funktion w löst eine homogene Wärmeleitungsgleichung mit verschwindenden Rand- und Anfangswerten. Das Maximumprinzip liefert w und damit u 1 = u 2. Das Korollar liefert uns einen Hinweis darauf, welche Daten zu einer Wärmeleitungsgleichung gehören. Es sind dies neben der rechten Seite f die Randdaten g und die Anfangsdaten u. Elementare Lösungen einer Transportgleichung Wir wollen nun eine Gleichung betrachten, in der nur Ableitungen erster Ordnung vorkommen. Das eindimensionale räumliche Gebiet sei der Ganzraum = R, wir untersuchen Abbildungen u : R (, ) (x,t) u(x,t) R, welche die Gleichung t u + x u = (2.15)

2.3 Erste zeitabhängige Gleichungen 33 lösen. Wieder untersuchen wir das Anfangswertproblem, komplettieren also (2.15) mit der Anfangsbedingung u(.,) = u. (2.16) Wir verwenden wieder einen klassischen Lösungsbegriff und suchen u C 1 (R (, )) C (R [, )) zur Anfangsbedingung u C 1 (R,R). Die Lösung u des so gestellten Problems lässt sich leicht angeben, denn Gleichung (2.15) kann geschrieben werden als ( ) 1 1 (x,t) u =. Die Indizes am Gradienten sollen deutlich machen, dass es sich hier um den vollen Gradienten im Raum-Zeit-Gebiet handelt (während wir sonst die Operatoren = x und = x immer als räumliche Operatoren verstehen). In dieser Form der Gleichung sehen wir, dass für jedes x R die Lösung entlang von Geraden t γ(t) := (x +t,t) konstant ist, denn es gilt d dt (u γ)(t) = (x,t)u(γ(t)) γ (t) =. Die Geraden heißen die Charakteristiken der Gleichung. Wir erhalten für die Lösung u die Formel u(x,t) = u (x t). (2.17) Die Lösungseigenschaft lässt sich mit der elementaren Rechnung t u(x,t) = u (x +t) = xu(x,t) und u(x,) = u (x) leicht verifizieren. Die Lösung besteht also aus einer Verschiebung der Anfangswerte um t nach rechts, daher der Name Transportgleichung. t t x x Abb. 2.3 Links: Charakteristiken für die Gleichung t u + x u =. Entlang jeder Geraden γ(t) = (x +t,t) ist die Lösung u konstant. Rechts: Auf einem beschränkten Gebiet bestimmen die Charakteristiken, wo Randbedingungen vorgegeben werden müssen, und wo keine Randbedingungen vorgegeben werden dürfen. Die hier gefundene Lösung zu einer sehr einfachen Gleichung gibt bereits einige Hinweise über das typische Verhalten von Lösungen zu Gleichungen erster Ordnung: 1. Die Lösung wird mit der Zeit nicht glatter, im Inneren des Gebietes ist die Lösung nicht regulärer als am Rand. 2. Es gibt eine endliche Ausbreitungsgeschwindigkeit, denn für die Geschwindigkeit c = 1 gilt: die Lösung in einem Punkt (x,t ) hängt zwar von den Anfangswerten u ab, aber eine Modifikation von u außerhalb des Intervalls x [x ct,x + ct ] verändert den Wert u(x,t ) nicht.

34 2 Erste Eigenschaften von Lösungen Die inhomogene Gleichung. Wir betrachten nun die Transportgleichung mit einer rechten Seite f, t u + x u = f (2.18) in R (, ), wobei wir f C 1 (R [, ),R) als gegeben ansehen. Wir haben für die homogene Transportgleichung festgestellt, dass die Lösung entlang der Charakteristiken konstant ist; diese Relation wird durch die rechte Seite modifiziert zu d dt (u γ)(t) = f (γ(t)). Diese Gleichung kann integriert werden und wir erhalten t u(x,t) = u (x t) + f (x t + s,s)ds. (2.19) Die Lösungsformel (2.19) für Gleichung (2.18) kann wieder durch Nachrechnen bestätigt werden, t u(x,t) = u (x t) + f (x,t) x u(x,t) = u (x t) + t t 1 f (x t + s,s)ds. 1 f (x t + s,s)ds, Beschränkte Gebiete. Schon im eindimensionalen Fall sieht man anhand der Charakteristiken, dass für einen Raum-Zeit Zylinder (a, b) (, ) die Ränder links und rechts, also {a} (, ) und {b} (, ), unterschiedlich behandelt werden müssen. Laufen die Charakteristiken wie in unserem Beispiel nach rechts, so gilt: Am linken Rand müssen die Werte von u vorgegeben werden, damit der Wert entlang der Charakteristik bestimmt ist. Am rechten Rand können keine Werte vorgegeben werden, siehe Abbildung 2.3 Die eindimensionale Wellengleichung Die lineare Wellengleichung zweiter Ordnung lautet 2 t u = u. (2.2) Sie wird als einfaches Modell in vielen physikalischen Anwendungen benutzt, zum Beispiel in der Beschreibung elastischer Materialien, der Ausbreitung von Schallwellen oder elektromagnetischen Wellen. Für die Modellierung in diesen Anwendungen siehe Abschnitt 12.1 und Übung 2.1. Hier wollen wir nur den eindimensionalen Fall betrachten, die Gleichung für die Schwingungen einer Saite. Wenn u(x,t) die Auslenkung der Saite aus der Ruhelage zur Zeit t > an einem Referenzpunkt x R beschreibt, so ist u(x,t) = 2 x u(x,t) ein Maß für die Krümmung an diesem Punkt, und damit ein Maß für die rücktrei-

2.3 Erste zeitabhängige Gleichungen 35 bende Kraft. Nach dem Newton schen 5 Gesetz Impulsänderung = Kraft gilt für eine normierte Massendichte daher die eindimensionale Version von (2.2), 2 t u = 2 x u. (2.21) Wir betrachten hier das Ganzraumproblem und suchen u : R [, ) R. In Analogie zu gewöhnlichen Differentialgleichungen zweiter Ordnung sehen wir Anfangsbedingungen für die Werte und die ersten Zeitableitungen vor, u(.,) = u, t u(.,) = u 1. (2.22) Die Anfangsbedingungen sollen klassische Lösungen zulassen, wir nehmen daher u C 2 (R,R) und u 1 C 2 (R,R) an. Zwei Lösungen der Gleichung (2.21) lassen sich elementar angeben. Für beliebige Funktionen ϕ,ψ C 2 (R,R) erfüllen u(x,t) = ϕ(x +t) und u(x,t) = ψ(x t) (2.23) die Wellengleichung. Dies kann durch zweifaches Differenzieren verifiziert werden. Dadurch, dass wir zwei Elementarlösungen zur Verfügung haben, können wir durch Superposition beide Anfangsbedingungen aus (2.22) erfüllen. Statt die gesuchte Lösung direkt anzugeben, wollen wir die Lösung der Wellengleichung mit Hilfe der Ergebnisse zur Transportgleichung berechnen. Zunächst schreiben wir die Wellengleichung in der Form ( t + x )( t x )u =. Dies bedeutet, dass v(x,t) := ( t x )u(x,t) die Transportgleichung ( t + x )v =, v(.,) = u 1 x u löst. Wie im letzten Abschnitt gesehen ist die Lösung dieser Gleichung durch v(x,t) = v(x t,) = [u 1 x u ](x t) gegeben. Wir müssen nun die inhomogene Transportgleichung ( t x )u(x,t) = v(x,t) (2.24) nach u auflösen. Wir verwenden dazu die Formel (2.19) und bedenken dabei das umgekehrte Vorzeichen in der Gleichung. u(x,t) = u (x +t) + 5 I. Newton, 1642 1727 = u (x +t) + t t v(x +t s,s)ds [u 1 x u ](x +t 2s)ds

36 2 Erste Eigenschaften von Lösungen = u (x +t) + 1 t 2 [u (x t) u (x +t)] + u 1 (x +t 2s)ds. Wir schreiben diesen expliziten Ausdruck für u(x, t) in einer symmetrischen Form als u(x,t) = 1 2 [u (x +t) + u (x t)] + 1 2 x+t x t u 1 (y)dy. (2.25) Diese Darstellung der Lösung heißt die d Alembert sche 6 Formel für die eindimensionale Wellengleichung. Man kann durch Einsetzen leicht verifizieren, dass sie tatsächlich eine Lösung liefert. Ähnliche explizite Lösungsdarstellungen sind auch in höherer Raumdimension möglich, siehe Theorem 12.2 und Theorem 12.3. Die Wellengleichung hat in zwei wesentlichen Punkten dieselben Eigenschaften wie die Transportgleichung. 1. Die Lösung ist nicht regulärer als die Anfangsdaten u. 2. Es liegt eine endliche Ausbreitungsgeschwindigkeit vor. Übungen Übung 2.1 (Die eindimensionale Laplacegleichung) Sei = (a, b) R ein Intervall. Geben Sie alle Lösungen zu folgenden Gleichungen an, wobei v,w,y,z R reelle Zahlen sind. u = in, u(a) = v, u(b) = w (2.26) u = in, u(a) = v, u (b) = z (2.27) u = in, u (a) = y, u (b) = z (2.28) Verifizieren Sie, dass Eindeutigkeit, Maximumprinzip und Mittelwertformel gelten. Übung 2.2 (Ein Maximumprinzip für subharmonische Funktionen) Sei R n ein beschränktes Gebiet, u C 2 () C ( ). a) Sei u strikt subharmonisch, also u < in. Zeigen Sie, dass u in kein lokales Maximum besitzt. b) Sei u subharmonisch, also u in. Weisen Sie nach, dass u sein Maximum auf dem Rand annimmt, max u = max u. Hinweis zu b): Addieren Sie die Funktion ε exp(x 1 ) mit ε > und verwenden Sie a). Übung 2.3 (Eine notwendige Bedingung für Neumann-Randwerte) Sei R n ein Gebiet mit C 1 -Rand und äußerem Normalenfeld ν. Die Funktion u C 2 ( ) sei eine Lösung von 6 J.-B. le Rond D Alembert, 1717 1783

2.3 Erste zeitabhängige Gleichungen 37 u = f in, ν u = ψ auf. Zeigen Sie, dass dann notwendigerweise ψ(x)ds(x) = f (x)dx. Übung 2.4 (Invarianz des Laplaceoperators) Wir betrachten zwei Koordinatensysteme, gegeben durch zwei orthonormale Basen des R n, (e 1,...,e n ) und (v 1,...,v n ). Ein Punkt P R n wird geschrieben als P = n k=1 x ke k = n k=1 y kv k, hat also den Koordinatenvektor x = (x 1,...,x n ) in der ersten Basis und den Koordinatenvektor y = (y 1,...,y n ) = Sx in der zweiten Basis, wobei S R n n eine orthonormale Matrix ist. Berechnen Sie für u : R n R den Gradienten u(p) in beiden Koordinatensystemen. Stellen Sie fest, dass u(p) unabhängig vom Koordinatensystem ist. Übung 2.5 (Wellengleichung) Bestimmen Sie auf R [, ) durch die Auswertung der d Alambert-Formel die formale Lösung u zur Wellengleichung t 2 u = x 2 u mit Anfangswerten { 1 für x < 1 u(x,) = t u(.,) =. sonst, Überlegen Sie, inwiefern die Anfangswerte angenommen werden. Übung 2.6 (Zusammenhang: harmonisch holomorph konform) Sei D C R 2 offen und f : D C, f = u + iv eine Funktion. Zeigen Sie: a) f holomorph u = v = in D. b) Ist D ein achsenparalleles Rechteck und u : D R harmonisch, so gibt es eine holomorphe Funktion f : D C mit Realteil u. c) f (x, y) = (u(x, y), v(x, y)) heißt konform, falls gilt u 2 = v 2, u, v =. Zeigen Sie: Falls f holomorph und nicht konstant ist, so ist f konform. d) Sei u C 2 (R 2,R) harmonisch und Φ : R 2 R 2 konform. Beweisen Sie, dass dann auch u Φ : R 2 R harmonisch ist. Übung 2.7 (Rotation eines Vektorfeldes) Die Rotation eines stetig differenzierbaren Vektorfeldes V : R 3 R 3 ist definiert durch curlv = ( x2 V 3 x3 V 2, x3 V 1 x1 V 3, x1 V 2 x2 V 3 ). Gegeben sei ein Gebiet R 3 mit C 1 -Rand und äußerem Normalfeld ν, sowie ein Vektorfeld F C 2 (,R 3 ). Zeigen Sie die Relation

38 2 Erste Eigenschaften von Lösungen curlf ν ds =. Übung 2.8 (Green sche Formel) Sei D R n ein C 1 -berandetes beschränktes Gebiet mit äußerem Normalenfeld ν. Zeigen Sie für f,g C 2 (,R) die Green sche Formel ( f g f g) dl n = (ν f g f ν g) dh n 1. D D Übung 2.9 (Eindeutigkeit bei der Wärmeleitungsgleichung) Sei R n ein beschränktes Gebiet mit C 1 -Rand. a) Beweisen Sie die Eindeutigkeit von Lösungen u C 2 ( [,T )) der inhomogenen Wärmeleitungsgleichung, ohne das Maximumprinzip zu benutzen. Stellen Sie dafür für zwei Lösungen u 1 und u 2 die Gleichung für die Differenz w = u 1 u 2 auf. Multiplizieren Sie diese Gleichung mit w, integrieren Sie partiell, und verwenden Sie die folgende Poincaré Ungleichung mit C = C() > : u C 1 ( ) mit u = gilt u L 2 () C u L 2 (). b) Zeigen Sie, dass für die homogene Wärmeleitungsgleichung mit Randwerten die Nulllösung stabil ist: Für alle Anfangsdaten u C 2 ( ) konvergiert die zugehörige Lösung u gegen für t. Übung 2.1 (Maxwell-Gleichungen) Wir betrachten Vektorfelder E,B : R 3 R 3, die zweimal stetig differenzierbar sind. Differentialoperatoren werden auf Vektorfelder stets komponentenweise angewandt, also zum Beispiel a) Beweisen Sie E = ( E 1, E 2, E 3 ). curlcurle = E + graddive. b) Seien E,B : R 3 R R 3, E = E(x,t), B = B(x,t) zweimal stetig differenzierbare Lösungen der Maxwell-Gleichungen, div x E =, div x B =, E t = curl x B, B t = curl xe. Beweisen Sie, dass E und B Wellengleichungen erfüllen, 2 t E E =, 2 t B B =.

http://www.springer.com/978-3-642-4637-9