Grundzüge der Finanzwissenschaft C.4.1 STAATSVERSCHULDUNG: GRUNDLAGEN Staatliche Budgetbeschränkung (1) Analyserahmen: Vw (Staat und priv. HH) existiert für 2 Perioden gegebener konstanter Zinssatz r T 1, T 2 Nettosteueraufkommen des Staates (ordentliche Einnahmen Transferzahlungen des Staates an Bürger) in Periode 1 bzw. 2 G 1, G 2 staatliche Ausgaben für Güterkäufe in beiden Perioden (exogen gegeben) B Budgetdefizit des Staates (in Periode 1) ohne staatliche Kreditaufnahme: T 1 = G 1 ; T 2 = G 2 mit staatlicher Kreditaufnahme: T 1 < G 1 B = G 1 T 1 T 2 = (1+r)B + G 2 = (1+r) (G 1 T 1 ) + G 2 intertemporale staatliche Budgetbeschränkung
Grundzüge der Finanzwissenschaft C.4.2 STAATSVERSCHULDUNG: GRUNDLAGEN Staatliche Budgetbeschränkung (2) intertemporale staatliche Budgetbeschränkung: 1 1 Der Gegenwartswert der erhobenen Steuern (links) muss gleich dem Gegenwartswert der staatlichen Güterkäufe (rechts) sein Staatliche Verschuldung ist kein genuines Finanzierungsmittel; dies zeigt sich darin, dass staatliche Kreditaufnahme den durch staatliche Ausgaben implizierten Gegenwartswert der benötigten Steuereinnahmen nicht verändern kann. Öffentliche Verschuldung schwächt die staatlichen Budgetrestriktionen der einzelnen Haushaltsperioden zu einer einzigen intertemporalen Budgetbeschränkung ab. Daraus folgt eine größere zeitliche Flexibilität in Bezug auf die Steuererhebung. Mögliche Vorteile aus dieser größeren zeitliche Flexibilität: Kreditfinanzierung von öffentlichen Ausgaben, von denen (auch) zukünftige Generationen profitieren (objektbezogene Rechtfertigung staatlicher Kreditaufnahme) stabilitätsorientierte Budgetsaldenpolitik (konjunkturbezogene Rechtfertigung staatlicher Kreditaufnahme) Steuerglättung ( tax smoothing )
Grundzüge der Finanzwissenschaft C.4.3 STAATSVERSCHULDUNG: GRUNDLAGEN Kreislaufbeziehungen geschlossene Volkswirtschaft: Y = C + G + I Verwendung des BIP S = I S = Y C G gesamtwirtschaftliche Ersparnis T Nettosteuerzahlungen S = (Y T C) + (T G) S priv S öff T > G: Budgetüberschuss T < G: Budgetdefizit Neoklassische Position: T < G S öff S I K (Crowding-Out von Sachkapital) Ricardianische Position: T < G S öff, aber S priv, so dass S = keine realwirtschaftlichen Wirkungen (Staatsschuldneutralität)
Grundzüge der Finanzwissenschaft C.4.4 STAATSVERSCHULDUNG: NEOKLASSISCHE POSITION Kreditmarkt und Crowding Out Annahmen: Vw besitzt nur einen Finanzmarkt, den Markt für Kreditmittel ( loanable funds ) alle Sparer legen auf diesem Markt ihre Ersparnisse an alle Schuldner erhalten auf diesem Markt ihre Kredite auf diesem Markt existiert ein einziger Zinssatz das Angebot an Kreditmitteln stammt von denjenigen Wirtschaftseinheiten, die einen Teil ihres Einkommens sparen und verleihen wollen die Nachfrage nach Kreditmitteln stammt von Haushalten und Unternehmungen, die Mittel aufnehmen möchten, um Investitionen zu finanzieren der Preis für einen Kredit ist der Zinssatz Staatliches Budgetdefizit = negative öffentliche Ersparnis Angebot an Kreditmitteln geht zu jedem Zinssatz zurück im neuen Gleichgewicht ist der Zinssatz gestiegen und Kreditaufnahme und damit Investitionen sind zurückgegangen Reduziert der Staat die nationale Ersparnis durch ein Budgetdefizit, so steigt der Zinssatz und die Investitionen gehen zurück ( Crowding Out )
Grundzüge der Finanzwissenschaft C.4.5 STAATSVERSCHULDUNG: NEOKLASSISCHE POSITION Kreditmarkt und Crowding Out: Graphische Analyse Zinssatz Angebot S 2 Angebot S 1 i 2 i 1 Nachfrage K 2 K 1 Kreditvolumen (Invesitionen)
Grundzüge der Finanzwissenschaft C.4.6 STAATSVERSCHULDUNG: RICARDIANISCHE POSITION Kreislauftheoretische Grundlagen David Ricardo [1772-1823]: On the Principles of Political Economy and Taxation, 1817; selbst kein Vertreter der nach ihm benannten Position! Robert J. Barro [*1944]: Are Government Bonds Net Wealth?, in: Journal of Political Economy, 1974 Grundlage (s.o.): S = (Y T C) + (T G) Ausgang: T bei G = Budgetdefizit öffentliche Ersparnis (T G) < 0 Aber wenn die privaten Haushalte die gesamte Steuerersparnis sparen private Ersparnisbildung steigt genau um den Betrag, um den die öffentliche Ersparnis sinkt, d.h.: S priv = T S = I = K = usw. Ein staatliches Budgetdefizit entfaltet keinerlei realwirtschaftliche Wirkungen (Theorem der Staatsschuldneutralität) Für gegebene öffentliche Ausgaben sind eine Steuerfinanzierung dieser Ausgaben und deren Kreditfinanzierung vollkommen äquivalent (Ricardianische Äauivalenz)
Grundzüge der Finanzwissenschaft C.4.7 STAATSVERSCHULDUNG: RICARDIANISCHE POSITION Ökonomische Begründung: verbale Erläuterung Aber warum sollten die privaten Haushalte ihre Steuerersparnis in vollem Umfang sparen? Intertemporale staatliche Budgetbeschränkung (2-Perioden-Fall): 1 1 Der Gegenwartswert der erhobenen Steuern (links) muss gleich dem Gegenwartswert der staatlichen Güterkäufe (rechts) sein eine durch ein Budgetdefizit finanzierte gegenwärtige Steuersenkung verschiebt die Steuerlast gegenwärtiger Ausgaben in die Zukunft Rationale Bürger sparen die Steuerersparnis für den Tag, an dem die Rückzahlung des Budgetdefizits in Form von Steuererhöhungen fällig wird
Grundzüge der Finanzwissenschaft C.4.8 STAATSVERSCHULDUNG: RICARDIANISCHE POSITION Ökonomische Begründung: Graphische Analyse in t = 1: schuldenfinanzierte Steuersenkung um T in t = 2: Steuererhöhung um T(1+r) C 2 C 2 Y 2 A Y 2 (1+r) T S S T = S + T B Steigung = 1+r C 1 Y 1 Y 1 + T C 1
Grundzüge der Finanzwissenschaft C.4.9 STAATSVERSCHULDUNG: RICARDIANISCHE POSITION Empirische Befunde Die These der Staatsschuldneutralität konnte bis heute in der empirischen Forschungsliteratur zu diesem Thema nicht falsifiziert werden Erfahrungen aus verschiedenen finanzpolitischen Episoden der jüngeren Vergangenheit stehen allerdings im Widerspruch zur Ricardianischen Äquivalenzthese: hohe Budgetdefizite der USA Anfang bis Mitte der 1980er Jahre (Administration von R. Reagan) hohe Budgetdefizite der USA in den 2000er Jahren (Administration von George W. Bush) hohe Budgetdefizite der BR Deutschland seit der staatlichen Wiedervereinigung jeweils nicht durch einen entsprechenden Anstieg der privaten Ersparnisbildung begleitet Frage: Wenn ein Anstieg der Staatsverschuldung in Zukunft höhere Steuern notwendig macht, warum sparen die privaten Haushalte dann ihr zusätzlich verfügbares Einkommen nicht in vollem Umfang?
Grundzüge der Finanzwissenschaft C.4.10 STAATSVERSCHULDUNG: RICARDIANISCHE POSITION Quellen der Nichtneutralität von Staatsschulden Myopie: private Wirtschaftssubjekte sind myopisch (kurzsichtig); insbesondere kennen bzw. verstehen sie die Implikationen der intertemporalen Budgetbeschränkung des Staates nicht ( Fiskalillusion ) π -Regeln, z.b.: für die Zukunft erwartete steuerliche Belastung gleich heutiger heutige St C, d.h. S priv < T Unvollkommene Kapitalmärkte: Staatliche Kreditaufnahme verbessert die intertemporalen Konsummöglichkeiten kreditrationierter Wirtschaftssubjekte und damit die intertemporale Allokation der volkswirtschaftlichen Ressourcen und erhöht (!) dadurch die Wohlfahrt Endlicher Planungshorizont privater Wirtschaftseinheiten: Wenn gegenwärtige Steuerzahler nicht erwarten (müssen), dass die zukünftigen schuldenbedingten Steuererhöhungen sie selbst betreffen, sondern erst spätere Generationen, erhöht eine öffentliche Kreditaufnahme ihr Lebenseinkommen, erhöhen sie ihren Konsum in der 1. Periode, und die Ricardianische Äquivalenz gilt nicht