Magersucht, Bulimie, Ess-Sucht. Krankheitsverständnis und medizinische Komplikationen

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Transkript:

Magersucht, Bulimie, Ess-Sucht Krankheitsverständnis und medizinische Komplikationen Herbert Backmund TCE - Forum LINZ 05.06.2008

Ess-Störungen Anorexia nervosa Bulimia nervosa Binge-Eating- Störung Untergewicht Normalgewicht Übergewicht

Diagnostische Kriterien (nach ICD 10 und DSM IV) Anorexia nervosa: a) Zu niedriges Gewicht, BMI < 17,5 b) Gewichtsverlust selbst herbeigeführt c) Große Angst dick zu werden d) Verzerrte Wahrnehmung von Gewicht und Figur und übertriebener Einfluss des Gewichtes auf das Selbstwertgefühl e) Amenorrhoe Restriktive und bulimische Form

Diagnostische Kriterien (nach ICD 10 und DSM IV) Bulimia nervosa: a. Heißhungeranfälle b. Kompensatorische Maßnahmen zur Vermeidung einer Gewichtszunahme c. Ausgeprägte Abhängigkeit des Selbstwertes von Gewicht und Figur Purging-Typ und Nonpurging-Typ

Diagnostische Kriterien (nach DSM IV) Ess-Sucht, Binge-eating-Disorder: a. Wiederholte Heißhungeranfälle b. Schnell essen, essen bis zu einem unangenehmen Völlegefühl c. Erhebliche psychische Beeinträchtigung durch die Essanfälle (Ekelgefühl, Schuldgefühle, Depressionen)

Ess-Störungen sind Krankheiten

Merkmale der Ess-Störungen Störung des Körperbildes - Überbewertung der Schlankheit - Überbewertung von Gewicht und Figur Essen: Übermäßige Kontrolle oder Kontrollverlust - Erhebliche Nahrungsrestriktion - Ess-Anfall Extreme Verhaltensweisen zur Kontrolle von Gewicht und Figur - Bewegungsdrang - Kompensatorische Maßnahmen

Body Mass Index BMI = Körpergewicht (kg) : Körpergröße (m)² Beispiel: Körpergröße Körpergewicht = 1,65 m = 43,50 kg 43,50 kg : (1,65 m x 1,65 m) ~ BMI 16 kg/m²

Body Mass Index Hochgradiges Untergewicht BMI < 14 kg/m² Mittelgradiges Untergewicht BMI 14 bis 16 kg/m² Leichtgradiges Untergewicht BMI 16 bis 18 kg/m² Normalbereich BMI 18 bis 26 kg/m² Leichtgradiges Übergewicht BMI 26 bis 30 kg/m² Mittelgradiges Übergewicht BMI 30 bis 40 kg/m² Hochgradiges Übergewicht BMI > 40 kg/m² Nach: Behandlungsleitlinie Essstörungen, Praxisleitlinien in Psychiatrie und Psychotherapie, Band 4, 2000, Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und Nervenheilkunde DGPPN (Hrsg.)

Ursächliche Faktoren Biologische Faktoren (u.a. genetische Disposition) Persönlichkeit Familiäre Einflüsse Soziokulturelle Faktoren

Ess-Störungen spielen sich im Gehirn ab

Biologisches Modell Individuell unterschiedliche Reaktionen auf (freiwilliges) Hungern auf den Belohnungswert von Hungern und Essen

Gen - Umwelt - Interaktion Unterschiedliche Genotypen bewirken unterschiedliche Empfindlichkeiten und Reaktionen gegenüber Umwelteinflüssen Beispiel: Erfahrung mit Diäten

Erfahrung mit Diäten Genotyp A: Unangenehme, unbequeme Erfahrung: Diät wird nicht (freiwillig) wiederholt Genotyp B: Einsparung von Kalorien führt zur Verminderung von Angst und Dysphorie, Gefühl für die Kontrolle des Körpers, positive soziale Anerkennung Übergang zur Anorexia nervosa

Soziokulturelle Faktoren Weibliches Geschlecht (Rolle der Frau) Schlankheitsideal Transkulturelle Unterschiede mit höherer Inzidenz in Kulturen mit Schlankheitsideal Deutliche prospektive Beziehung zwischen der Verinnerlichung des Schlankheitsideals und gestörtem Essverhalten

Epidemiologie Anorexia nervosa: Häufigkeit 0,5 1 % Meist Mädchen und junge Frauen im Alter von 12 25 Jahren Verhältnis Frauen : Männer 10 : 1 Bulimia nervosa: Häufigkeit ca. 3 % Beginn meist im Jugendalter Mehr Frauen als Männer Binge-Eating-Störung: Kann auch im Erwachsenenalter beginnen Etwa gleich häufig bei Männern und Frauen

Krankheitsverlauf 50 bis 70 % Bewältigung der Essstörung Mortalität: AN: 0 22 % 5% pro Dekade 50fach erhöhtes Suizidrisiko BN: 2 3 %

Medizinische Komplikationen Einfluss der Form der Ess- Störung: Anorexia nervosa, restriktiver (asketischer) Typ Anorexia nervosa, binge-purging (bulimischer) Typ Bulimia nervosa, purging Typ Bulimia nervosa, non-purging Typ Binge-eating-Störung

Kompensatorische Maßnahmen Willentliches Erbrechen Null-Diät Missbrauch von Medikamenten Exzessive motorische Aktivitäten

Bedingungen Mangelernährung Unterernährung Überernährung Übermäßige Trinkmengen Häufiges Erbrechen Flüssigkeitsverlust Säureschäden Missbrauch von Medikamenten Missbrauch von Nahrungsergänzungsmitteln

Beispiele Herz-Kreislauf-System Magen-Darm-Trakt Mineralsalz(Elektrolyt)störungen Hormonelle Störungen Zentralnervensystem Osteoporose

Herz-Kreislaufsystem Erniedrigter Blutdruck, Verlangsamter Herzschlag (nachts!) Herz-Rhythmusstörungen, Mitralklappenprolaps Herzmuskelstörung Perikarderguss

Leber Erhöhung der Leberenzyme bei starkem Untergewicht (BMI <13)

Niere Nierenschädigung durch Kalium-Mangel (hypokalämische Nephropathie)

Magen-Darm-Trakt Magenerweiterung, Magenruptur, Motilitätsstörungen, Darmlähmung (Ileus) Ausgeprägte subjektive Störungen (auch während des Esstraining) Reflux-Symptomatik Speiseröhre, Mundhöhle, Zähne (Säureschäden) Bauchspeicheldrüse (Bulimie), Ohrspeicheldrüse

ZNS Hirnsubstanzschädigung, nicht nur reversible Liquorraumerweiterung

Endokrine Störungen Beispiele: Amenorrhoe (bei Magersucht obligat) Erhöhung des Cortisolspiegels Wachstumsstörungen bei präpubertalem Beginn

Hautveränderungen Trockene Haut Gelbe Haut (Hypercarotinämie) Lanugo-Behaarung Säureschäden an Hand- und Fingerrücken

Skelett Osteopenie Osteoporose Erhöhtes Frakturrisiko

Laborbefunde Elektrolyte erniedrigt Cortisol-Spiegel erhöht Amylase erhöht bei häufigem Erbrechen Cholesterin erhöht bei Anorexia nervosa Leptinspiegel bei AN erniedrigt T3-Spiegel bei AN leicht erniedrigt Leukopenie bei starkem Untergewicht

Gefährdungen Essstörung wird nicht erkannt Komplikationen werden nicht erkannt Gefährdung durch therapeutische Maßnahmen

Auffütterungs- (Refeeding)-Syndrom Ursache: Übermäßige Energiezufuhr bei stark reduziertem Ernährungszustand parenteral / Sonde / oral

Auffütterungs (Refeeding) Syndrom (Hypophosphatämie-Syndrom) Anorganisches Phosphat im Serum: 3,0 4,5 mg/dl (1,0 1,5 mmol/l) Schwere Komplikationen bei Absinken unter 1,0 mg/dl (0,30 mmol/l) Spiegelbestimmung nicht nüchtern!

Auffütterungs (Refeeding) Syndrom Herzrhythmus Störungen Elektrolytstörungen Retention von Flüssigkeit (Lungenödem!) Kutane und innere Blutungen Akute Enzephalopathie (Krampfanfälle, Koma etc.) Aufsteigende Polyneuropathie Rhabdomyolyse Paralytischer Ileus

Vermeidung (Früherkennung) eines Refeeding-Syndroms Überwachung der Vitalfunktionen Flüssigkeitsbilanzierung Initiale Energiezufuhr 20-40 kcal/kg/tag bei Erwachsenen Elektrolyt-Kontrolle incl. anorg. Phosphat

Kooperation mit (jugend-)medizinischer Klinik Ziele: Pädiatrisch-/internistische Untersuchung Beobachtung (Monitoring), Differentialdiagnostik Beginn einer Ernährungstherapie nach einem Stufenplan unter Vermeidung einer Sonde Motivation zu einer anschließenden Psychotherapie der Ess-Störung

Therapeutisches Problem Wo sollen magersüchtige Patientinnen und Patienten mit erheblichem Untergewicht behandelt werden? Notwendig sind: - Pädiatrisch-internistisch-intensivmedizinische Kompetenz - Psychotherapeutische Kompetenz - Rechtliche Bedingungen - Erfahrung des Teams im Umgang mit essgestörten Patientinnen/Patienten