Essen von morgen. Zur Bedeutung von Ernährung in der Überflussgesellschaft Prof. Dr. Jana Rückert John, PariSERVE Fachtagung, 1. Juni 2015
Agenda Überfluss und Ernährungswohlstand: Was bedeutet das für unsere Ernährung? Welche Probleme und Risiken sind damit verbunden? Und welche Chancen und Gestaltungspotenziale ergeben sich daraus? 2
Überflussgesellschaft Vom Mangel zum Ernährungswohlstand Nahezu unbegrenzte Verfügbarkeit von Nahrungsmitteln räumlich und zeitlich Von der Nahrungsmittelsicherung zur sicherheit Überfluss und Überangebot, Verschwendung Historisch einmalige Situation seit wenigen Jahrzehnten in Deutschland Keine weltvergessene Wohlstandsdebatte: Mangel trotz Überfluss Global und national (Ernährungsarmut*, Tafeln) * Pfeiffer, S. (2014): Hunger in der Überflussgesellschaft, Springer VS 3
Probleme des westlichen Ernährungsstils Herausforderung unserer Zeit: Überleben im Überfluss Gesundheitliche Folgewirkungen: Umgang mit Nahrungswohlstand und Fehlernährung Adipositas als Epidemie (WHO) Ökologische Folgewirkungen entlang der gesamten Wertschöpfungskette von Nahrungsmitteln Produktion, Verarbeitung, Transport, Konsum/Verzehr, Wegwerfen Zum Beispiel Fleisch: Flächen und Wasserverbrauch, Biodiversitätsverlust, Klimabelastung, Tierschutz/ ethik, globale Ungerechtigkeit 4
Überflussgesellschaft Deutschland Rückgang des Anteils von Ausgaben für Nahrungsmittel* privater Haushalte in Deutschland: 44,0 Prozent (1950), 13,8 Prozent (2013) Wohlstandsindikator oder Bedeutungsverlust des Essens?! Wo würden die Deutschen sparen? (2009) größere Konsumgüter (83 %), Genussmittel (72%), Nahrungsmittel (36%) Steigende Qualitätsorientierung beim Lebensmitteleinkauf (Nestle 2012) 26 Prozent der Bevölkerung sind Quality Eater (Gesundheit, Geschmack, Sicherheit und Nachhaltigkeit) Überfluss geht offensichtlich mit veränderten Stellenwert von Essen und Ernährung einher. * incl. Getränke und Tabakwaren; Quelle: statista.com 5
Beschleunigungsgesellschaft Veränderte Zeitstrukturen in der modernen Gesellschaft (Rosa 2005) Technische Beschleunigung (z.b. Mobilität, Social Media) Sozialer Wandel: Flexibilisierung sozialer Beziehungen (z.b. zeitlich befristete Erwerbsarbeitsverhältnisse) Beschleunigung des Lebenstempos (Multitasking) Entschleunigung: Lob der Muße 6
Beschleunigung und Ernährungstrends Snacking und Out of home Mahlzeiten verlieren ihre Rolle als Strukturgeber (Nestle 2011) 2/3 der unter 30 Jährigen (Singles und junge Paare ohne Kinder) essen ab und zu statt einer Hauptmahlzeit eine Kleinigkeit (jeder 6. täglich) Fast 50 Prozent nimmt sich max. 20 Minuten Zeit zum Essen; 10 Prozent erledigen ihre Hauptmahlzeit in höchstens 10 Minuten pro Tag (Froböse/Wallmann 2012). Stärkere Nutzung der Out of Home Angebote durch die Jüngeren (unter 30 Jährigen): 41 Prozent mind. einmal im Monat; 7 Prozent der 45 59 Jährigen (Fast Food Restaurants) 7
Beschleunigung und Ernährungstrends Snacking und Out of home Mahlzeiten verlieren ihre Rolle als Strukturgeber (Nestle 2011) Bei 2/3 der Berufstätigen findet das Mittagessen außer Haus statt 27 Prozent der Berufstätigen nehmen das Frühstück meistens oder gelegentlich nicht zu Hause ein Essen ist für jeden Zweiten nur noch Nebensache (Techniker Krankenkasse). 99,6 Prozent lesen Zeitung, hören Radio oder gucken Fernsehen während sie frühstücken; 22 Prozent sind gleichzeitig online unterwegs (ZUEGG 2012). 8
Entschleunigung in der Ernährung Mahlzeiten als Auszeiten und kollektive Events: kostbare und bewusste Genussmomente im Alltag (Wippermann 2013) Ausdifferenzierung der physiologische und soziale Funktion des Essens Mahlzeit als kommunikativer Treffpunkt Verlagerung von gemeinsamen (Essen )Zeiten: von der Woche zum Wochenende (Leonhäuser et al. 2009) 9
Essen und Identität: Kochen als Lust oder Last? Beispiel: Beef! Für Männer mit Geschmack Food und Lifestyle Magazin auf dem deutschsprachigen Markt seit 2009 60.000 Verkaufsexemplare je Auflage, 6 Ausgaben pro Jahr, 10 Euro Professionalisiertes Kochen von Männern in bessergestellten sozialen Milieus Dient der identitären Selbstbeschreibung und Distinktion Kennerschaft, Gourmet, Handwerklichkeit, Engagement/Selbstwirksamkeit, selbstbezügliche Genussorientierung Attribute männlicher Geschlechterrollen 10
Essen und Identität: Kochen als Lust oder Last? Beispiel: Landlust Segment der Wohn, Garten sowie KochMagazine; dort seit Ende 2009 Marktführer 1.078.225 Exemplare (1/2015)*, erscheint 6x pro Jahr, 4 Euro Gutsituierte und kaufkräftige, naturverbundene, wertkonservative Leserschaft Zwischen 40 und 60 Jahren, zu 72 % Frauen Dient der weiblichen identitären Selbstbeschreibung Verantwortung für die alltägliche Ernährungsversorgung: weniger Selbstbezüglichkeit, Pragmatisch, Zufriedenheit der Anderen; Gewöhnlicher, weil alltäglich Zeigt Sehnsüchte an: Authentizität, Sicherheit * Stern (759.034 Exemplare), DER SPIEGEL (894.375 Exemplare) 11
Zunahme von Ernährungsformen und trends Suchbewegung nach der richtigen Ernährung aufgrund von Zunahme an Möglichkeiten Gleichzeitig schafft diese Vielfalt und die damit verbundene Komplexitätszunahme (u.a. Globalisierung) Unsicherheit 12
Ernährungstrends 13
Urbanisierung: Gardening und Farming 14
Technisierung und Medialisierung 15
Organisierte Ernährung Verpflegung außer Haus Potenziale der Gemeinschaftsgastronomie im Kontext gesellschaftlicher Trends Formen und Funktionswandel der Familie Erosion traditioneller Geschlechterrollenarrangements Gesellschaftlichen Debatten um Gesundheit und Nachhaltigkeit Steigender Anteil der Gemeinschaftsgastronomie: Gelegenheitsstrukturen für gesunde und nachhaltige Ernährung Ausstrahlungseffekte für Ernährung in Privathaushalten 16
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