Chancengleichheit an Schweizer Schulen? PISA zwischen Forschung, Praxis und Lehre



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Transkript:

Von Judith Hollenweger Departementsleiterin Forschung und Entwicklung, Pädagogische Hochschule Zürich Chancengleichheit an Schweizer Schulen? PISA zwischen Forschung, Praxis und Lehre Um die PISA-Resultate richtig zu interpretieren und Empfehlungen für Massnahmen abgeben zu können, sind Vertiefungsstudien in den einzelnen Ländern nötig. Die Tatsache, dass die Leistungsunterschiede der 15-Jährigen in der Schweiz grösser sind als in anderen Ländern und zudem ein stärkerer Zusammenhang zwischen schulischer Leistung und sozialer und kultureller Herkunft besteht, lässt den Schluss zu, dass in der Schweiz Kinder aus bildungsfernen Schichten weniger als anderswo Chancen haben, um in der Schule zu reüssieren. Der folgende Beitrag zeigt auf, wie sich die Forschung der Frage der Selektivität der Schweizer Schulen nähert und wie es in Bezug auf Massnahmen zu einem Zusammenspiel von Forschung, Praxis und Lehre kommen kann. Einleitung Das von der OECD (Organisation for Economic Cooperation and Development) koordinierte Programm für internationale Leistungsmessung der 15-Jährigen (PISA) bewegt die Schweizer Bildungspolitiker/innen und die Öffentlichkeit. PISA misst nicht nur die Lesekompetenz sowie mathematische und naturwissenschaftliche Kompetenzen, sondern kann diese auch mit verschiedenen Kontextfaktoren in Beziehung setzen. Die gleichzeitig erhobenen Informationen im Schulfragebogen und Schülerfragebogen 1 erlauben einen Vergleich der Leistungen mit verschiedenen Faktoren des schulischen und familiären Umfelds der getesteten Jugendlichen. Die hinter den Fragen stehenden Konstrukte sind wissenschaftlich abgestützt und das Ergebnis eines international getroffenen Konsenses. Aus den PISA-Resultaten sollten somit verlässliche und eindeutige Folgerungen für die Praxis gezogen werden können oder nicht? Die Komplexität und Vielschichtigkeit der Zusammenhänge zwischen den verschiedenen Variablen und Konstrukten macht es fast unmöglich, alle Interaktionen und Beziehungen gleichzeitig zu betrachten. Je mehr Variablen berücksichtigt werden je mehr sich die Forschungsanlage also der Realität annähert desto schwieriger wird es, eindeutige Zusammenhänge und klare Empfehlungen für die Praxis zu geben. Andererseits sind Forschungsergebnisse aus Untersuchungen in laborähnlichen Situationen zwar eindeutiger, aber sie lassen sich kaum generalisieren und auf andere Kontexte übertragen. Ganz so einfach ist eine Beziehung zwischen Forschung und Praxis nicht herzustellen; es braucht einen längeren Prozess der gegenseitigen Auseinandersetzung und des Dialogs, der sicherstellt, dass die Forschung für die Praxis relevante Fragen stellt und die Praxis die Ergebnisse der Forschung zu deuten und bei ihrer Weiterentwicklung zu berücksichtigen versteht. Ende Juni fand eine Medienorientierung zu den Resultaten der vom Bund (BFS) und den Kantonen (EDK) in Auftrag gegebenen PISA-Vertiefungsstudien statt. Dabei wurden auch die Empfehlungen für die Praxis und die nächsten Schritte für Reformen bekannt gegeben. Wir haben somit die Gelegenheit erhalten, eins zu eins die Umsetzung von Forschungsergebnissen in die Praxis mitverfolgen zu können. Nicht zufällig steht zwischen Forschung und Praxis in diesem Fall ein politischer Prozess. Bildungssysteme sind öffentliche Einrichtungen und die Umph I akzente 02/2003 19

Tabelle 1 Mittelwerte und Streuungen der Testwerte in ausgewählten Ländern: Gesamtskala Lesen (Pisa Daten 2000) Standard- Perzentile Länder Mittelwert abweichung 5 10 25 75 90 95 95-5* Belgien 507 107 308 354 437 587 634 659 351 Deutschland 484 111 284 335 417 562 619 650 366 Finnland 546 89 360 429 492 608 654 681 291 Frankreich 505 92 344 381 444 570 619 645 301 Kanada 534 95 371 410 472 600 652 681 310 Schweiz 494 102 316 355 426 567 621 651 335 OECD 500 100 324 366 435 571 623 652 328 * Differenz zwischen dem 5. und 95. Perzentil setzung von Forschungsergebnissen in die Praxis geschieht in demokratischen Systemen nur über einen öffentlichen Diskurs. Im Folgenden soll dieser Prozess von Forschung, Diskurs und Umsetzung in die Praxis am Beispiel einer der PISA-Vertiefungsstudien aufgezeigt werden. Die Studie Soziale Integration und Leistungsförderung (Coradi Vellacott, Hollenweger, Nicolet, Wolter, 2003) beschäftigt sich mit der Frage, weshalb es in der Schweiz weniger gut als in anderen Ländern gelingt, sozial und/oder sprachlich benachteiligte Jugendliche zu fördern. In der Schweiz wie auch in Deutschland kann ein enger Zusammenhang zwischen Sozialschichtzugehörigkeit und Lesekompetenz beobachtet werden, der in anderen Ländern nicht so ausgeprägt vorhanden zu sein scheint. Es stellt sich also die Frage, inwieweit das Schweizer Bildungssystem Kinder aus benachteiligten Familien diskriminiert oder weshalb es in der Schweiz weniger gut gelingt, diese Nachteile während der Schulzeit auszugleichen. Ist das Schweizer Schulsystem ungerecht? Weshalb also gelingt es einigen anderen Ländern mit ihren jeweiligen Schulsystemen besser, soziale und sprachliche Benachteiligungen auszugleichen? Bevor wir uns dieser Frage zuwenden können, muss aufgezeigt werden, wie sich diese Thematik in den PISA-Daten zeigt. Sowohl im internationalen (OECD 2001) als auch im nationalen Bericht für die Schweiz (BFS/EDK 2001) wurde dieser Fragestellung ein Kapitel gewidmet. Zwei Aspekte der Verteilung der Leistungen in den Ländern weisen auf Chancenungleichheiten hin; einerseits eine sehr grosse Streuung zwischen den besten und schlechtesten Leistungen in einem Land und andererseits eine enge Bindung der Leistung an den Sozialstatus. Auf diese beiden Aspekte in den PISA-Ergebnissen soll nun kurz eingegangen werden. In der Schweiz liegt der Mittelwert der «Gesamtskala Lesen» bei 494 Punkten; der Durchschnittsschüler, die Durchschnittsschülerin ist somit etwas schlechter als der OECD-Mittelwert (500 Punkte, vgl. Tabelle 1). Neben dem Mittelwert geben die Standardabweichung (Mass für die Streuung der Messwerte) und die Verteilung der Messwerte auf die verschiedenen Perzentile erste Hinweise auf die Unterschiede zwischen den Ländern. Die Leistungen der Schweizer 15-Jährigen liegen somit tiefer als diejenigen in Ländern wie Finnland (546) oder Kanada (534). Zudem ist die Differenz zwischen guten und schlechten Leistungen grösser als in anderen Ländern (335 Punkte statt 291 in Finnland). Dies bedeutet, dass der Unterschied zwischen den schlechtesten und den besten Leistungen in der Schweiz grösser ist als in Ländern wie Finnland oder Kanada. Die schlechtesten Schülerinnen und Schüler in der Schweiz sind also signifikant schlechter und die guten etwas weniger gut als in den besten Ländern. Im Vergleich mit Frankreich sind die besten Schweizer Leistungen höher aber die schlechtesten auch einiges tiefer. Neben diesen im Vergleich mit den meisten anderen Ländern grossen Unterschieden in der Leistung motivierte noch eine weitere Tatsache zu dieser Vertiefungsstudie: Die schlechtesten Schülerinnen und Schüler in der Schweiz waren nicht nur besonders schlecht, sie kommen auch viel häufiger als in anderen Ländern aus tieferen Sozialschichten und/oder sind ausländischer Herkunft. Schichtzugehörigkeit und Erwerb von Lesekompetenz stehen in einem Zusammenhang; diese Tatsache ist seit langem durch die Forschung belegt und kann anhand der PISA-Daten in allen Ländern beobachtet werden. Allerdings scheint der Einfluss der sozialen Herkunft in einigen Ländern stärker und in anderen Ländern weniger ausgeprägt mit den Leseleistungen in Zusammenhang zu stehen. 20 ph I akzente 02/2003

Ausgangspunkt für die vertiefte Analyse dieser Frage war eine grobe Einteilung der Länder in vier Typen: 1. Länder mit einem engen Zusammenhang zwischen Leistung und sozialer Herkunft auf hohem Leistungsniveau; 2. Länder mit einem engen Zusammenhang zwischen Leistung und sozialer Herkunft auf tiefem Leistungsniveau; 3. Länder mit einem wenig ausgeprägten Zusammenhang zwischen Leistung und sozialer Herkunft auf tiefem Leistungsniveau und 4. Länder mit einem wenig ausgeprägten Zusammenhang zwischen Leistung und sozialer Herkunft auf hohem Leistungsniveau. In einer Graphik dargestellt, können ausgewählte Länder somit einem dieser vier Quadranten zugeordnet werden: Abbildung 1 Staaten nach mittlerer Leseleistung und sozialem Gradienten der Lesekompetenz Flacher Sozialer Gradient Finnland 2 Hohe Lesekompetenz Kanada 2 Russland 2 Brasilien 2 Tiefe Lesekompetenz 2 Grossbritannien 2 Belgien 2 Schweiz Deutschland 2 Steiler Sozialer Gradient Deutschland und die Schweiz sind Länder, in denen ein relativ enger Zusammenhang zwischen Leistung und sozialer Herkunft bei eher tiefer Leistung beobachtet werden kann. Im deutschen Bericht wird kommentiert: «Während in Deutschland die Koppelung von sozialer Lage der Herkunftsfamilie und dem Kompetenzerwerb der nachwachsenden Generation ungewöhnlich straff ist, gelingt es in anderen Staaten ganz unterschiedlicher geographischer Lage und kultureller Tradition, trotz ähnlicher Sozialstruktur der Bevölkerung, die Auswirkungen der sozialen Herkunft zu begrenzen. Dies ist in der Regel auf eine erfolgreichere Förderung von Kindern und Jugendlichen aus sozial schwächeren Schichten zurückzuführen.» (Deutsches PISA- Konsortium 2001, 393). Ist also das Schweizer und das deutsche Schulsystem besonders ungerecht und sollten Massnahmen ergriffen werden, um unser System möglichst an Kanada und Finnland anzupassen? Bevor voreilige Schlüsse zu Veränderungen in der Praxis führen, braucht es allerdings eine vertiefte Analyse aller Faktoren. Dies war der Auftrag der Studie, die im Folgenden kurz dargestellt werden soll. Führen neue Forschungsergebnisse... Für die vertiefenden Analysen der Zusammenhänge zwischen sozialer, sprachlicher und kultureller Herkunft und den PISA-Leistungen wurden fünf Länder ausgewählt, die kulturell mit der Schweiz vergleichbar und für die Fragestellung interessant sind: Belgien, Finnland, Frankreich, Kanada, Deutschland. Wir verwendeten sowohl quantitative als auch qualitative Methoden, die es ermöglichen sollten, die PISA-Daten mit anderen OECD-Statistiken und international vergleichbaren Daten (Anteil ausländischer Bevölkerung, Bildungsausgaben, Alter bei erster Selektion, Fördersysteme) sowie mehr qualitativen Informationen (Migrationspolitik, demographische Faktoren, Eigenschaften des Schulsystems) in Beziehung zu setzen. Mittels einer Mehrebenenanalyse wurden verschiedene systemische Faktoren auf Zusammenhänge mit schülerspezifischen Faktoren (Bildungsnähe der Familie, Fremdsprachigkeit, Anzahl Geschwister, Migrationsstatus) getestet. Aufgrund der quantitativen Analyse können nur drei der verfügbaren Variablen mit der sozialen Selektivität der Bildungssysteme in Zusammenhang gebracht werden: höhere relative Bildungsausgaben (im Verhältnis zum gesamten Bruttoinlandprodukt), spätere Selektion im Bildungssystem und tiefere Anteile immigrierter Kinder und Jugendlicher hängen mit einer tieferen sozialen Selektivität der Bildungssysteme signifikant zusammen. Andere Faktoren, von deren positiver Wirkung wir eigentlich ausgehen, wie frühe Förderung, hohe absolute Bildungsausgaben oder das Vorhandensein von Unterstützungssystemen für schwache Kinder, zeigten keine signifikanten Zusammenhänge mit der sozialen Selektivität der Bildungssysteme. Die Modellrechnungen zeigten auf: Wenn die Schweiz wie Finnland erst im Alter von 16 Jahren eine erste Selektion vornehmen und der Ausländeranteil auf dem gleichen Niveau liegen würde, wäre die Schweiz sozial gleich wie oder sogar etwas gerechter als Finnland. Die späte Einschulung und frühe erste Selektion in der Schweiz gibt Kindern aus bildungsferneren Familien möglicherweise nicht genügend Zeit, um ihre Benachteiligungen in Interaktion mit Kindern aus bildungsnäheren und sozial besser gestellten Familien zu kompensieren. Der hohe Anteil immigrierter Kinder führt in gewissen Klassen zu einem Kippeffekt: Bei mehr als 30% fremdsprachiger Kinder können diese in den meisten Fällen nicht mehr genügend gefördert werden, wenn keine zusätzlichen Ressourcen aufgewendet werden. Je nach politischer Couleur oder beruflicher Motivation könnte man aus diesen Ergebnissen schon viel ph I akzente 02/2003 21

Sprengstoff beziehen: keine Repetitionen und keine Selektion mehr vor Ende der Sekundarstufe I? Keine Ausländerinnen und Ausländer mehr in die Schweiz einreisen lassen? QUIMS 2 ausweiten auf alle Klassen mit einem Anteil fremdsprachiger Kinder von 30 und mehr Prozent? Bildungsausgaben erhöhen? Die Ergebnisse der quantitativen Analysen können uns wohl eindeutige Zusammenhänge aufzeigen, doch bleiben die komplexen und zum Teil widersprüchlichen Realitäten dahinter nur teilweise berücksichtigt. Ein Hinabsteigen in die Untiefen der verschiedenen Bildungssysteme ist unvermeidlich. Auf der Basis der komplexen und vielschichtigen PISA-Daten sowie unseren zusätzlichen quantitativen Analysen wagten wir also einen Vergleich der Bildungssysteme sowie der sie beeinflussenden Kontextfaktoren. Zwei der wichtigsten Ergebnisse sollen hier angeführt werden: (1) Die pädagogische Gesamtbeurteilung unter Einbezug der Eltern, welche von der abgebenden Lehrperson beim Übergang zwischen Primar- und Sekundarstufe getroffen wird, verstärkt in der Schweiz ziemlich sicher die Wirkung sozialer Unterschiede. (2) In der Schweiz gibt es besonders viele Kinder und Jugendliche, die mehrfach belastet sind: Sie stammen häufiger aus bildungsfernen, sozial tieferstehenden Familien, die in die Schweiz immigriert sind und eine andere Sprache als die Testsprache sprechen. zu einer neuen Praxis? Unsere Empfehlungen zur Frage der Selektion nach der Primarschule gehen dahin, diese nicht abzuschaffen, sondern die Prozesse, welche die sozialen Ungleichheiten offensichtlich verstärken, genauer zu untersuchen. Möglicherweise müsste die Gesamtbeurteilung, die stets auch die Elternwünsche berücksichtigt, mit einem zentral durchgeführten Test ergänzt werden. Die pädagogisierende, verständnisvolle Haltung dem Kind gegenüber, die Überforderungen vermeiden möchte, könnte vor allem bei Kindern aus benachteiligten Familien zu einer Ungleichbehandlung führen. Zu dieser Empfehlung kann die Schule also konkret etwas beitragen. Für die Verbesserung der Situation mehrfach belasteter Schülerinnen und Schüler, die in Klassen mit ihresgleichen unterrichtet werden, gibt es keine einfache Lösung oder Empfehlung. Die hohe Konzentration betroffener Schülerinnen und Schüler in einzelnen Klassen könnte verringert werden, wenn eine bessere soziale Durchmischung der Schülerschaft erreicht werden könnte. Flächendeckende Massnahmen zur frühen Integration und Leistungsförderung könnten die kumulierende Wirkung von Fremdsprachigkeit, Bildungsferne und fehlenden Ressourcen der Familie möglicherweise verhindern oder mindern. Eine Veränderung der Migrationspolitik könnte in Zukunft dafür sorgen, dass wie etwa in Kanada mit einem Punktesystem einreisende Familien bereits über Kenntnisse der Unterrichtssprache und/oder über eine hohe berufliche Qualifikation verfügen. Für stark belastete Klassen könnten zusätzliche Ressourcen zur Verfügung gestellt werden. Welche dieser Möglichkeiten tatsächlich ins Auge gefasst werden sollen und welche im politischen Diskurs auch mit der Lehrerschaft überhaupt eine Chance zur Umsetzung haben, wird sich zeigen. Wieviel Chancengleichheit wir letztlich wollen, ist auch eine Frage des politischen Willens und des Empfindens der Bevölkerung. Erste Stimmen hierzu haben sich aufgrund einer Publikation in der Weltwoche 3 bereits erhoben. Sie ergeben in ihrer Gesamtheit ein Stimmungsbild und bestätigen eine alte Tatsache: Wir verstehen das, was wir verstehen können und wollen. Die Autoren haben auf ihren pointierten, aber sachlich korrekten Beitrag böse Anwürfe erhalten; sie lassen sich auf den Internet-Seiten der Weltwoche nachlesen. So schreibt eine Person im Forum zu diesem Artikel: «Wir brauchen die Putzfrau sogar viel dringender als den Politologen... Das ist tatsächlich Gift aus einer ganz linken Küche, was da in der Weltwoche verbreitet wird.» Ein anderer schreibt: «... der Leidensdruck der untersten sozialen Schichten ist in der Schweiz wohl so gering wie nirgendwo sonst. Auch mit sehr bescheidener Bildung kann man ein Einkommen erzielen, mit dem man einigermassen gut über die Runden kommt.» Und eine dritte Person vertritt folgende Meinung: «Die Linken schreien das mehr Kinderkrippen hermuessen damit beide Eltern arbeiten koennen. Um die Missstaende zu beheben muss man zuerst die linken nach Sibieren senden. Die dortige Kaelte bringt diese Staatsverderber zur Raeson.» Hier werden Meinungen sichtbar, die Chancengerechtigkeit mit Gleichmacherei verwechseln, sich damit begnügen, dass es in der Schweiz immer noch viel besser ist als in andern Ländern oder die hinter der Forderung einer längeren gemeinsamen Schulzeit aller Schichten zum Ausgleich der Benachteiligungen gleich einen Kommunisten sehen. Die Umsetzung von Forschungsergebnissen scheitert oft nicht nur an der Begrenztheit ihrer Aussagekraft und Generalisierbarkeit, sondern auch an kollektiven oder individuellen Interessen und Ängsten. Hinter jedem Ergebnis unserer Teilstudie öffnet sich ein riesiges Handlungsfeld, das von Veränderungen der demographischen Bedingungen bis zur Reflexion unserer täglichen Interaktion mit Schülerinnen und Schülern reicht. Unsere persönlichen Konsequenzen können wir jederzeit ziehen, doch darüber hinaus braucht es einen öffentlichen Diskurs, der zwischen Forschung und Praxis vermitteln muss. Die für 2003 von der EDK und dem BFS geplanten Aktivitäten zur Verbreitung der PISA-Ergebnisse werden mitbestimmen, in welcher Art und Weise die Schweiz die PISA-Forschungsergebnisse letztlich zur Kenntnis nimmt 22 ph I akzente 02/2003

und welche Konsequenzen für die Praxis gezogen werden. Möglicherweise erhält die Grundstufe dadurch etwas mehr Aufwind und findet langsam eine breitere Akzeptanz. Vielleicht beginnt ein Prozess des Überdenkens der expliziten und impliziten Selektionsmechanismen in unserem Bildungssystem: hierzu gehören die Selektion beim Übergang zwischen Primar- und Sekundarstufe, Repetition und Umschulungen in Sonderklassen. Möglicherweise werden gewisse Leute die Gelegenheit nützen, gegen die hohen Ausländeranteile in der Schweiz zu wettern. Lehre als Teil der Umsetzung Zwischen Forschung und Praxis steht jedoch nicht nur die Politik und der öffentliche Diskurs; auch in der Lehre wird ein Teil der Verarbeitung und Übersetzungsarbeit geleistet. Durch die Art und Weise, wie wir Informationen und Forschungsergebnisse auswählen, bündeln und präsentieren, leisten wir einen Beitrag zum Aufbau eines bestimmten Verständnisses bei unseren Studierenden. Diese Vermittlungsarbeit wird durch unsere eigene berufliche und persönliche Sozialisierung beeinflusst; internalisierte Erklärungsmuster und lieb gewonnene Theorien färben unsere Rezipierung von Forschungsergebnissen. Fachpersonen für interkulturelle Pädagogik werden aus den PISA-Ergebnissen vielleicht andere Schlussfolgerungen ziehen als Deutschdidaktiker oder Soziologinnen. Für mich als Sonderpädagogin sind andere Zusammenhänge einsichtig und relevant als für einen Bildungspolitiker, der sich für die Reform der Gymnasien einsetzt. Wer sein halbes Berufsleben für die Vorschulbildung eingesetzt hat, wird eher von deren Notwendigkeit überzeugt sein als ein Kollege, der sich mit Berufsberatung beschäftigt und weiss, dass Jugendarbeitslosigkeit ein hohes Risiko des sozialen Ausschlusses in sich birgt. An der Pädagogischen Hochschule Zürich haben wir die Möglichkeit, diesen Diskurs zu pflegen und uns gegenseitig bei unseren Übersetzungs- und Umsetzungsbemühungen zu unterstützen. Mehr sogar: Es ist unsere Stärke, in Bezug auf Bildungsfragen die Kompetenzen und das Wissen zu bündeln, die sowohl für die Formulierung von relevanten Forschungsfragen, für das Verstehen und Interpretieren von Forschungsergebnissen als auch für deren Umsetzung in Lehre und Praxis notwendig sind. Es ist zu hoffen, dass sich in den kommenden Jahren eine Kultur des offenen Austauschs und der gegenseitigen kritischfreundlichen Hinterfragung entwickeln kann. Anmerkungen 1 Für weitere Informationen siehe: http://www.statistik.admin.ch/stat_ch/ber15/pisa/pisa.htm sowie http://www.pisa.oecd.org 2 QUIMS: Qualität in multikulturellen Schulen (http://www.quims.ch) 3 Stefan C. Wolter und Maja Coradi Vellacott: «Die Schweizer Schule diskriminiert. In keinem Industrieland haben Kinder aus unteren Schichten so schlechte Chancen wie in der Schweiz. Dies zeigt eine neue Auswertung der Pisa-Studie.» (Weltwoche Nr. 13/03), abrufbar unter: http://www.weltwoche.ch (Link über: Debatte «Bildung. Die Schule der Zukunft») Literatur Baumert, J., Artelt, C. et al. (Hrsg.) (2002). PISA 2000 Die Länder der Bundesrepublik Deutschland im Vergleich. Opladen: Leske + Budrich. Deutsches PISA-Konsortium (Hrsg.) (2001). PISA 2000. Basiskompetenzen von Schülerinnen und Schülern im internationalen Vergleich. Opladen: Leske + Budrich. Coradi Vellacott, M., Hollenweger, J., Nicolet, M., Wolter, S.C. (2003). PISA 2000: Soziale Integration und Leistungsförderung. Die Grundkompetenzen der Jugendlichen Thematischer Bericht der Erhebung PISA 2000. Neuchâtel: BFS/EDK. OECD (2001). Lernen für das Leben. Erste Ergebnisse von PISA 2000. Paris: OECD. Ramseier, E., Christian Brühwiler, C., Moser, U., Zutavern, M., Berweger, S., Biedermann, H. (2002). Bern, St. Gallen, Zürich: Für das Leben gerüstet? Die Grundkompetenzen der Jugendlichen Kantonaler Bericht der Erhebung PISA 2000. Neuchâtel: BFS/EDK. Statistics Canada, Council of Ministers of Education, Canada (Eds.) (2001). Measuring up: The performance of Canada s youth in reading, mathematics and science. OECD PISA Study First Results for Canadians aged 15. Ottawa: Ministry of Industry. Wolter, S.C., Coradi Vellacott, M. (2003). «Die Schweizer Schule diskriminiert.» Weltwoche. Nr. 13/03. PH-Ausbildungsprojekt Wir sammeln...... Zeitungen von Schüler/innen Für ein Zeitungsprojekt an der Pädagogischen Hochschule Zürich, das im Rahmen der Ausbildung von Lehrer/innen durchgeführt wird, sammeln wir Belegexemplare von Zeitungen, die mit oder von Schüler/innen gemacht wurden (Schulhauszeitungen, Schüler/innenzeitungen, Lagerzeitungen usw.). Wir freuen uns über ältere und aktuelle Belege Ihrer Titel! Pädagogische Hochschule Zürich Thomas Hermann Stampfenbachstrasse 121 Postfach, 8021 Zürich Tel. 043 305 50 26 thomas.hermann@phzh.ch ph I akzente 02/2003 23