Abschlussarbeit. ÖÄK Diplomlehrgang Geriatrie. Prof. Dr. Franz Böhmer Prim. Univ. Prof. Dr. Monika Lechleitner. Wissenschaftliche Leitung:



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Transkript:

Abschlussarbeit ÖÄK Diplomlehrgang Geriatrie Wissenschaftliche Leitung: Prof. Dr. Franz Böhmer Prim. Univ. Prof. Dr. Monika Lechleitner Rückfragen: Österreichische Akademie der Ärzte GmbH Weihburggasse 2/5 A-1010 Wien Tel.: +43 1 512 63 83

Hypertonie im Alter Blutdruckmanagement Was ist anders? Dr. Magdalena MOSER Wien,

2 Hypertonie im Alter INHALTSVERZEICHNIS Vorwort... 4 Einleitung und Epidemiologie... 6 Zielsetzung... 9 Methodik... 10 Guidelines... 10 Aktualität und Gültigkeit der Leitlinien... 11 Pathophysiologie... 12 Diagnosestellung... 14 Anamnese... 15 Physikalische Untersuchung... 16 Laborscreening... 17 Ambulante Blutdruckmessung und Selbstmessung... 18 24-Stunden-Blutdruckmessung... 20 Altersdefinition... 21 Klassifikation der Hypertonie... 22 Isoliert systolische Hypertonie [ISH]... 24 Risikostratifizierung... 25 Diskussion... 27 Wichtige Neuerungen... 27 Nicht-pharmakologische Therapie: Lebensstilmodifikation & Ernährungsumstellung... 28 Behandlungsziel... 30 Studiendaten... 33 Die HYVET-Studie... 39 Richtlinien und Überlegungen zu Beginn einer medikamentösen Therapie älterer Patienten... 41

3 Hypertonie im Alter Kognitive Funktion & Frailty... 47 Medikamentöse Therapie bei isoliert systolischer Hypertonie... 51 Substanzklassen der Antihypertensiva... 53 Pharmakokinetik und Pharmakodynamik von Antihypertensiva... 63 Adhärenz der Pharmakotherapie... 65 Chronotherapie (96)... 65 Kontraindikationen für Antihypertensiva... 67 Renale Sympathektomie... 67 Schlussfolgerung & Zusammenfassung... 68 Abbildungsverzeichnis... 69 Literaturverzeichnis... 71 Um eine leichte Lesbarkeit zu gewährleisten, habe ich in dieser Arbeit darauf verzichtet, geschlechtsspezifische Formulierungen zu verwenden. Bei allen personenbezogenen Bezeichnungen gilt die gewählte Form für beide Geschlechter.

4 Hypertonie im Alter VORWORT Der Patient im fortgeschrittenen Alter steht im Mittelpunkt der Geriatrie. Frailty, Sarkopenie und Multimorbidität zeigen im Alter eine hohe Prävalenz. Bluthochdruck wird oft als lautloser Killer bezeichnet, da sein Vorhandensein meist symptomlos ist. Er stellt die Volkskrankheit Nr. 1 in modernen Industriestaaten dar, zählt zu den häufigsten Todesursachen, und stellt für kardiovaskuläre Erkrankungen einen der wichtigsten Risikofaktoren dar (1). Neben der bekannten Assoziation von Hypertonie und kardiovaskulärer Erkrankungen, Schlaganfällen, chron. Niereninsuffizienz und Herzinsuffizienz sind neue Daten über den Zusammenhang von kognitivem Abbau (vascular cognitive impairment), Demenz, erhöhter Sturzinzidenz und unbehandelter Hypertonie relevant (2) (3) (4). Leider werden bis zu 75 % der alten und sehr alten Patienten hauptsächlich aufgrund eines Mangels an Informationen, fraglicher Evidenz und aus Angst vor Nebenwirkungen der medikamentösen Therapie nicht korrekt eingestellt (5). Auch existieren bisher nur wenige Studien, die Patienten 80 Jahre einschließen. Die Senkung des Erkrankungsrisikos von oben genannten Erkrankungen ist jedoch unter antihypertensiver Behandlung an älteren Patienten erwiesen. Viele Patienten meinen auch, nach der initialen Blutdrucksenkung oder - normalisierung durch eine antihypertensive Therapie auf diese nun verzichten zu können, da die Hypertonie geheilt sei. Sie setzen mit der Medikation aus, oder sie vergessen die Einnahme. Die Tatsache, dass die meisten dadurch keine subjektive Verschlechterung spüren, bestätigt sie in der Annahme, dass die Medikamenteneinnahme nicht dringend notwendig ist. Hier kommt das prinzipielle therapeutische Dilemma der Hypertoniebehandlung in der Primärprävention zum Ausdruck: Bei akut meist fehlendem Leidensdruck liegt das Risiko, z.b. ein potentieller Insult, in weiter Ferne. Eine schlechte Therapie mit Nebenwirkungen wird dagegen sofort als beeinträchtigend erlebt.

5 Hypertonie im Alter Ziel dieser Arbeit soll daher sein, einen Überblick das Thema Hypertonie im Alter - Was ist anders? zu schaffen und über die zu diesem Thema vorhandene Literatur zu berichten, um eine Hilfe zu geben und die Therapie zu erleichtern. Denn auch die Begleiterkrankungen und Besonderheiten der Diagnostik und medikamentösen Therapie im Alter bedürfen einer speziellen Betrachtung.

6 Hypertonie im Alter EINLEITUNG UND EPIDEMIOLOGIE Rund 1,5 Milliarden Menschen weltweit leiden unter einem zu hohen Blutdruck. Sie haben damit ein erhöhtes Risiko, einen zerebralen Insult, Myokardinfarkt oder andere Endorganschäden zu erleiden (6). Die WHO beschreibt Bluthochdruck als den größten Risikofaktor für Mortalität. Der Tod von weltweit ca. 7,5 Millionen Menschen (13 % aller Sterbefälle) wird Erkrankungen zugeschrieben, die mit Bluthochdruck in Zusammenhang stehen (6). Gemäß der bedeutsamsten epidemiologischen Studie, der Framingham-Heart- Studie, steigt die Prävalenz der Hypertonie mit dem Alter. Daten dieser Studie zeigen, dass das verbleibende Lebenszeitrisiko, eine arterielle Hypertonie im Alter zu entwickeln (20-25 Jahre Follow-Up), bei Männern 93 % und bei Frauen 92 % beträgt. Zusammengefasst beträgt also das Risiko, eine Hypertonie zu entwickeln, für die Bevölkerung zwischen 55-65 Jahre 90 % (7). Geriatrie und Hypertensiologie weisen schon bei oberflächlicher Betrachtung eine große gemeinsame Schnittmenge betreffend das Patientenkollektiv auf, welche durch folgende epidemiologische Fakten untermauert wird: Ein Blick auf die ältere Population zeigt, dass nahezu ¾ aller Menschen > 70 Jahre einen zu hohen Blutdruck haben, bei etwa 90 % handelt es sich um eine isoliert systolische Hypertonie (8). Die Abbildung 1 der Bevölkerungspyramide für Österreich lässt aufgrund der Zunahme alter Menschen an der Gesamtbevölkerung (im Jahr 2050: 2,9 Mio. Menschen > 60 Jahre) die gegenwärtige und besonders die zukünftige Relevanz der (isoliert systolischen) Hypertonie erkennen.

7 Hypertonie im Alter Abbildung 1 Bevölkerungspyramide (9)

8 Hypertonie im Alter Auch gibt es einige Subgruppen, die besondere Aufmerksamkeit aufgrund der charakteristischen Ausprägungen und Verläufe der arteriellen Hypertonie benötigen: Es liegen zwar nur wenige Angaben zur Prävalenz von arterieller Hypertonie nach Geschlecht vor, weltweit schätzt man jedoch, dass 55 % der Patienten Frauen sind (60-79 Jahre: 48,8 %; Alter > 80 Jahre: 63 %) (10). Der Zielblutdruck ist bei ihnen schwieriger zu erreichen (11). Aufgrund der pathophysiologischen Veränderungen steigt mit zunehmendem Alter vor allem der systolische Blutdruck, während sich der diastolische Blutdruck stabilisiert oder abfällt. Abbildung 2 Verhalten des diastolischen und systolischen Blutdrucks mit ansteigendem Alter (12) Abbildung 3 Geschlechterspezifisches Verhalten des diastolischen und systolischen Blutdrucks mit ansteigendem Alter (7)

9 Hypertonie im Alter ZIELSETZUNG In der Literatur gibt es nur wenige Arbeiten, die sich mit der arteriellen Hypertonie im Alter, respektive der isoliert systolischen Hypertonie im Hinblick auf die veränderte Physiologie des kardiovaskulären Systems im Alter, beschäftigen. Ziel dieser Arbeit soll daher sein, einen Überblick das Thema Hypertonie im Alter - Was ist anders? zu schaffen und über die zu diesem Thema vorhandene Literatur zu berichten, um eine Hilfe zu geben und die Therapie zu erleichtern. Denn auch die Begleiterkrankungen und Besonderheiten der Diagnostik und medikamentösen Therapie im Alter bedürfen einer speziellen Betrachtung. Nicht näher eingegangen wird in dieser Arbeit auf sekundäre Ursachen einer Hypertonie und ihrer spezifischen Therapiemöglichkeiten. Der Rahmen dieser Arbeit wäre damit bei weitem gesprengt. Auch auf Basisuntersuchungen bei jedem Hypertoniker, subklinische Organschäden, etc. kann aufgrund des Umfangs an Informationen nur stichwortartig eingegangen werden. Vorwiegend wird meinerseits auf die isoliert systolische Hypertonie - als häufigste Hypertonieform bei den über 60-Jährigen - Bezug genommen.

10 Hypertonie im Alter METHODIK Guidelines Unter Berücksichtigung bereits vorhandener Leitlinien unterschiedlicher Fachgesellschaften (siehe Aufzählung weiter unten in diesem Kapitel) und der aktuellen Literatur erfolgt meinerseits die Ausarbeitung eines Konzepts für die Behandlung und Therapie der arteriellen Hypertonie im Alter. Dabei wird vor allem auf einen möglichst hohen Evidenzgrad geachtet. Die wissenschaftliche Basis dieser Arbeit besteht aus einer Literatursuche in diversen Medien (Fachbücher, Journals und Fachzeitschriften, PubMed, etc.). Um eine europäische Sichtweise der Thematik zu erhalten, wurden nationale Leitlinien von internationalen Leitlinien ergänzt. Als die aktuellste und damit bedeutendste Hilfestellung bei meiner Literaturrecherche erweist sich das themenspezifischen Fachjournal Journal of Hypertension, in dem am 31. Juli 2013 die aktuellsten Guidelines for the management of arterial hypertension der European Society of Hypertension (ESH) und der European Society of Cardiology (ESC) publiziert wurden (13). Zusätzlich werden Inhalte und Statements anderer nationaler und internationaler Guidelines und Empfehlungen zum Management der arteriellen Hypertonie dargestellt: Österreichische Leitlinien: - Leitlinien der Österreichischen Gesellschaft für Hypertensiologie (ÖGH) (14) Deutsche Leitlinien: - Leitlinien zur Behandlung der arteriellen Hypertonie der Deutschen Hochdruckliga e.v. DHL - Deutsche Hypertonie Gesellschaft (15)

11 Hypertonie im Alter - World Health Organisation (WHO) 2007 - International Society of Hypertension (ISH) 2007 - Joint National Committee on Prevention, Detection, Evaluation and Treatment of High Blood Pressure (JNC-7) (16) - Canadian Hypertension Education Program (CHEP) 2010 - Swiss Society of Hypertension (SSH) 2009 - National Institute for Health and Care Excellence (NICE) 2011 Aktualität und Gültigkeit der Leitlinien Durch den ständigen Zuwachs medizinischer Erkenntnisse ist die Gültigkeit der hierin gegebenen Empfehlungen zeitlich begrenzt. Im Rahmen des 23. Kongresses der European Society of Hypertension (ESH) in Mailand (14.-17. Juni 2013) wurden die frischen Hochdruck-Leitlinien 2013 präsentiert. Sie umfassen über 70 Seiten in englischer Sprache und sind bereits auch online und als schriftlicher Bericht einsehbar (13). In einigen Kapiteln wird auf die Besonderheiten im Alter eingegangen. Bis 01. Juni 2013 waren die S2-Leitlinien der Deutsche Gesellschaft für Hypertonie und Prävention - Deutsche Hochdruckliga e.v. DHL gültig (15). Aktualisierte Therapieempfehlungen in Anlehnung an die neuen europäischen Leitlinien von 2013 werden auf der Homepage erst in Kürze veröffentlicht. Die aktualisierten österreichischen Leitlinien werden in Anlehnung an die neuen europäischen Leitlinien ebenfalls erwartet.

12 Hypertonie im Alter PATHOPHYSIOLOGIE Aufgrund der veränderten Physiologie des kardiovaskulären Systems beim geriatrischen Patienten steigt vor allem der systolische Blutdruck, während sich der diastolische Blutdruck stabilisiert oder abfällt. Folgende Gründe sind zu nennen, warum eine isoliert systolische Hypertonie im Alter entsteht: Arteriosklerose mit Elastinfragmentation, -ausdünnung und frakturen, Kollagenablagerung und Kalziumablagerung. Aus der damit zunehmende Wand- bzw. Gefäßsteifigkeit (arterial stiffness), vornehmlich der Aorta und ihrer großen Abgangsgefäße, resultieren funktionelle Veränderungen, wie erhöhter Pulsdruck (pulse pressure), erhöhte Pulswellengeschwindigkeit und Pulswellenreflexion. Die Pulswellen setzen sich bis ins Kapillarsystem fort und werden als Verursacher zusätzlicher pulsatiler Organschäden interpretiert (17) (18) (19). Infolge der erhöhten Pulswellengeschwindigkeit erreicht die Rückflusswelle den Aortenursprung nicht in der frühen Diastole, wie bei jungen gesunden Menschen, sondern in der Systole, und pfropft sich auf die primäre Druckwelle auf, mit der direkten Folge eines erhöhten myokardialen Sauerstoffbedarfs bei gleichzeitig verminderter Myokardperfusion; Abnahme der NO-Produktion bzw. gestörte Endothelfunktion (20) (21) und konsekutiv erhöhter peripherer Wiederwand; Abnahme des peripheren Gefäßgesamtquerschnitts; Zunahme der sympathischen Aktivität bzw. neuroendokrine Aktivierung (22) (23); Abschwächung der Baroreflexfunktion (24) (25); Abnahme der Aktivität des Renin-Angiotensin-Systems (26) durch die altersassoziierte Nephrosklerose des juxtaglomerulären Apparates; Einschränkung der Nierenfunktion (GFR) durch Glomerulosklerose und interstitielle Fibrose mit zunehmender Schwierigkeit, Elektrolytverschiebungen, vornehmlich von Natrium und Kalium, auszugleichen (27); Zunahme der Kochsalzsensitivität mit der reduzierten Fähigkeit, Natrium auszuscheiden (28);

13 Hypertonie im Alter Erhöhte Insulinresistenz (29). Der wichtigste Faktor in der Genese der Hypertonie dürfte die erhöhte Gefäßsteifigkeit sein (30). Damit unterscheidet sich der Organismus zwischen Jung und Alt und damit könnten sich die Organmanifestationen und auch die Therapie bei älteren Patienten durchaus von denen der Jüngeren unterscheiden (31). Durch die erhöhte Gefäßsteifigkeit steigt der systolische Blutdruckwert weiter an, während der diastolische Blutdruckwert, als Ausdruck des totalen peripheren Widerstandes, abfällt (32). Ein hoher systolischer Blutdruck bewirkt an den Arterien wiederum eine Intimaschädigung bzw. Arteriosklerose und die Entwicklung von Aneurysmen, am Herzen eine (Linksherz-) Hypertrophie und eine Linksherzinsuffizienz. Ein tiefer diastolischer Blutdruck führt zu einer verminderten Koronarperfusion (circulus vitiosus). Mit dem systolischen Blutdruck steigt somit das kardiovaskuläre Risiko. Eine interessante Studie mit einer passenden Population (73.5 (±5.5) Lebensjahre) von Ekundayo et al. zeigt statistisch signifikante Resultate (33).

14 Hypertonie im Alter DIAGNOSESTELLUNG Da Altern ein multifaktorielles Geschehen ist, welches sowohl biologische, psychologische und soziale Bereiche betrifft, ergibt sich ein optimaler Therapieplan und eine optimale Risikostratifizierung durch eine exakte Anamnese, Status und ein geriatrisches Assessment. Insofern ist die möglichst frühzeitige Erfassung pathologischer Veränderungen ein wesentlicher Faktor der Alternsprävention und -rehabilitation. In der Klinik ist oft das kardiovaskuläre Risiko mehr durch andere Risikofaktoren und Begleiterkrankungen determiniert als durch den absoluten Blutdruckwert selbst. Die Stratifizierung bezüglich des gesamten kardiovaskulären Risikos liefert nicht nur die Grundlage für den Behandlungsbeginn, sondern auch für den Zielblutdruck. Die klinische und labormäßige Evaluation beinhaltet die Bestätigung eines chronisch erhöhten Blutdrucks und Beurteilung des Schweregrads dieser Hypertonie, die Erkennung von kardiovaskulären Risikofaktoren bzw. von klinischen Faktoren, welche eine Risikostratifizierung erlauben und somit Prognose und Therapie beeinflussen können, die Beurteilung von Endorganschäden und den Ausschluss bzw. Bestätigung einer sekundären Hypertonie. Diese Grundlagen werden in der Folge getrennt angeführt. Eine ausführliche Hilfestellung gibt die aktuelle Europa-Leitlinie der European Society of Hypertension und European Society of Cardiology (13).

15 Hypertonie im Alter Anamnese Eine sorgfältige Anamneseerhebung ist unabdingbar und sollte folgende Punkte beinhalten: 1. Familienanamnese bezüglich arterieller Hypertonie, Diabetes mellitus, Dyslipidämie, KHK, cerebrovaskulärer Ereignisse oder Nierenerkrankungen; 2. Lebensgewohnheiten: Salz-, Alkoholkonsum, Nikotinabusus, physikalische Aktivität, Gewichtsverlauf in den letzten zehn Jahren; 3. Einnahme von Medikamenten oder Substanzen, welche den Blutdruck erhöhen können: orale Kontrazeptiva bzw. Östrogene, nicht steroidale Antirheumatika (NSAR), Glyzyrhizinsäure enthaltende Produkte (Lakritze), Kortikosteroide, Amphetamine, Erythropoetin, Oxybutinin, Triptane in Kombination mit Ergotaminen, Tacrolismus, Ciclosporin (34); 4. Anamnestische oder aktuelle Symptome einer KHK, cerebrovaskulären Erkrankung, pavk, Diabetes mellitus, Dyslipidämie, renale Erkrankung; 5. Anamnestische Angaben und Symptome, welche für eine sekundäre Hypertonie suggestiv sind. Abbildung 4 Empfehlungen für Anamnese und Status (13)

16 Hypertonie im Alter Folgende Tabelle soll eine Hilfestellung zur Erfassung einer sekundären Hypertonieform bieten: Abbildung 5 Klinische Indikation und Diagnose sekundärer Hypertonieformen (13) Zu erwähnen ist, dass die Suche nach sekundären Hypertonieformen (u.a. AIS Aortenisthmusstenose - Coarctatio aortae, Schilddrüsen- bzw. Nebenschilddrüsenanomalien, OSAS - Obstruktives Schlaf-Apnoe-Syndrom) nur bei klarem klinischem Verdacht Sinn macht. Physikalische Untersuchung Beim Patientenstatus sollte auf folgende Punkte besonders geachtet werden: 1. Körpergröße und Gewicht, mit Berechnung des Body Mass Index (BMI); 2. Suche nach Kardiomegalie, Zeichen der Herzinsuffizienz, Strömungsgeräusche über Karotiden, Nierenarterien und periphere Arterien, Hinweise für Aortenisthmusstenose; 3. Augenhintergrund.

17 Hypertonie im Alter Laborscreening Als Screening empfehlen die neuen Leitlinien der ESH/ESC folgende Laboruntersuchungen (13): Abbildung 6 Diagnostische Labor-Tools (13)

18 Hypertonie im Alter Ambulante Blutdruckmessung und Selbstmessung Was bedeuten schwankende Blutdruckwerte? Müssen alle Messwerte eines Patienten stets im Zielbereich liegen oder genügt es zu einem bestimmten Prozentsatz? Zählt der Durchschnittswert mehrerer und wenn, wie vieler Messungen? Die internationale Leitlinie der ESH/ESC 2013 gibt insofern auf diese Frage eine Antwort, da die Blutdruckselbstmessung als Alternative zur 24-Stunden- Langzeitmessung eingesetzt werden kann. Als Ausnahmen werden die Abklärung einer nächtlichen Hypertonie und die Bestimmung von Dipping -Status und Blutdruck-Variabilität angeführt (13). Die regelmäßige Messung des Blutdrucks durch die Betroffenen selber ist ein wichtiger Teil der Behandlung, da situativ bedingte Schwankungen ( Weißkittelphänomen ) ausgeschlossen sein müssen. Die selbst gemessenen Werte zeigen dem Arzt, wie sich der Blutdruck über einen längeren Zeitraum verhält und führen zur Etablierung des Konzepts der Bestimmung des true blood pressure, da mehr Messungen eine bessere Annäherung an den wahren Blutdruck erlauben und Ergebnisse aus ambulanten Monitoring wesentlich enger mit der Prognose und dem Auftreten von Endorganschäden korrelieren (35). Um die Höhe des Blutdrucks einschätzen zu können, empfehlen die Leitlinien der ÖGH seit 2004 für die Selbstmessung, dass nicht mehr als 7 von 30 Messungen über dem Grenzwert von 135/85 mmhg liegen sollen, ohne eine Evidenz für diese Empfehlung bereit zu stellen(14). Wenn also 7 oder mehr von diesen 30 Messwerten >135/85 mmhg betragen, liegt eine arterielle Hypertonie vor. Die korrekte Blutdruckmessung ist in den Empfehlungen der Österreichischen Gesellschaft für Hypertensiologie (ÖGH) enthalten (14) (36). Auf die richtige Manschettenbreite und die Messung in Ruhe ist zu achten. Aufgrund der abgeschwächten Barorezeptorfunktion sind für ältere Patienten zusätzlich Messungen im Stehen erforderlich, um eine orthostatische Hypotonie zu erfassen.

19 Hypertonie im Alter Aus der unten angeführten Tabelle kann der aufmerksame Leser Empfehlungen der ESH/ESC zur ambulanten Blutdruckmessung entnehmen: Abbildung 7 Ambulante Blutdruckmessung (13) Beim Messen ist außerdem der Erwartungsbias Hypertonie zu vermeiden, die Pseudohypertonie ausschließen (zu hohe Werte bei hochgradiger Arteriosklerose der Armarterien, Ausschluss durch Osler Manöver) und bei Arrhythmien Mehrfachmessungen zu tätigen. Auch sollte bei einer Gelegenheit 2 Stunden nach dem Essen eine Blutdruckmessung durchgeführt werden, da die Rate an postprandialer Hypotonie im Alter hoch ist (37).

20 Hypertonie im Alter 24-Stunden-Blutdruckmessung Eines der Highlights am ESC-Kongress 2012 war die Feststellung, dass die 24-h- Blutdruck-Messung (ABPM - Ambulatory Blood Pressure Monitoring) von essenzieller Bedeutung ist, um die Blutdruckeinstellung zu kontrollieren, weil die Übereinstimmung von ABPM und in der Ordination gemessenem Blutdruck erschreckend schlecht ist (oftmals white-coat-hypertension). Die erste, große wissenschaftliche Untersuchung, die Ordinationsmessungen und ambulante Blutdruckdaten zur Steuerung der langfristigen Therapie verwendet hat, war die OvA Study (Office Versus Ambulatory blood pressure monitoring) (35). Eine andere Studie (38) kam hinsichtlich der Reproduzierbarkeit der RR-Messwerte auf ähnliche Ergebnisse (mean age 82 ± 3.8 a). Folgende Evidenzgrade werden in den Leitlinien der ESH/ESC angegeben (13): Abbildung 8 Evidenztabelle zur Anamnese, Statuserhebung und RR-Messung (13)

21 Hypertonie im Alter Abbildung 9 Evidenztabelle instrumentelle Diagnostik und Labordiagnostik (13) Altersdefinition Abhängig von der jeweiligen Hypertonie-Gesellschaft werden die Altersstufen unterschiedlich klassifiziert: Abbildung 10 Altersdefinitionen der unterschiedlichen Gesellschaften (39)

22 Hypertonie im Alter Klassifikation der Hypertonie Die von der Österreichischen Gesellschaft für Hypertensiologie in Übereinstimmung mit anderen Richtliniengruppen (hier ESH/ESC 1 ) empfohlenen Richtwerte sind in der folgenden Tabelle angeführt. Abbildung 11 Definition und Klassifikation der arteriellen Hypertoniewerte der ESH/ESC (13) Abbildung 12 Definition und Klassifikation der arteriellen Hypertoniewerte der ÖGH(14) Grundlage für die Zuordnung zu einer Gruppe ist das Vorhandensein erhöhter Werte in mindestens einem der beiden Bereiche (systolisch oder diastolisch). 1 Die ESH-Klassifikation (siehe Abb. 11) und die Richtwerte der ÖGH weichen nur dahingehend ab, dass hypertensive Werte in 2 statt in 3 Stadien eingeteilt werden.

23 Hypertonie im Alter Abbildung 13 Grenzwerte office vs. out-of-office lt. ESH/ESC(13) Während die Klassifikation betreffend normaler und hoch normaler Blutdruckwerte in den ESH/ESC-Guidelines und den ÖGH-Richtwerten sehr ähnlich sind, hat die amerikanische Fachgesellschaft in den JNC-7-Empfehlungen eine neue Dimension der Blutdruckklassifizierung mit dem Terminus Prähypertension etabliert. Damit wurden systolische Blutdruckwerte zwischen 120-139 mmhg und diastolische Blutdruckwerte zwischen 80-89 mmhg in einen pathologischen Graubereich gestellt (16).

24 Hypertonie im Alter Isoliert systolische Hypertonie [ISH] Mit zunehmendem Alter nimmt die Bedeutung der ISH als Risikofaktor immer weiter zu. Die isoliert systolische Hypertonie wird definiert als systolischer RR >140 mmhg und diastolischer RR <90 mmhg bzw. Blutdruckamplitude >53 mmhg. Die Prävalenz der ISH liegt bei 10 %, wobei Frauen in höherem Maße betroffen sind als Männer ( 65 %; 57 %). Die ISH tritt ab dem 55. Lebensjahr auf und ist bei über 60-Jährigen die häufigste Hypertonieform (40). Die ISH ist salz- und volumensensitiv, typisch ist ein Blutdruckanstieg unter NSAR und Corticosteroiden. Die isoliert systolische Hypertonie ist ein wichtiger ursächlicher Faktor des Schlaganfalls (41). Es existiert eine direkte Dosis-Wirkungs-Beziehung zwischen der Höhe des Blutdrucks und der Größe des Risikos. Mitunter ist die ISH ein starker und unabhängiger Prädiktor hinsichtlich der Abnahme der renalen Funktion (42).

25 Hypertonie im Alter Risikostratifizierung Abbildung 14 Risikofaktoren (13) Abbildung 15 Cut-off Werte diastolischer Funktion und LV-Remodelling bei Patienten mit Hypertonie (13)

26 Hypertonie im Alter Unter der Berücksichtigung all der Risikofaktoren aus Anamnese, Status und anderen diagnostischen Tools (Abbildung 14) kann anhand folgender Tabelle die Prognose, d.h. das Risiko für cerebrovaskuläre oder koronare Ereignisse genauer stratifiziert werden: Abbildung 16 kardiovaskuläre Risikostratifizierung (13)

27 Hypertonie im Alter DISKUSSION Wichtige Neuerungen Die vielleicht wichtigste Erneuerung der ESH sind einheitliche Zielwerte. Während in der Vorgängerversion der Leitlinien noch verschiedene Zielwerte je nach Risikogruppe definiert waren 140/90 mmhg für Patienten mit niedrigem oder mäßigem Risiko, 130/80 mmhg für Hochrisikopatienten -, gilt jetzt ein einheitlicher systolischer Zielwert von 140 mmhg als Grenze. Diastolisch gelten Werte <90 mmhg als Ziel. Für Diabetiker werden diastolisch 85 mmhg als Obergrenze empfohlen. Denn gemäß einer kritischen Analyse der Studienlage ist ein Vorteil niedrigerer systolischer Werte <130 mmhg nicht belegt. Im Gegenteil: Eine zu aggressive blutdrucksenkende Therapie kann unter Umständen mehr schädigen (orthostatische Hypotonie, Synkopen, Bradykardie, Arrhythmien, Elektrolytentgleisungen, Kreatininanstieg). Weiters rücken die neuen Leitlinien der ESH den Lebensstil und nichtmedikamentöse Maßnahmen in den Vordergrund und fordern ein strikteres Vorgehen, geben aber auch einen größeren Handlungsspielraum. Gleichzeitig werten die Leitlinien die ambulante 24-Stunden- sowie die eigenständige Blutdruckmessung der Patienten auf. Argumentiert wird, dass die bisher üblicherweise praktizierte Messung in der Arztpraxis die Lebenssituation der Patienten nicht ausreichend abbildet und zu Fehldiagnosen führen kann. Die Leitlinien betonen die Notwendigkeit, dass bei Hochrisikopatienten häufig nur eine Kombination aus mindestens zwei Medikamenten den Blutdruck anhaltend senken kann und geben praktische Hinweise für Kombinationsstrategien. Wichtiger als die Methode der Senkung ist, dass der Patient den Zielwert in angemessener Zeit erreicht (Grundsatz the earlier, the better ) (13).

28 Hypertonie im Alter Nicht-pharmakologische Therapie: Lebensstilmodifikation & Ernährungsumstellung Betont wird in den neuen Leitlinien der ESH die Wichtigkeit von Lebensstilmodifikationen, um Blutdruckwerte im hoch-normalen Bereich (130-139 mmhg systolisch/85-89 mmhg diastolisch) zu senken. Hier wird ein strikteres Vorgehen gefordert, der Schwerpunkt liegt auf Prävention und in der Nutzung nichtmedikamentöser therapeutischer Maßnahmen. Der randomisiert kontrollierte TONE Trial (Trial of Non-Pharmacologic Interventions in the Elderly) bestätigte eine blutdrucksenkende Wirkung in einem Patientenkollektiv von 975 Teilnehmern zwischen 60-80 Jahren (43). Häufig insbesondere bei leichten Blutdruckerhöhungen würden schon konsequente Änderungen im Lebensstil reichen, um den Blutdruck nachhaltig zu senken. Daher sei es wichtig, konsequent auf das Rauchen zu verzichten, mindestens 30 Minuten täglich durch moderates, dynamisches Training (Puls im Trainingsbereich) körperlich aktiv zu sein (44) und sich gesund, vorzugsweise mediterran zu ernähren (Diät reich an Obst, Gemüse, wenig Fett). Auch sollte der Salzkonsum auf maximal 5-6 Gramm/Tag eingeschränkt und damit auf nur halb so viel wie bislang tatsächlich durchschnittlich konsumiert werden. Dies sind die Ergebnisse der DASH-Trial (Dietary Approches to Stop Hypertension) (45). Für alle alten Menschen gilt generell ein gutes Ansprechen des Blutdrucks auf Kochsalzeinschränkung, doch muss vor einer strengen Natriumrestriktion wegen der besonders bei Frauen leicht auftretenden Hyponatriämie gewarnt werden. Die arterielle Steifigkeit kann durch eine Reihe von Medikamenten und Lebensstilmaßnahmen günstig beeinflusst werden, doch ist nicht bekannt, inwieweit alte Menschen davon profitieren (46). Wie beim Ansprechen auf Medikamente gibt es offenbar auch hier Responder und Non-Responder.

29 Hypertonie im Alter Abbildung 17 Effekte von Lebensstilmaßnahmen auf den systolischen Druck (entsprechend einer Metaregressionsanalyse) (47) Der Nutzen zur Blutdrucksenkung ist zwar gut dokumentiert, im klinischen Alltag kon- mit der Empfehlung zu vermehrter körperlicher Aktivität und langjährige Ernährungs- kurrieren jedoch zum Beispiel Beschwerden im Bereich des Bewegungsapparates gewohnheiten mit der Empfehlung zur Kochsalzrestriktion. Das körperliche Trainingsprogramm müsste individuell erstellt werden und benötigt viel Motivation mit regelmäßigen Trainings- und Leistungskontrollen und ist auch nur für die rüstigen älteren Patienten (Go-Goes) einfach anwendbar. Abbildung 18 Evidenzgrade der Ernährungsempfehlungen und Lebensstiländerung (13)

30 Hypertonie im Alter Behandlungsziel Das Behandlungsziel ist definiert als Blutdruckzielwerterreichung, aber auch als Identifikation aller Risikofaktoren, um durch die gemeinsame Behandlung die maximale langfristige Reduktion des kardiovaskulären Risikos zu erreichen. Abbildung 19 Risikoprofil und Therapieentscheidung (13) Wenn Lebensstilmodifikation und Ernährungsumstellung zur Erreichung des Zielblutdrucks quasi versagen sollte eine Pharmakotherapie initiiert werden. Die nicht-pharmakologischen Therapiemaßnahmen sollten jedoch weitergeführt werden. Das medikamentöse Management darf nicht nur von den absoluten Blutdruckwerten abhängen. Prognose und Wahrscheinlichkeit, cerebrovaskuläre oder koronare Komplikationen zu erleiden, hängen auch sehr von konkomittierenden kardiovaskulären Risikofaktoren sowie von (End-)Organschäden ab (siehe Abb. 14). Randomisierte kontrollierte Studien haben eindeutig gezeigt, dass eine antihypertensive medikamentöse Therapie auch älteren und sehr alten Patienten zur Reduktion kardiovaskulärer Ereignisse und zur Verhinderung von Organschäden nützt (siehe Kapitel zur Risikostratifizierung und Abb. 23: Studienübersicht) (16).

31 Hypertonie im Alter Die meisten Daten stammen aus gepoolten Analysen, wie z.b. die Blood Pressure Lowering Treatment Trialist Collaboration gepoolte Daten von 31 Studien beinhaltet (48). Aufgrund der Heterogenität in dieser Population von fitten älteren Patienten zu immobilen, multimorbiden Patienten ist die Therapieentscheidung oft nicht einfach und es müssen die gesundheitlichen und sozioökonomischen Begleitumstände bei der Therapieentscheidung miterfasst werden. Abbildung 20 Evidenzgrade zur Entscheidung über antihypertensive Therapie (allgemein) (13) Für ältere Hypertoniker bis ins 8. Dezennium liegen solide Daten von großen Interventionsstudien vor. Diese wurden ausschließlich bei Patienten mit mittelschwerer Hypertonie (Stadium II, RR systolisch 160 mmhg) durchgeführt und zeigen, dass der relative Nutzen einer Drucksenkung in dieser Altersklasse durchaus vergleichbar ist mit dem bei Jüngeren, der absolute Nutzen infolge der höheren Ereignisrate jedoch höher ist. Die mit den verschiedenen Medikamenten erreichte Blutdrucksenkung ist ähnlich wie bei den Jüngeren (48) (49). Der Nutzen einer antihypertensiven Therapie in allen verfügbaren Studien rechtfertigt wahrscheinlich einen Therapiebeginn bei einer Hypertonie 1. Grades, auch wenn in den entsprechenden Studien nur Patienten mit einem systolischen Blutdruck von mind. 160 mmhg rekrutiert wurden.

32 Hypertonie im Alter Anhand Metaanalysen (50) und anderen Studien, wie MRC (Medical Research Council Trial; Diuretikum vs. Β-Blocker vs. Placebo) (51), FEVER (52) oder PRO- GRESS (53), wurden die Blutdruckziele immer weiter herabgesetzt. Daraus resultierte der Trend zu the lower, the better. Dabei ist allerdings besondere Vorsicht geboten, insbesondere bei Patienten mit orthostatischer und/oder postprandialer Hypotonie. Gerade die symptomatische Orthostase ist ein klinisch relevantes Problem. Sie ist bei geriatrischen Patienten häufig vergesellschaftet mit Synkopen, Stürzen und Frakturen. Wichtig ist deshalb, bei älteren Patienten Blutdruckmessungen immer auch im Stehen durchzuführen und zwar sowohl zur Diagnosestellung als auch später im Verlauf der Therapie. Eine Metaanalyse von Bejan-Angoulvant et al. belegt, dass eine medikamentöse Drucksenkung das Risiko für Schlaganfall und Herzinsuffizienz signifikant reduziert, eine stärkere Drucksenkung jedoch die Gesamtmortalität zu steigern vermag (54). Damit kann man den derzeitigen Trend dahingehend zusammenfassen, dass nun the earlier, the better an Bedeutung gewonnen hat. Auch die Neuerungen der ESH 2013 widersprechen dem jahrelangen Konzept the lower, the better. Grund dafür könnte Angst vor dem J-Kurven-Effekt sein: Zunächst sinkt die Häufigkeit kardiovaskulärer Ereignisse mit niedrigeren Blutdruckwerten, dann steigt sie aber wieder an. Eine Analyse aus der INVEST-Studie versuchte sich der Frage zu nähern, ob eine aggressive Blutdrucksenkung bei hypertensiven Patienten mit KHK gefährlich sein kann. In dieser Analyse wurde gezeigt, dass eine Absenkung des diastolischen Blutdrucks <70 mmhg zu einem Ansteigen des Risikos für Myokardinfarkte führt. Die INVEST zeigt damit den Effekt der J-Kurve auf, da gerade bei Hypertonikern die Autoregulation des zerebralen und myokardialen Kreislaufes gestört ist und zu einer lebensbedrohlichen Ischämie führen kann (55) (56) (57) (58).

33 Hypertonie im Alter Studiendaten Der SHEP-, PROGRESS-, LIFE-ISH-, INVEST-, SYST-EUR- und SYST-CHINA-Trial schlossen Teilnehmer zwischen 65-74 Jahre (young old bzw. elderly) ein (siehe Abb. 22 und 23). In der SHEP-Studie (Systolic Hpertension in the Elderly Program) konnte die ischämische Schlaganfallinzidenz bei den über 60jährigen Teilnehmern mit isoliert systolischer Hypertonie durch die Behandlung mit einem Chlorthalidon (12,5mg/d 25mg/d) ± Atenolol (25 50mg/d) um 37 %, die hämorrhagische Schlaganfallinzidenz um 54 % gegenüber Placebo nach 4 ½ Jahren Follow-Up gesenkt werden (59) (60). In der randomisierten PROGRESS-Studie (Perindopril Protection Against Recurrent Stroke Study) konnte mit Perindopril als Antihypertensivum für ein Patientenkollektiv von 6.105 Teilnehmern die Inzidenz von ischämischen (10 % vs. 35 %) bzw. hämorrhagischen (26 % vs. 87 %) Schlaganfällen im Vergleich zu Placebo verringert werden (53). Diese Ergebnisse (Reduktion der Schlaganfallinzidenz um 42 %, p=0,003; Reduktion aller kardiovaskulären Ereignisse Insult, Retinopathie, Myokardinfarkt, Herzinsuffizienz, Niereninsuffizienz um 31 %, p<0,001 verglichen mit Placebo nach 2 Jahren Follow-Up) konnten in dem randomisierten, doppelblind durchgeführten SYST-EUR- Trial (Systolic Hypertension in Europe Trial) an 4.695 Teilnehmern mit isoliert systolischer Hypertonie bei über 60Jährigen bestätigt werden (Nitrendipin 10-40mg/d ±. Enalapril 5-20mg/d ± Hydrochlorothiazid 12,5-25mg/d vs. Placebo) (61). Eine ähnliche Studie, der randomisierte SYST-CHINA-Trial (Systolic Hypertension in China) konnte an einem Patientenkollektiv von 2.394 isoliert systolisch hypertensiven Patienten 60 Jahre die Reduktion der Inzidenz an Schlaganfällen, Schlaganfallmortalität und anderer kardiovaskulärer Ereignisse bestätigen. In Verwendung waren folgende Substanzen im Vergleich zu Placebo: Nitrendipin 10-40mg/d ± Captopril 12,5-50mg/d oder Hydrochlorothiazid 12,5-25mg/d, Zielblutdruck <150 mmhg) (62).

34 Hypertonie im Alter Im schwedischen prospektiv, randomisierten, doppel-blind angelegten STOP Hypertension Trial, welcher 1.627 Teilnehmer zwischen 70 und 84 Jahren mit einer systolischen und diastolischen Hypertonie einschloss, betrug das Relative Risiko in der behandelten Gruppe (β-blocker + Diuretikum) für den tödlichen Schlaganfall 0,24, für alle Schlaganfälle zusammen 0,53, verglichen mit der Placebogruppe. Besonders auffällig dabei war, dass, obwohl die Teilnehmer vermutlich seit Jahren eine Hypertonie hatten, der protektive Effekt bereits nach 1jähriger Blutdruckbehandlung einsetzte (63). Zu einer anderen Zeit wurde die INVEST-Studie (International Verapamil- Trandolapril Study) konzipiert: Zwei Behandlungsstrategien wurden offen, aber randomisiert miteinander verglichen: A: Verapamil plus, bei unzureichendem Erfolg, der ACE-Hemmer Trandolapril; B: Atenolol plus ggf. Hydrochlorothiazid. Alle Patienten mit Diabetes, Herz- oder Niereninsuffizienz sollten auf jeden Fall als zweites Medikament Trandolapril erhalten. War der Blutdruck auf diese Weise nicht befriedigend einzustellen, konnten Medikamente der anderen Gruppe zusätzlich eingesetzt werden. Eingeschlossen wurden 22.576 Patienten mit arterieller Hypertonie, die älter als 50 Jahre, wobei eine große Anzahl auch älter als 80 Jahre waren, und an einer koronaren Herzkrankheit litten. Zielblutdruck war 140/90 mmhg bzw. 130/85 mmhg bei gleichzeitigem Diabetes mellitus oder Niereninsuffizienz. In beiden Gruppen wurden die Zielblutdruck-Werte erreicht. Auch die primären Endpunkte wurden in beiden Gruppen gleich häufig erreicht. Schlaganfälle waren etwas häufiger in Gruppe B, Herzinsuffizienz häufiger in Gruppe A. Tendenziell gab es etwas häufiger Hyperglykämien in Gruppe B; die Kaliumwerte wurden nicht mitgeteilt (55). Eine Metaanalyse von 8 klinischen Studien (insg. 15.693 ältere Patienten mit ISH) zeigte, dass sich mit einer antihypertensiven Therapie das Schlaganfallrisiko um 30 %, das KHK-Risiko um 23 %, das kardiovaskuläre Risiko um 26 %, die kardiovaskuläre Mortalität um 18 % und die Gesamtmortalität um 13 % reduzieren ließ (64). Im Unterschied dazu zeigte sich im JATOS-Trial (Japanese Trial to Assess Optimal Systolic Blood Pressure in Elderly Hypertensive Patients) bei >65-jährigen Hypertonikern kein Unterschied im primären Endpunkt (kombinierte kardiovaskulä-

35 Hypertonie im Alter re/zerebrale Ereignisse, kardiale Ereignisse, Niereninsuffizienz) bei Vergleich der Zielblutdruckbereiche systolisch 140-160 mmhg versus <140 mmhg (RR- Unterschied 9,7/3,3 mmhg) (65). In der ACCORD BP-Studie (Action to Control Cardiovascular Risk in Diabetes-Blood Pressure) wurden hypertensive Typ 2 Diabetiker (durchschnittl. Alter 62 Jahre) entweder auf einen systolischen Zielblutdruck von <120 mmhg oder <140 mmhg eingestellt. Das Auftreten des primären kombinierten Endpunktes (nichttödlicher Schlaganfall oder Herzinfarkt, kardiovaskulärer Tod) war in beiden Gruppen nicht signifikant unterschiedlich, ebenso war die Gesamtmortalität nicht signifikant unterschiedlich. Lediglich die Rate an Schlaganfällen war unter der intensiven Blutdrucktherapie signifikant niedriger. Auch traten unter der intensiven Blutdrucktherapie signifikant häufiger Nebenwirkungen (orthostatische Hypotonie, Synkopen, Bradykardie, Arrhythmie, Hypokaliämie, Serum-Kreatininanstieg) auf (66). Weitere Studien sind notwendig, um den Zielblutdruck für hypertensive Diabetiker genauer zu definieren. Die ESH gibt derzeit einen einheitlichen systolischen Zielwert von 140 mmhg als Grenze vor. Diastolisch gelten Werte <90 mmhg als Ziel. Für Diabetiker werden diastolisch 85 mmhg als Obergrenze empfohlen (13).

36 Hypertonie im Alter Viele andere Interventionsstudien konnten bei älteren Patienten einen Vorteil der an- - ALLHAT (Antihypertensive and Lipid-Lowering Treatment to Prevent Heart At- tihypertensiven Behandlung gegenüber Placebo nachweisen: - HDFP (Hypertensionn Detection and Follow Up Program), - CAPPP (Captopril Prevention Project), - HOPE (Heart Outcomes and Prevention Evaluation), - LIFE (Losartan Intervention For Endpoint Reduction in Hypertension), tack), - ACCOMPLISH (Avoiding Cardiovascular Events in Combination Therapy in Patients Living with Systolic Hypertension), - ADVANCE (Action in Diabetes and Vascular Disease: Preterax and Diamicron MR Controlled Evaluation), - ASCOT (Anglo-Scandinavian Cardiac Outcomes Trial-Blood Pressure Lowe- ring Arm), - STONE (Shanghai trial of nifedipine in the elderly) - CARDIO-SIS, etc. (siehe Abb. 23) Epidemiologische Quer- und Längsschnittuntersuchungen zeigen einheitlich, dass im Alter > 80 85 Jahre die Lebenserwartung bei systolischen Blutdruckwerten >140 mmhg höher ist als bei tieferen Werten. Sie weisen außerdem daraufhin, dass ein systolischer Blutdruck von etwa 160-180 mmhg mit der besten Überlebensprognose einhergeht, unabhängig davon, ob Blutdruckmedikamente eingenommen werden oder nicht (siehe Abb. 21). Abbildung 21 Prognose sehr alter Menschen in Abhängigkeit vom systolischen Blutdruck (30)

37 Hypertonie im Alter Oates et al. konnte mit seiner retrospektiven Kohortenanalyse, die 4.071 Patienten einschloss und 84,5 % davon eine antihypertensive Therapie erhielten, sogar aufzei- <140 mmhg gen, dass jene mit einer strengeren systolischen Blutdruckeinstellung ein kürzeres Überleben hatten (67). Abbildung 22 Zusammenfassung der Daten wichtiger Interventionsstudien bei alten und sehr alten Patienten (68)

38 Hypertonie im Alter Abbildung 23 Studienübersicht (13)

39 Hypertonie im Alter Die HYVET-Studie Bei der von Wissenschaftlern des Imperial College London koordinierten doppelblind randomisierten, placebokontrollierten Studie mit dem Namen HYVET (Hypertension in the Very Elderly Trial), an der 3.845 Patienten teilnahmen, handelt es sich um die bislang größte klinische Studie, die ausschließlich Patienten im Alter von oder über 80 Jahren ( late elderly ) hinsichtlich der Auswirkungen einer Blutdrucksenkung untersucht hat, um den Zielblutdruck von 150/80 mmhg zu erreichen. Die Patienten erhielten entweder ein Placebo oder das Diuretikum Indapamid SR (Slow Release) 1,5mg/d bei zusätzlicher Gabe des ACE-Hemmers Perindopril 2-4mg/d (durchschnittliches Alter 83 Jahre 7 Monate, Ausgangs-RR 160-199 mmhg). Die Studie wurde vorzeitig beendet, nachdem in der aktiv behandelten Gruppe eine signifikante Senkung von Gesamtmortalität um 21 % (p=0,02), Schlaganfallmortalität um 39 % (p=0,05), eine Senkung der tödlichen und nicht-tödlichen Herzinsuffizienz von 65 % (p<0,001) und eine Senkung der kardiovaskulären Ereignisse um 34 % (p<0,001) bei den behandelten Patienten im ersten Jahr im Vergleich zu Placebo beobachtet worden war, wobei allerdings der primäre kombinierte Endpunkt bestehend aus tödlichen und nicht-tödlichem Schlaganfall um 30 % nicht signifikant (p=0,06) reduziert war (69). Die Ergebnisse stützen einen Zielblutdruck von 150/80 mmhg. Dieser wurde nach zwei Jahren bei nahezu der Hälfte der Patienten erreicht. Vor Durchführung dieser Studie wusste man nicht genau, ob sehr alte Menschen ( 80 Jahre) mit hohem Blutdruck genauso von einer blutdrucksenkenden Behandlung profitieren wie jüngere Menschen. Die Ergebnisse zeigten deutlich, dass viele Patienten ab 80 Jahren von der Behandlung sehr profitieren und daher die Blutdrucksenkung auf einen Zielblutdruck von <150/80 mmhg im Alter 80 Jahre sinnvoll ist. (Die Reduktion der Schlaganfälle durfte erwartet worden sein, die beobachtete Senkung der Gesamtsterblichkeit hingegen kam einer Sensation gleich.) Zu den Nebenwirkungen und zur Verträglichkeit der HYVET-Studienmedikation ist zu erwähnen, dass es in der aktiven Behandlungsgruppe zu keinen signifikanten Veränderungen des Stoffwechsels im Vergleich zu Placebo (Kalium, Harnsäure, Glukose) kam (69) (70).

40 Hypertonie im Alter Jedoch ist zu betonen, dass - wie in vielen klinischen Studien die Teilnehmer auch hier generell gesünder als die Allgemeinbevölkerung waren, was durch die niedrigeren Hirnschlag- und Gesamttodesraten ebenso wie den verhältnismäßig geringen Anteil an vorbestehenden kardiovaskulären Erkrankungen dokumentiert ist. Es ist daher denkbar, dass die errechnete «number needed to treat» (NNT) zur Verhinderung eines Hirnschlags in zwei Jahren von 94 eine zu hohe Schätzung ist, obwohl sie im Rahmen der Prävention akzeptabel ausfällt, wie die Autoren anmerken. Eindrücklich sei hingegen eine NNT von 40, um während zweier Behandlungsjahre einen Todesfall zu verhindern. Allerdings warnen die Autoren auch davor, diese Ergebnisse nun ohne weiteres auf gebrechlichere Populationen alter Menschen zu übertragen.

41 Hypertonie im Alter Richtlinien und Überlegungen zu Beginn einer medikamentösen Therapie älterer Patienten Aufgrund der im vorigen Kapitel vorgestellten Studiendaten ist jegliche Blutdrucksenkung auch bei älteren und sehr alten Patienten mit einer Verminderung der cerebround kardiovaskulären Morbidität und Letalität verbunden. Damit lohnt sich jeglicher Effort zur Blutdrucksenkung. Auch bei älteren Patienten (> 80 Jahre) sollte zumindest seit Publikation der HY- VET-Studie - ein Blutdruck von 150/90 mmhg angestrebt werden (Evidenz IA). Abbildung 24 Evidenzgrade zu Empfehlungen der RR-Zielwerte (13)

42 Hypertonie im Alter Abbildung 25 Evidenztabelle zu Blutdruckzielwerten nach Risikogruppe (13) Es besteht ausreichend Evidenz, dass Thiaziddiuretika, β-blocker, Ca 2+ - Antagonisten, ACE-Inhibitoren und AT1-Antagonisten auch bei älteren Hypertonikern die Prognose günstig beeinflussen. Eine große Meta-Analyse (Blood Pressure Lowering Treatment Trialists Collaboration) (48) hat gezeigt, dass die Wahl der Medikamentenklasse für das Outcome der Prävention kardiovaskulärer Ereignisse keine große Rolle zu spielen scheint und keine Bevorzugung einer dieser Substanzklassen allein aufgrund des hohen Lebensalters abgeleitet werden kann. Die Vorteile einer medikamentösen Hypertoniebehandlung sind hauptsächlich auf den blutdrucksenkenden Effekt per se zurückzuführen, abgesehen davon, dass der β-blocker Atenolol in Vergleichsuntersuchungen eher schlechter abschneidet (71). Wichtig sei, dass der Patient den Zielwert frühzeitig (Grundsatz the earlier, the better ) erreicht (72).

43 Hypertonie im Alter Die in diesem Kapitel angeführte Grafik zeigt einen Vergleich blutdrucksenkender Regime: A ACE-Inh. vs. Diuretikum od. β-blocker B Ca 2+ -Ant. vs. Diuretikum od. β-blocker C ACE-Inh. vs Ca 2+ -Ant. Abbildung 26 RR-senkender Effekt div. Medikamentenregime (48) Auf jeden Fall sollten auch die wesentlichen kardiovaskulären und nichtkardiovaskulären Begleiterkrankungen, Risikofaktoren, Endorganschäden (z.b. KHKβ-Blocker, Herzinsuffizienz Diuretika, ACE-Hemmer, AT1-Antagonisten, Niereninsuffizienz ACE Hemmer etc.) und die Lebensqualität in der antihypertensiven Differentialtherapie berücksichtigt werden.

44 Hypertonie im Alter Abbildung 27 Bevorzugte Antihypertensiva bei Co-Morbiditäten (13) Erhöhte systolische Blutdruckwerte bis 160 mmhg können in Abhängigkeit von der Gesamtsituation (orthostatische Hypotonie, ausgeprägte Co-Morbidität, Synkopen, Elektrolytschwankungen, Serum-Kreatinin etc.) toleriert werden. In der INVEST-Studie wurde gezeigt, dass eine Absenkung des diastolischen Blutdrucks <70 mmhg zu einem Ansteigen des Risikos für Myokardinfarkte führt (55). Die Initialdosis sollte möglichst niedrig gewählt werden und stufenweise bis zur maximal tolerablen Dosis hochtitriert werden. Wichtig ist also ein einschleichender Beginn, da die Organperfusion bei KHK oder Zerebralsklerose sonst leidet. Eine zu schnelle Blutdrucksenkung beinhaltet das Risiko für Orthostasereaktion (Frakturgefahr) sowie apoplektischen Insult bzw. Myokardinfarkt. Auch sollte immer an mögliche Medikamenteninteraktionen gedacht werden.

45 Hypertonie im Alter Eine Hilfestellung und Empfehlungen im Umgang mit dem Problem der Polypharmazie gibt die Broschüre bzw. der Flyer namens Polypharmazie der Österreichischen Gesellschaft für Geriatrie und Gerontologie (ÖGGG) (73). Eine wichtige Änderung ergibt sich bei der Wahl der Medikamente laut der neuen ESH/ESC-Leitlinien: Die Leitlinien betonen die Notwendigkeit, dass bei Hochrisikopatienten häufig nur eine Kombination aus mindestens zwei Medikamenten den Blutdruck mit einer höheren Ansprechrate anhaltend senken kann, und geben praktische Hinweise für Kombinationsstrategien (13). Initial kann oft schon mit einer Kombinationstherapie begonnen werden. Jedoch sollte bedacht werden, dass mit einer initialen Kombinationstherapie der Blutdruck auch sehr rasch absinken könnte. Gut gewählte Kombinationen können genutzt werden, Nebenwirkungen eines Antihypertensivums durch günstige Effekte der anderen Komponenten zu kompensieren (74). Und dafür spricht - im Gegensatz zur Ausreizung der Titration - außerdem, dass in höherer Dosis die Nebenwirkungen von Antihypertensiva stärker zunehmen als deren Wirkung. Wie die Arbeitsgruppe um Mourad et al. zeigt, können mit einer initialen Kombinationstherapie signifikant mehr Patienten innerhalb von 6 Monaten in den Zielbereich gebracht werden als mit einer sequenziellen Monotherapie oder durch langsames Auftitrieren. Unter der niedrig dosierten Kombinationstherapie traten auch weniger Nebenwirkungen auf (75). Fixkombinationen mit nur einer Tagesdosis sollten verwendet werden, um die Compliance zu erhöhen, die Einnahme zu erleichtern und die Kosten zu senken (76). Von einer Kombination zweier RAAS-Antagonisten wird aufgrund der höheren Inzidenz schwerwiegender Nebenwirkungen abgeraten (13). Mit ganz neuen Substanzen sollte zurückhaltend umgegangen werden.

46 Hypertonie im Alter In einer veröffentlichten Metaanalyse wurde darauf hingewiesen, dass die Reduktion der kardiovaskulären Ereignisse unter der aktiven Behandlung mit β-blockern geringer ist als unter der Diuretika-Therapie, wobei allerdings viele der Patienten in der analysierten Studien mit einer Kombination der beiden Therapieansätze behandelt wurde (77). Eine andere im Lancet 2005 publizierte Metaanalyse informierte sogar über eine 16 % höhere Schlaganfallinzidenz bei hypertensiven Patienten (ohne Co- Morbiditäten), die mit einem β-blockern (Atenolol) therapiert wurden (71). Wenn das Blutdruckziel (gemessen im Sitzen) aufgrund Orthostasereaktionen nicht erreicht werden kann, sollte der Fokus auf dasselbe Blutdruckziel, jedoch im Stehen, gelegt werden (78).

47 Hypertonie im Alter Kognitive Funktion & Frailty Als Risikofaktoren für die Entwicklung einer Frailty werden verschiedene Einflussgrößen diskutiert, darunter pathophysiologische Prozesse (z.b. chronische subklinische Inflammationsvorgänge, Abnahme der Immunfunktion), verschiedene Krankheiten und soziodemografische sowie psychologische Faktoren. Zu den Krankheiten, die mit einer Frailty assoziiert werden, zählt unter anderem die arterielle Hypertonie. Die Studie von Fried et al. zeigt, dass 68 % der Teilnehmer mit einer Frailty zwei oder mehr Krankheiten haben (79). Nach Festlegung der umfassenden Diagnose, die die allgemeine Prognose und die Medikamentenwahl bestimmt, ist für die weitere Therapieentscheidung auf die Funktionalität zu achten: Go-Goes Slow-Goes No-Goes zeichnen sich durch einen guten Allgemeinstatus, gute mentale und physische Gesundheit aus und pflegen einen aktiven Lebensstil; mögliche funktionelle oder gesundheitliche Probleme behindern ihre Aktivitäten nicht. Therapieoptionen wie bei jüngeren Patienten Hilfsbedürftige SeniorInnen (mit körperlichen und/oder mentalen Einschränkungen): Leben mit einigen Einschränkungen aufgrund gesundheitlicher oder sozialer Probleme. Sie werden bis zu einem gewissen Grad von außen unter stützt. Individualisierte Therapie: Monotherapie, Dosisreduktion Pflegebedürftige SeniorInnen: Sind in einem so schlechten gesundheitlichen oder sozialen Zustand, dass sie kontinuierliche Unterstützung und Pflege benötigen. No-Goes werden daher in Pflegeheimen oder durch intensive Pflege zu Hause betreut. Supportive Therapie Für die Slow-Goes und No-Goes, die aufgrund der Frailty besonders empfindlich sind, muss individuell versucht werden, die einzelnen Co-Morbiditäten zu bewerten, und mit subtiler kardiologischer Behandlung die Prognose, Funktionalität und Lebensqualität unter Berücksichtigung der persönlichen Wünsche zu verbessern. Die Pathophysiologie im Alter und die besonderen Begleiterkrankungen im Alter machen die Behandlung zur besonderen Herausforderung, weil die kognitive Situation klare, einfache, schriftlich niedergelegte und oftmals wiederholte Therapiepläne benötigt, die von eingeschulten Angehörigen oder Pflegekräften gesichert angewandt werden sollen (37).